Drei Porträts erschienen in MONETA der Zeitung für den alternativen Umgang mit Geld

 

 

 

Alte Achtundsechziger

 

 

Eins

Heute hält sich A für einen Achtundsechziger. Ich bin halt ein alter Achtundsechziger, sagt er von sich mit einer Prise Selbstironie, die er geschickt zu dosieren versteht.
A ist zwar stolz darauf, damals wirklich dabei gewesen zu sein, möchte dennoch nicht als derjenige erscheinen, der die Bedeutung von 68 überschätzt. A ist schliesslich nicht bei seinem ungepflegten Bart und bei Maos kleinem, roten Büchlein stehengeblieben. A hat sich entwickelt. A ist vorwärts gekommen mit sich und der Welt.
Darüber, dass er der nur vage als ganzes fassbaren Psychoszene während Jahren viel intensiver angehört hatte als der vergleichsweise genau definierbaren Achtundsechzigerbewegung, dafür auch einen beträchtlichen Teil seines Gehaltes aufgewendet hatte, spricht er allerdings nur ungern. Und wenn, dann nur im vertrauten Kreis und nie mit Selbstironie.
Ja, sagt er dann, es stimmt schon, ich versuchte nicht mehr so sehr die Gesellschaft, sondern mich selbst zu verändern.
Damit, dass er diese Einsicht für einen überragenden Beweis hält, intelligent zu sein, kokettiert er nur selten. Auch darüber, dass sich ihm die Welt zunehmend als recht entgegenkommend präsentierte, redet er fast nie, denn karrieremässig lief bei seinem keinesfalls krankhaft übertriebenen, sondern durchschnittlich gesunden Ehrgeiz alles so ziemlich von selbst, zeitweise zu seinem eigenen Erstaunen sogar wie geschmiert. Schon als A an Grossdemos noch stolz rote Spruchbänder mit der Aufschrift USA RAUS AUS VIETNAM durch die Strassen trug, bis hinein ins beissende Tränengas der Polizei, hatte das Leben für ihn nämlich längst einen weltweit kaum vergleichbaren materiellen Wohlstand reserviert, auch wenn er später aus verhocktem sozialrevolutionärem Resttrotz mit dem Bau seines Eigenheims mehrere Jahre zu lange zugewartet hatte, was ihn mindestens ein Jahresgehalt kostete, wie er heute selber sagt.
Wenn auch auf hohem Niveau, muss A heute sparen, denn bei der sich schliessenden Schere zwischen steigenden Preisen, Zinsen und Steuern und dem sich nicht mehr gleich schnell anpassenden Lohn, lässt sich eine gewisse Spannung im Familienbudget kaum mehr eliminieren.
Mit Erfolg beendete A schon anfangs Siebzigerjahre seine Ausbildung am höheren Lehramt an der Universität Bern (Hauptfächer Geographie und Germanistik) und sein Gehalt war damals bei seiner ersten Anstellung an der Sekundarschule in Langnau im Emmental üppig genug gewesen, um ihm als Alleinstehender sowohl aufwendige Reisen wie auch eine intensive Beschäftigung mit bewusstseinserweiternden und persönlichkeitsvertiefenden Theorien unterschiedlichster Herkunft zu ermöglichen. Ungehemmt und lustvoll – ein Wort übrigens, das A. auch selbst gerne und oft benutzt – konnte er an jedem der teuren und zeitlich ebenso wie rein energiemässig aufwendigen Kursen teilnehmen, die von der eben in Schwung kommenden Psycho- und Therapieindustrie angeboten wurden. Eine Freizeitbeschäftigung der gehobenen Art, auf die er erst verzichtete, als er sich entschied, die Suche nach sich selbst in gleich- und gemischtgeschlechtlichen Diskussions-, Encounter-, Massage- und Meditationsgruppen zu Gunsten einer umfassenden Analyse aufzugeben.
Die noch einmal teurere Psychoanalyse dauerte schliesslich länger als zwei Jahre und A betrachtete sie sozusagen als Abschluss und Höhepunkt seiner Selbstveränderung, die er heute als kleiner Beitrag an der Veränderung der Gesellschaft versteht.
Ich bin halt ein alter Achtundsechziger sagt A mittlerweile zu seinem Sohn, der sich dadurch jedoch wenig beeindrucken lässt. Die Jahrzahl 1968 weckt in ihm, der 1984 geboren wurde, ungefähr gleich viel Neugier wie 1798 oder 1848 oder 1918, nämlich praktisch keine.
Dass er aus seiner basispolitischen Aktivzeit, auch wenn sie sich auf ein oder zwei, höchstens drei Jahre beschränkt hatte, einen schönen Rest Zivilcourage und auch ein weiterhin funktionierendes Sozialbewusstsein bewahrt hat, glaubt A mit gelegentlich bis vor Obergericht führenden Vorstössen im Interesse der Allgemeinheit beweisen zu können. Zum Beispiel mit seinem noch nicht zu Ende geführten Kampf gegen die wenigen Bauern, die in seiner Wohngemeinde übrig geblieben sind. Mutig stellt er sich der Unsitte, wie er sagt, entgegen, Kühe und Rinder nachts mit laut scheppernden und unsinnig bimmelnden Schellen und Glocken auf ihre Weiden zu schicken.

 

 

Zwei

B dagegen war tatsächlich ein sogenannt richtiger Achtundsechziger gewesen. Gewesen! Denn heute will er nichts mehr davon wissen. Damals hatte er sich gewehrt gegen falsche Autorität, gegen die Autorität selbstherrlicher Bonzen, wie er sagte. Auch wenn er sich heute nicht gerade durch einen antiautoritären Führungsstil auszeichnet – auch als Vater ist er höchstens äusserlich zum Dialog bereit – wehrte er sich damals schon auf dem Gymnasium und dann auf der Universität gegen jegliche Form von Zucht und Zwang.
B wollte sich weder vom Staat, noch von der Kirche und schon gar nicht von der Armee, deren Tannenbaumhierarchy auf reiner Unterwerfungsbereitschaft beruhte, etwas vorbeten oder vorschreiben lassen.
Als er zur militärischen Aushebung aufgeboten wurde sagte er aber nicht etwa, ich nicht! Nein, wir nicht! lautete seine Antwort auf das offizielle Schreiben, denn B hatte längst begonnen, kollektiv zu denken. Er wusste sich in Gesellschaft. Wir reden nicht mehr vom Wetter! Er gehörte dazu. Er war durch die haarsträubende Dreistigkeit, mit welcher sich die die imperialistische USA in Süd-Ostasien breit machte, politisiert worden. Bei ihm hatte es klick gemacht.
B sprach damals beinahe ausschliesslich über Politik. Nicht nur Gespräche über das Wetter, auch solche über Fussball verachtete er mit an Hass grenzender Entschiedenheit. Brot und Spiele! Gespräche über Sport im Allgemeinen hielt er nicht nur für frivol, sondern in Anbetracht des Zustandes der noch immer mehrheitlich unterdrückten oder kolonisierten Welt als verantwortungslos asozial. Hatte nicht Lenin auf sein geliebtes Schach verzichtet, um sich absolut uneingeschränkt dem echten und wahren Kampf zu widmen. Und Che? Verbrachte der seine kostbare Lebenszeit mit dem simpelhaften Fachsimpeln über Fussball?
Es brauchte weder den Kampf auf dem grünen Rasen, noch denjenigen auf dem schwarzweissen Brett. Gefragt war einzig und allein der Klassenkampf. Und zwar an allen Rändern und in allen Ecken.
Über die angeblich unmittelbar bevorstehende Revolution redete er denn auch mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der man einen unausweichlichen Besuch beim Zahnarzt erwähnt, für den nur noch der genaue Termin ausgemacht werden muss. Des öfteren hatte B sogar schon vom Danach geredet: Danach, wenn alles vorüber ist. Danach.
Heute langweilen ihn Gespräche über Politik schrecklich. Als begeistertes Ehrenmitglied der Grasshoppers interessieren ihn um so mehr solche über Fussball. Auch wenn er dem Grossverein ursprünglich aus geschäftlichen Gründen beigetreten ist, gehören dessen Geschicke mittlerweile zu seinen Herzensangelegenheiten.
B ist Mitinhaber einer zur Publicrelationsfirma mutierten Werbeagentur, die unter andern Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch Politiker und Politikerinnen sämtlicher parteipolitischer Schattierungen betreut, indem sie sich um ihre Imageprobleme und um die maximale Ausschöpfung ihres leider meistens, wie B findet, beschränkten Ausstrahlunspotentials kümmert.
Auf Grund seiner beruflichen Arbeit ist es Jahre her, dass er sich in einer Diskussion über Politik mit jemandem gestritten hätte.
Streiten, kämpfen, sich lauthals für eine Sache einsetzen, sich möglicherweise noch ereifernd für eine Sache zu demonstrieren und dabei die Staatsmacht notfalls auch noch bis zum Krieg mit Tränengas und Pflastersteinen herauszuzfordern, das kommt ihm mittlerweile alles fremd und veraltet vor. Dachten wir Idioten doch damals, gesellschaftliche Macht lasse sich am Wickel packen mit Argumenten und öffentlichen Diskussionen! Wie lächerlich! Wir dachten allen Ernstes, Menschen und Institutionen gehörten deckungsgleich zusammen, sagt er heute.
Weil er sich dabei einfach äusserst dumm vorkommt, möchte B heute lieber nicht mehr über diese Zeit reden. Sogar, dass es eine Gerechtigkeit gibt, dass die Menschen frei leben wollen, dass sie gut sind, habe er damals geglaubt.
Es ist B heute auch schlicht peinlich, dass er in seinem Zimmer damals ein Poster von Che Guevara hängen hatte. Ein Bild von diesem kanonisierten Versager, sagt er. Ich meine, diese Weltfremdheit, der ich mich schuldig gemacht habe. Dieser Mangel an Menschenkenntnis! Wäre dieser Che Guevara ein guter Arzt gewesen, hätte er gewusst, dass er nicht zum Finanzminister taugen konnte und mit seinem Asthma auch nicht zum Robin Hood im bolivianischen Urwald, sagte er einmal zu der Mutter seiner Kinder, die er noch immer, obschon sie inzwischen aus finanztechnischen Gründen geheiratet haben, als seine Partnerin vorstellt.
Nein, längst ist ihm fast jeder Gedanken an Achtundsechzig peinlich: Dieses penetrante Vorspielen von Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit, das besonders die wenigen jungen Frauen, welche damals in der sozialrevolutionären Szene verkehrten, ausgezeichnet beherrschten. Und dieses pseudofreundliche Getue in diesen linkischen Wohngemeinschaften, wo alle so taten, als wäre plötzlich das grosse gegenseitige Zuhören ausgebrochen. Wir wollten die ganze Welt aus den Angeln heben, scheiterten aber regelmässig auch nur den Abwasch ohne Streit zu besorgen! Und alle taten so, als interessierten sie sich für den andern. Wie kommen die Leute bloss dazu, anzunehmen, damals wären sich Mann und Frau problemloser nahe gekommen? Sie taten nur so! Und diese zeitraubende Bereitschaft jede Kleinigkeit gnadenlos auszudiskutieren, dazu diese gespielte Neugier für alles und jedes! Dieses geheuchelte Interesse an Mozambique, Chile, Kuba, Vietnam und anderen gerade vorübergehend interessanten Ländern! Etliche von uns hätten kaum gewusst, wo sich diese geographisch und historisch wirklich befanden.
Wenn ich daran denke! sagte er einmal. Wir gingen auf die Strasse und schwenkten unsere Fahnen für Ideen, deren Langzeitwirkung wir gar nicht ermessen konnten. Es interessierte uns nicht einmal. Unsere Revolution war reiner Selbstzweck. In der ganzen Geschichte der Menschheit hat keine Generation aus ihrer Schwierigkeit mit dem Erwachsenwerden, mit dem Generationenkonflikt, den wir nun wirklich nicht erfunden hatten, ein aufwendigeres Tamtam gemacht! Und alles unter dem Deckmantel von selbstlosem Idealismus, von sozialer Gerechtigkeit. Am Peinlichsten sei ihm, sagt er heute, wie er mit diesem Che auf dem Schild an seinen entsetzten Eltern vorbeiparadiert sei. Ich mit diesem Versager!

 

 

Drei

C versteht sich nur beschränkt als Alter Achtundsechziger, obschon er jene Jahre intensiv miterlebt hat. Ich wusste doch erst viel später, was da tatsächlich abgegangen ist, sagt er heute.
C ist Ingenieur HTL, teilzeitmässig arbeitet er als Erwachsenenbildner und als Sekretär eines landesweit operierenden Verbandes zur Förderung alternativer Energiequellen. C bewohnt mit seiner Frau, einem Jura studierenden Sohn und einer jüngeren Tochter ein Bauernhaus. Der täglich zurückzulegenden Distanzen zum Trotz, besitzt er als passionierter Zugfahrer kein herkömmliches Auto, eher zum Spass und zur Erleichterung wöchentlicher Grosseinkäufe lediglich ein zweitplätziges Elektromobil mit zusätzlicher Tretvorrichtung. Als Mitglied des Gemeinderates seines Wohnortes setzt er sich unter anderem für die bedingunslose Chancengleichheit im Bildungswesen ein. Genau dort beginnt eine Demokratie, die ihren Namen verdient, sagt C, der in seinem Haus keinen Fernseher duldet.
Im Jahr 1968 steckte er mitten in der Ausbildung zum Bauschlosser. C erinnert sich sehr genau, wie er unter der harten Arbeit und dem rauhen Betriebsklima litt, wie er sich als Stift gegängelt und nicht für voll genommen vorkam. Er hatte vom Eintritt ins Berufsleben ungefähr das erwartet, was ihm in der Schule angekündigt worden war: Eine Herausforderung. Einen Lebensinhalt. Statt dessen fühlte er sich unterfordert und zeitweise schlicht nicht für voll genommen. Hätte er aber jemanden gekannt, mit dem er darüber hätte sprechen können, er hätte nicht gewusst wie.
Dass ich nicht in die vorherrschende dumpfe Stumpfheit meiner näheren Umgebung versank, verdanke ich dem Umstand, dass damals in öffentlich zugänglichen Medien und Diskussionen doch auch über die Arbeitswelt, das heisst, über meine Situation geredet wurde, was auch mir zu etwas Sprache verhalf.
Man mag über jene Zeit denken wie man will, sagt er, aber da gab es an den Unis doch tatsächlich wohlbestallte Bürgersöhnchen, die sich um ihre weniger privilegierten Mitbürger kümmerten. Immerhin! Da befassten sich doch Studenten und Studentinnen aller Richtungen mit den Arbeitsbedingungen von Lehrlingen und Lehrtöchtern, von Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen, überhaupt mit sozialer Gerechtigkeit an sich, und zwar auf der ganzen Welt.
Ob er an Demonstrationen teilgenommen habe? Sicher. Gegen Westmoreland. Überhaupt gegen den Krieg in Vietnam, auch gegen den weltweiten Ausbau der Atomwaffen, auch gegen Versuche, Fremdenhass zu schüren und natürlich für die Einführung eines Zivildienstes in der Schweizerarmee und für das Frauenstimmrecht.
Natürlich, fügt C heute hinzu, L’immagination au pouvoir! das ist ein schöner Traum geblieben, aber wenigstens wurde er geträumt! Und der eine oder andere Trottel wurde auch so von seinem Sockel gestossen, ob man es nun noch wahrhaben will oder nicht. Gut, das mit den Fahnen und Spruchbändern war ja vielleicht kindisch, diese Art von Folklore war mir aber lieber als jene, die fortan wenigstens nur noch an Schwing- und Trachtenfesten für staatstragend gehalten wurde.
Doch, ein bisschen wurde schon aufgeräumt und ein bisschen habe ich auch mitgeholfen, sagt C nicht ohne Stolz.