Vielleicht sieht es komisch aus wie ich meine Füsse über die eine Seitenlehne des Sofas ins Zimmer hinausstrecke. Aber zum Lesen gibt es keinen besseren Ort.Ich las gerade «Im Taxi» von Chalid Al-Chamissi, als meine Tochter anrief.Meine Tochter war schon immer der Meinung gewesen, auf meinem viel zu kurzen Sofa zu liegen, könne unmöglich bequem sein. Sie erkundigte sich freundlich, wie es mir gehe, ob sie wieder für mich einkaufen gehen solle und ob ich darunter leiden würde, nicht aus dem Haus zu dürfen. Aber warum denn? fragte ich. Ich bin doch gerade in Kairo! Nein, nicht im Café Kairo! In der Stadt Kairo, jetzt gerade in einem völlig verlotterten Taxi. Ich sage Dir, Kairo! Wir haben ja so keine Ahnung! Wusstest Du, dass es hier 80 000 Taxis gibt?Aber Papa! unterbrach mich meine Tochter. Ich wollte ja nur sehen, wie es Dir geht. Vielleicht fällt es Dir ja schwer, keine Leute treffen zu können. Du meine Güte! sagte ich. So viele Leute habe ich schon lange nicht mehr getroffen! Der reine Wahnsinn. Und weisst Du was? Alle erzählen mir die verrücktesten Geschichten. Hat Dir vielleicht schon mal jemand erzählt, wie ….?
Nur wenige Tage später, nachdem ich beim Lesen von Manzonis «Die Verlobten» meine Füsse schon den ganzen Nachmittag lang über die Seitenlehne des Sofas ins Zimmer hinausgestreckt hatte, tastete ich nach dem auf den Boden gefallenen Bleistift und schrieb vorne in das Buch: «So ein Glück!» Wobei ich plötzlich nicht mehr sicher war, ob ich mit «Glück» nun eigentlich dieses Buch oder das damit empfundene Leseglück meinte. Als das Telefon klingelte und sich meine liebe Tochter wieder freundlich erkundigte, wie es mir gehe, ob ich etwas brauche und ob ich mich so isoliert, nicht langweilen würde, erschrak ich über den Ton meiner Stimme. In allergrösster Feierlichkeit redete ich von einem unglaublichen Geschenk, von ebenso erbauenden wie mich tief berührenden Stunden, die ich seit mehreren Tagen hier auf meinem Sofa erleben dürfe. Ich sagte, von Langeweile könne keine Rede sein, ich hätte noch selten so viel erlebt, gefühlt und erfahren wie gerade jetzt. Es kostete mich auch einiges an Überwindung, meiner Tochter nicht gleich mehrerer Geschichten nachzuerzählen, welche ich in nie für möglich gehaltener Unmittelbarkeit – wohlverstanden, über Jahrhunderte hinweg, – miterlebt hatte. Ich war noch so von ihnen erfüllt, als hätte ich sie alle selbst ausgestanden. Stattdessen sagte ich nur: Und jetzt kommt auch noch die Pest nach Mailand!
Es war vielleicht in der Woche darauf, dass mich meine Tochter wieder anrief, während ich gerade lesend meine Füsse über die Seitenlehne des Sofas ins Zimmer hinausstreckte.Sie erkundigte sich wieder freundlichst nach meinem Wohlergehen und meinen Bedürfnissen und sagte, für meine Risikogruppe sei das ja sicher schon ein bisschen hart mit dieser Pandemie. Was heisst da Pandemie! sagte ich. Das ist eine Revolution! Und ich bin mitten drin. Ich lese nämlich «Doktor Schiwago» und bin so intensiv in Moskau, ich kann es selbst kaum glauben. Du solltest sehen, was hier los ist! Die Massen toben durch die Strassen und die Schiwagos mussten eben einen weiteren Teil ihres Hauses dem Volk überlassen. Und weisst Du was? Etwas ist wirklich wunderbar. Herr Doktor Schiwago hat nun sein eigenes Gesicht. Der sieht schon lange nicht mehr aus wie ein Schauspieler. Aber Papa, sagte meine Tochter. Schon gut! Alles klar, aber eigentlich rufe sie auch an, weil sie mich etwas fragen wollte. Nach einer kleinen Pause sagte sie: Wie kocht man Schwarzwurzeln? Wie man Schwarzwurzeln kocht? Erst fühlte ich mich so geehrt, dass ich leer schluckte, dann dachte ich, wie gut, dass ich ab und zu Schwarzwurzeln gekocht habe und schliesslich sagte ich, das sei eigentlich ganz einfach, die könne man im Wasser garen, wie irgend ein Gemüse, lediglich beim Rüsten müsse man sich vorsichtig verhalten. Es lohne sich ein Becken mit Wasser und etwas Zitronensaft zur Hand zu haben. Aber sonst sind Schwarzwurzeln wirklich kein Problem.
Meine Tochter bedankte sich und ich legte mich wieder auf das Sofa, streckte meine Füsse über die Lehne ins Zimmer hinaus, schlug «Doktor Schiwago» auf und war auf der Stelle zurück in Moskau.
Geschrieben zur Eröffnung der Literaturtag in Solothurn am 13. Mai 2023