Auf der andern Seite der Alpen, genauer gesagt, auf der Südseite des gleichnamigen Passes liegt das kleine Dorf Simplon und noch weiter südlich liegen dicht zusammengedrängt in der engen Schlucht die paar Häuser des Grenzortes Gondo, wo das schweizerische Kapitel einer modernen Wolfsgeschichte seinen Anfang genommen haben muss. Zur Zeit werden hier kaum Grüsse getauscht, ohne dass dabei nicht auch der Wolf unter seinem ortsüblichen Namen ”lupo” zur Sprache kommt. In den ersten Novembertagen des letzten Jahres soll er nämlich in Gondo die Grenze zwischen Italien und seinem neuen Gastland passiert haben.
Wegen seiner später demonstrierten Vorliebe für die tieferen und möglichst schneefreien Lagen der Walliseralpen, gibt es wenig Grund anzunehmen, dass er sich freiwillig oberhalb der senkrecht von über 2000 Meter abfallenden Felswände durch Schnee und Eis gekämpft hat. Und dafür, dass er anders als andere Migranten aus südlichen Gegenden bei ihrem Ersterscheinen an der Grenze weder behelligt, noch gesichtet wurde, gibt es eine simple Erklärung. Darauf angesprochen, zeigt der diensthabende Zöllner auf eine Hinweistafel und gibt lachend zu verstehen, dass dieser Posten zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens nicht besetzt sei .
Obschon ein Zurückkommen des Wolfes seit Jahren als unumgänglich betrachtet wird, hat niemand wirklich auf die nächtlichen Einwanderer gewartet.
Wolfskundige Biologen haben der Schweiz für die nächsten Jahrzehnte nämlich nicht das nur gelegentliche Auftauchen von streunenden Einzeltieren, sondern das Aufkommen einer stabilen Bevölkerung von bis zu hundert Wölfen vorausgesagt. Diese naturwissenschaftliche Prognose ist allerdings ausserhalb von tiernahen und naturschützerischen Kreisen kaum mit der ihr eigentlich gebührenden Ernsthaftigkeit aufgenommen worden. Vorkehren wurden keine getroffen und während quer durch das Land ein WWF-Informationsbus Schulklassen und Naturfreunde über die Rückkehr eines ehemals zu Unrecht ausgerotteten Tieres aufklärt, wurden die direkt betroffenen Bergbauern und ihre Familien, wie sich jetzt erweist, weder angemessen unterrichtet noch richtig auf die möglichen Konsequenzen vorbereitet.
Als sich der Wolf nach seinem Grenzübertritt bei Gondo am Simplonsüdfuss gleich mit einem Gemetzel mittleren Ausmasses vorstellte, war die Überraschung so gross, dass man die fünf oder sechs in ihrem Blute auf der Weide liegenden Schafe erst einem Hund anzulasten versuchte. Vermutlich scheute sich sogar der herbeigerufene und sehr wohl auf das mögliche Auftauchen des Wolfes vorbereitete Wildhüter, der ganzen Wahrheit in die Augen zu schauen.
Schon bald wurden aber nicht nur seine Spuren, der Wolf selber wurde gesehen. Und zwar wiederholt am helllichten Tag in der Nähe des Dorfes Simplon und einmal sogar nachts auf dessen Schulhof.
Die Zweifel waren beseitigt: Ärger war angesagt. Der Wolf ging um!
Zwar gilt der Wolf ganz im Gegensatz zum angeblich dummen Schaf als kluges Tier, jedoch weder bei der Auswahl noch bei der Übernahme seines neuen Reviers zeigte er sehr viel Fingerspitzengefühl. Schon der Kollege Luchs musste erfahren, dass in dieser Gegend ein Stempel der internationalen Artenschutzkonvention keinem Passierschein und schon gar nicht einer uneingeschränkten Aufenthaltsbewilligung gleichkommt. Nicht einmal der ebenfalls geschützte Bartgeier, der letztes Jahr von einem schiesswütigen Walliser Jäger abgeknallt worden ist, war dem angeblich so schlauen Wolf eine Warnung.
Und die Tatsache, dass sein ausersehenes Revier nicht nur landwirtschaftlich ausgiebig genutzt, sondern auch vom in Grenzbereichen besonders umtriebigen Militär für Schiess- und Festungsanlagen beansprucht wird und dazu noch längst von der Tourismusindustrie durchmarkiert worden ist, kümmerte ihn wenig. Wo sich im Winter Loipen und Skipisten und im Sommer der unter dem Namen Stockalperweg zum Freiluftmuseum erklärte historische Säumerpfad mit äusserst beliebten Bergwanderwegen kreuzt, glaubte er, glücklich werden zu können.
Der Wolf war davon so überzeugt, dass er sich ohne eine gewisse Anstandsfrist vergehen zu lassen, auch gleich in weitere Schmaltierherden warf, dort wiederum etlichen Schafen und unschuldigen Lämmern aus reiner Mordlust die Kehle durchbiss, sich auch unter dem Rotwild mehr Beute erjagte, als er zur Stillung seines allerdings legendären Hungers eigentlich brauchte. Ein vielleicht erklärbares, so oder so aber ein verschwenderisches Verhalten, das einem Freilichtmuseum schlecht anstand und mit welchem der Wolf seinen denkbar schlechten Ruf noch untermauerte. Für solche Flausen hat die seit Jahrhunderten notgedrungen sorgfältig und sparsam haushaltende Bergbevölkerung verständlicher¬weise nichts übrig.
Unter Entbehrungen hat man sich in vorangegangenen Generationen des hartnäckigen Jagd- und Futterkonkurenten entledigt und es kann kaum erwartet werden, dass er mit solchen Manieren jetzt plötzlich wieder willkommen ist. Vielmehr wurde mit Selbstjustiz gedroht, wenn nicht die Freigabe zum Abschuss erfolgte.
Peter Zenklusen in Simplon Dorf war einer der ersten Klein-viehhalter, die aus der Mitte ihrer Herde dem bösen Wolf un¬freiwillig ein blutiges Opfer brachten. Auch er kann nicht verstehen, was der Wolf, der für ihn nichts als ein Schädling ist, hier soll. Seit vierzig Jahren Züchter, hält sich der Bauarbeiter im Ruhestand heute eine Herde von 6o Schafen. Im Winter im Stall im Dorf, im Sommer auf einer Alp auf 2500 Meter.
Wie bei den meisten der 1400 Schafhalter im Wallis, die zusammen 75000 Tiere besitzen, mag der materielle Anreiz dazu bei Peter Zenklusen unter wechselnden Subventions-bedingungen und sich steigernden behördlichen Auflagen zu Tier und Wasserschutz von sehr unterschiedlicher Bedeutung gewesen sein. Nicht immer war die Schafszucht für alle existenztragend, jedoch immer stark und wichtig war die da¬durch hochgehaltene Bindung an die traditionsreiche Lebensweise und die dadurch gelebte, echte Naturverbundenheit. Wäre diese nämlich nicht da, hätten sich etliche Walliserdörfer schon lange entweder in kleine Zermatts oder aber in Geisterdörfer verwandelt.
Bei schönem Wetter ist der Himmel in Simplon Dorf eine leuchtende Kuppel, die schneebedeckten Berge eine göttliche Zier, doch an den gedrungenen, aus Stein gebauten Häusern ist leicht zu erkennen, dass auch mit erbarmungslosem Wind, mit Schneestürmen und grollenden Bergen gerechnet werden muss. Dann wird der schöne Himmel zur erstickenden Glocke und man hält sich, wie Gregor Ritter, ein anderer Schafhalter im Dorf, empfiehlt, am besten drinnen an der Wärme still.
Dennoch harrt man aus. Das auf 1500 Meter gelegene Dorf ist intakt, es ist eine Gemeinde, die funktioniert. Mindestens eine Stube voll Kinder gehen zur Schule, auch wenn das Klima für Skitourismus zu ruuch, also zu rauh und Arbeit allgemein ein rares Gut ist. Man harrt aus und überlebt, indem man sich anpasst, dieses und jenes ausprobiert und sich dazu auf einer Alp eben noch eine Herde mit Schafen oder Ziegen hält, deren Winterfutter im kargen und schmalen Talboden mühevoll zusammengetragen werden muss. Bei diesem Heuet können zwar Maschinen eingesetzt werden, jedoch nicht etwa Traktoren, „auf welchen man sitzen kann“, wie Gregor Ritter sagt.
Gerade traurig war deshalb in Simplon Dorf niemand, als in Reckingen im Obergoms bei der Kadaversammelstelle provokativ ein toter Wolf deponiert wurde. Es war ein junges, 28 Kilo schweres männliches Tier mit vierzig, von Schrotkugeln herrührenden Löchern im Pelz.
Versetzte das vergossene Blut der schweigenden Lämmer hauptsächlich die Schafhalter in Wut und Empörung, ver-mochte das vergossene Wolfsblut nun schweizweit für Aufregung zu sorgen. Vertraut mit dem Medienpotential von geschickt aufgemachten Tiergeschichten, begannen Boulevardpresse und Fernsehen mitzumischen. Es wurde vergrössert, übertrieben, verzerrt und verfälscht nach bekannter Manier und schon bekam das Thema Wolf auch in dem von den Wallisern „Ausserschweiz“ genannten Rest des Landes eine existentielle und fundamentale Bedeutung.
Denn offensichtlich war noch ein zweiter Wolf unterwegs.
Dass dieser am Briger Berg 4o Schafe und in einem Gehege sechs Hirsche riss, interessierte allerdings weit weniger als die wunderbare Verheissung, endlich wieder ein echtes, natürliches, vierbeiniges Raubtier unter uns zu haben.
Der Wolf war zurück. Der Wolf! Der Wolf! Er, der Wilde, der Schöne, er der sich im Gegensatz zu uns von der Zivilisation nicht hat vereinnehmen lassen, er, der dem Fortschritt widerstand! Er, der seit Jahrtausenden seinen Instinkten gehorcht. Mit leichtem Schaudern ob dem eigenen Mut, dem bösen Wolf endlich gerecht zu werden, erzählte man sich weiter, was Wölfe für wunderbare Tiere seien und wie sie unser Land echt bereichern könnten. Alle würden ihn gerne wieder heimisch sehen, wenn auch lieber als im Zürcher Oberland in den angeblich als Biotop für ihn viel eher geeigneten Lärchenwäldern der Walliseralpen.
Den dortigen Schafzüchtern wurde nun empfohlen, sich bald etwas auszudenken oder aber das unbeaufsichtigte Beweiden ihrer Alpen zu lassen. Viel zu viele Schafe würden sie viel zu lange und viel zu schlecht betreut auf übernutzten Weiden halten. Dadurch, dass diese bis zu den Grasnarben abgefressenen würden, steige vielerorts die Erosionsgefahr.
Man empfahl den Züchtern Hirten zu halten oder wohl-wissend, das diese kaum bezahlt werden könnten, wenigstens besonders abgerichtete Hunde. Von Zäunen war die Rede, sogar von Alpakas, weil dieses etwas grössere, im Wallis schon mehrfach gezüchtete Tier aus den Anden, mit Ausschlagen und Treten einen Wolf auf Distanz zu halten vermöge.
Die Schafhalter ihrerseits wunderten sich über die ihnen plötzlich zukommende Aufmerksamkeit, auch über die plötzlich überall aufflackernde Sachkenntnis. Sie sahen sich auf einmal im Clinch mit echten, ebenso wie mit selbsternannten Tierschützern aus der ganzen Schweiz. In Leserbriefen wurde gleich das ganze Wallis als unbeugsames Völklein belächelt oder als ein Volk von schiesswütigen Barbaren beleidigt.
Als dann am 14. Januar dieses Jahres plötzlich ein zweiter Wolf tot auf der Simplonstrasse lag, eskalierte der Konflikt abermals. Nun wurden dem Wallis gleich massenweise langjährige Freundschaften gekündigt. Allenthalben beteuerten selbsternannte Natur- und Wolfsfreunde, nie mehr einen Fuss in diesen Kanton, der sich eigentlich Staat nennt, zu setzen, nie mehr eine von dort stammende Tomate zu essen, ein Leben lang weder das allgemein geschätzte natürliche Brot, noch ein Glas Fendant und schon gar kein Fondue mehr anzurühren.
Und dem Fahrer der Schneeräumungsmaschine, der morgens um drei unter schwierigsten Sichtverhältnissen, in aufgewirbeltem Schnee, bei kreisendem gelbem und von andern Räumungsfahrzeugen aufblitzenden weissen Lichtern nicht rechtzeitig genug erkannte, dass ihm ein aufgescheuchter Wolf vor die Räder rannte, wird nun Mutwilligkeit unterstellt. Brieflich wird er beleidigt und Tag und Nacht am Telefon als Tierschänder und Mörder beschimpft.
Dabei glaubt rund um den Simplon nicht nur kein Mensch, dass dies der letzte Wolf gewesen ist, es glaubt auch kaum mehr jemand, dass diese beiden Wölfe, wenn sie als Art auch aus dem Apennin stammten, tatsächlich freiwillig bei Gondo über die Grenze nach Norden gewandert sind.
Selbst besonnene Walliser wie Gerhard Schmitt von der Fachstelle für Naturschutz in Brig, wundern sich über die Tatsache, dass der Wolf die angrenzenden, norditalienischen Täler so ohne jeglichen Zwischenfall hinter sich gelassen hat. Ja, da sei etwas komisch, das müsse er zugeben, sagt er. Ansonsten plädiert Schmitt, selbst wenn der Wolf illegal ausgesetzt worden sein sollte, für einen sachlichen Dialog zwischen den Betroffenen. Er schliesst nicht aus, dass sich die Reisslust des noch nervösen Raubtieres nach ein paar Versuchsjahren durchaus mässigen und der Wolf ebenso unauffällig werden könnte, wie es der Luchs nach einer ebenfalls Schlagzeilen machenden Anfangsphase auch geworden sei.
Erschienen in der WOZ.