Bericht über eine Reise vom 14. bis zum 19. Juni 1989 nach Auschwitz und in die Karpaten.

Im Jahr 1989 weilte ich für ein halbes Jahr in Berlin. Im Juni machte ich eine Reise nach Polen. Im Herbst fiel die Mauer.
Polen hatte sich damals schon aus seiner Isolation hinter dem Eisernen Vorhang gelöst und war in dem nur ein gutes halbes Hundert Kilometer entfernten Westberlin längst wieder zu einem Thema geworden. Anders als die Bürger und Bürgerinnen der DDR durften diejenigen aus Polen bereits in den Westen reisen. Das Kursgefälle zwischen den Währungen war jedoch noch so gigantisch, dass dies für die meisten praktisch unmöglich war. Auf dem sogenannten Polenmarkt, der auf einem Parkplatz beim Kulturforum, irgendwo zwischen Tiergarten und der Mauer stattfand, wurden damals auf der verbeulten Kühlerhaube eines rostigen Ladas oder auf dem Heck eines klapprigen Skodas von geduldig daneben stehenden Männern kaputte Werkzeuge feilgehalten. Auch einzelne Socken, angebrauchte Seifen, abgenutzte Autoreifen, verbeulte Blechtassen und ähnliches mehr. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die vielen Wecker. Fast auf jedem der Tücher, die sich die knienden Frauen als Verkaufsfläche zurechtgelegt hatten, stand ein Wecker. Ein paar wenige Pfennige waren umgerechnet offensichtlich ein Vermögen wert und die allgemeine Lage in Polen noch derart schlecht, dass man sowohl die langen Wartezeiten an der DDR-Grenze wie auch die Erniedrigung, diesen Schrott überhaupt zum Verkauf anbieten zu müssen, auf sich nahm.

Der eigentliche Anlass meiner Reise war der Besuch bei Janusz Z. Ich hatte Janusz Jahre vorher bei einem Seminar in München kennengelernt. Er war Linguist und schrieb sehr schöne mit vielerlei bunten Marken beklebte Briefe. Als ich während einer der grossen Versorgungskrisen, die sein Land wiederholt grausam erschütterten, danach gefragt hatte, schickte er auch Listen mit lebensnotwendigen Dingen, die ihm und seiner Familie fehlten. Kaffee, Seife, Zahnpasta, Farbstifte, die nicht abbrechen für den Jungen. Ein- oder zweimal hatte ich ihm ein Fresspaket geschickt. Auch die Einladung, ihn zu besuchen, hatte ich angenommen, die Reise während Jahren aber immer wieder hinausgeschoben.
Ich hatte mich damals darüber gewundert, wie ein Land plötzlich die Medien beschäftigen konnte und dann wieder aus Zeitungen und Nachrichten verschwand, noch bevor man etwas begriffen hatte.
Auch jetzt hörte ich nur Widersprüchliches und meine Erinnerungen waren lückenhaft. Noch erinnerte ich mich an die Bilder aus der Danziger Leninwerft, insbesondere an ein Bild streikender Arbeiter die in ihren Arbeitskleidern zum Gebet niederknieten. Wie einst die helvetischen Söldner in fremden Kriegsdiensten vor der Schlacht.
Bevor ich fahren konnte, brauchte ich nur noch Geld.
Man hatte mir empfohlen, auch Dollars mitzunehmen. Und eine Strassenkarte und einige Geschenke zum Mitbringen brauchte ich.
Das Visum hatte ich mir schon vorher besorgt.
Mit einer Strichliste in der Brusttasche meines Hemdes ging ich über den Kurfürstendamm zum Bahnhof Zoo. Vor einem der Haupteingänge versuchten mich dort ein paar zerzauste Gestalten für ihr Hütchenspiel zu interessieren. Einer hockte in bekannter Manier auf dem Asphalt am Boden, die andern mimten das Gewinne einheimsende Publikum.
In der Wechselstube stellte ich mich in die lange Schlange und wartete. Ich bedachte, was ich noch alles besorgen musste, schaute durch die Glasfront den vorbeieilenden Leuten nach und beobachtete ohne sehr grosses Interesse das ebenso armselige wie erfolglose Trachten der Hütchenspieler. Der immer gleiche blaue Schein ging hin und her, hin und her.
Ich trug damals fast immer ein Notizbuch mit mir herum. Aus einem Grund, der mir entfallen ist, habe ich darin aufgeschrieben, dass die Frau hinter dem Schalter, kurz bevor ich endlich an der Reihe war, ins Telefon gesagt hatte: Bahnhof Zoo, das kennt jeder! Ja beim Zoo!
Dann hörte ich einen Schrei.
Drei Männer versuchten einen der Hütchenspieler zu überwältigen. Sie schlugen auf ihn ein, rangen mit ihm, drückten ihn endlich zwischen den am Strassenrand geparkten Wagen zu Boden. Plötzlich war eine Pistole da. Ein noch ganz junger Typ nestelte sie hektisch unter dem Hemd hervor. Er ging sofort in die Hocke und holte, während er seine Kollegen deckte, einen Ausweis aus der Tasche. Polizisten am Werk. Einer drückte dem Hütchenspieler den Arm auf den Rücken und einer brüllte etwas in ein Funkgerät, an dem er hastig die Antenne herauszog.
Als ich die Wechselstube verliess und mir die erstandenen Dollars in die Tasche steckte, kamen unter Sirenengeheul mindestens zwei Polizeiautos angerast. Der überwältigte Hütchenspieler wurde abgeführt und in Handschellen einem uniformierten Polizisten übergeben. Unter den vielen stehengebliebenen Gaffern erkannte ich auch die Männer, die eben noch die Lockvögel gewesen waren. Einer von ihnen entfernte sich. Angestrengt unauffällig.
Zurück auf dem Kuhdamm ging dann ein Paar vor mir her, zu dem sich in meinem Notizbuch eine weitere Notiz befindet. Sie trug eine silberne Hose, die glänzte und funkelte und er trug mitten im Sommer einen knöchellangen Lammfellmantel ohne Ärmel. Als dem Paar eine ebenfalls aufwendig gekleidete Frau mit Hut, Sonnenbrille und einem Wald von goldenen Knöpfen auf der Brust entgegenkam, drehten sich die beiden nach ihr um und kicherten.
Während ich mich dann in einem Café nach einem freien Platz umsah, hatte am Strassenrand offensichtlich eine andere Frau mit erhobenem Arm «Taxi! Taxi! Taxi»! gerufen, war ein Mann mit verschränkten Armen auf einem Rad vorbeigefahren und eine Frau hatte an einem der Tischchen in der vordersten Reihe zu einem Mann gesagt: «Also du könntest deine Mutter wirklich wieder mal besuchen»!
So steht es jedenfalls in meinem Notizbuch. Dort steht auch der Hinweis darauf, dass ich noch vor meiner Abfahrt am nächsten Tag in einem der durchgehend geöffneten Gemüseläden gehört haben musste, wie die Verkäuferin ziemlich unwirsch zu einer unscheinbar gekleideten Frau gesagt hatte: «Nein, wir kaufen nichts! Und bitte kommen Sie nicht wieder!» nachdem ihr die Frau, die ich für eine Polin hielt, stumm ein Paar in einer Plastiktüte steckende Damenschuhe gezeigt hatte. Als würde sie ihre letzte Habe aus Hungersnot verschachern, hatte ich auch noch geschrieben, jedoch wieder durchgestrichen und hinzugefügt: Nicht wahr! Sie hatte einfach schlecht passende Klamotten am Leib, sah aber, auch wenn sie kein Deutsch sprach, ziemlich unternehmungslustig aus.
Am nächsten Tag fuhr ich los. Beim Grenzübergang Drei Linden bückte sich der Zöllner zu meinem geöffneten Wagenfenster herab und sagte: «Fahren Sie zur Seite und schliessen Sie den Wagen ab. Es gibt sonst Ärger mit den Polen»!
Das war um 11.40. Die Abfertigung dauerte etwa eine halbe Stunde. Bezahlen musste ich ein Transitvisum und eine Gebühr für den Wagen. Je 5.- DM.
Auf der Fahrt durch die DDR hörte ich dann eine lange Rede von Erziehungsministerin Margot Honnecker, der Ehefrau des damals noch amtierenden Staatsoberhauptes Erich Honnecker. Sie sprach, live, wie mir schien, an einem Pädagogenkongress in Berlin Ost. Tage später begegnete ich Auszügen daraus in einer Zeitung. Frau Honnecker sagte unter anderem:
«Wenn uns junge Leute die Frage stellen, habt ihr uns die Wahrheit über die Entwicklung des Sozialismus in unseren Bruderländern gesagt, dann können wir ruhigen Gewissens antworten, ja es ist die Wahrheit».
An einer Stelle machte sie sogar ungewohnte Eingeständnisse. Nämlich, dass die Vielfalt der Wege und Methoden den Sozialismus als Ganzes bereichern könnten. «Aber», fuhr sie fort » warum sollten wir der Jugend nicht auch klar sagen, dass sie sich zu Recht Sorgen macht darüber, wenn unter dem Motto der Vielfalt Konterrevolutionäre versuchen, ihr Süppchen zu kochen? Nicht immer ist gleich durchschaubar, was da einige Leute im Sinn haben mit freier Marktwirtschaft und Pluralismus, die unter der Fahne der Umgestaltung nicht Stärkung des Sozialismus, sondern Zurück zum Kapitalismus meinen.»
Sonst verlief die Fahrt ereignislos. Städte und Dörfer sah ich nur aus der Ferne, der Verkehr war spärlich, der Zustand der Autobahn nicht schlimmer als erwartert. Ab und zu ein Schlagloch, manchmal ungenügende, manchmal verwirrende Hinweise auf den seltenen Schildern. Einmal, zwischen Cottbus und der Grenze bei Forst, fuhr ich auch – so vermutete ich wenigstens – mitten über einen verkappten Militärflugplatz. Das flache und schnurgerade Teilstück der Autobahn weitete sich plötzlich zu sechs Spuren aus, anstatt ein begrünter Mittelstreifen war nur noch eine Kette da und hinter lockeren Baumreihen bemerkte ich nur dürftig verborgene Baracken, die wohl als Truppenunterkünfte dienten.
An der Grenze gab es drei Kolonnen: Mit Visa und ohne Visa und eine für Lastwagen. Ein DDR Zöllner sammelte die Pässe ein. Als ich ihn halb im Scherz fragte, weil mein Tank ziemlich leer war, ob es in Polen auch Benzin gebe, sagte er, zur nächsten Zapfsäule seien es 35 km. Leicht ungehalten fügte er noch hinzu: «Natürlich gibt es Benzin in Polen»!
Bis ich meinen Pass zurückbekam, vertrieb ich mir die Zeit mit dem Studium der Karte und dem Festhalten von weiteren Nebensächlichkeiten.
In der Warteschlange nebenan stieg eine Frau aus einem himmelblauen Trabi. Sie war kurzhaarig blond, trug eine Brille und erinnerte mich in ihrem weiten Rock und in ihren flachen Schuhen irgendwie an den Pädagogenkongress in der Hauptstadt der DDR.
Vor der Grenze hatte man mich gewarnt. Aus Neid würden die DDR-Beamten die reisefreien Polen schickanieren, wo sie nur könnten. Es sei wichtig, für die lange Wartezeit Proviant und vor allem Wasser dabei zu haben. Aber die Abfertigung dauerte nur eine knappe Stunde, und froh darüber, fuhr ich neugierig wieder mal in ein mir unbekanntes Land und wie mir schien, auch in eine neue, langsamere Zeit hinein.
Lockere Wolken hingen tief und aufgewühlt am Himmel, die Landschaft hatte sich verflacht und der Verkehr noch mehr verdünnt. Ich fuhr allein über die Betonplatten einer Autobahn, die, wie mir eine Bekannte vor der Abreise gesagt hatte, noch von Hitler erbaut worden sei. «Bis Breslau kannst du auf der Hitlerautobahn fahren»! hatte mir die Exilpolin gesagt.
Bei der ersten Kreuzung nach der Grenze bog ich in der Hoffnung, zu einem Dorf zu gelangen, rechts ab. Die Strasse wurde sofort holperig und ich befand mich umringt von Zäunen mit fehlenden Brettern, von schwarzen Fensterscheiben und tiefen Furchen in der ungepflasterten Dorfstrasse zwischen ein paar farblosen Schuppen, und ich fühlte mich sogleich wie ein Eindringling, wie ein Gast, der in einem fremden Haus ein Gemach zu weit vorgedrungen ist.
Während ich eine Möglichkeit suchte, meinen Wagen wieder zu wenden, sah ich einen Mann, der mit einem Eimer an der Hand und einem weit abgewinkelten Arm ohne mich zu beachten von einem Schuppen zum andern über eine verwilderte Wiese ging.
Wieder auf der Autobahn wurde mir bewusst, dass mir diese eigenartig angeordneten Häuser, in ihrer Vereinzelung, in ihren Farben und in ihren Proportionen, mit den Pfützen auf den aufgewühlten Fusswegen davor, gar nicht so unvertraut vorgekommen waren. Dieser erdig feuchten Kälte war ich schon bei Kafka begegnet.
Flach ist das Land, sehr flach bis jetzt!
Auf einem Rastplatz hielt ich schliesslich an. Ein scharfer Wind wehte. Die Birken rauschten. In der Ferne hörte ich einen Zug.
War wirklich alles anders?
Neben dem Parkplatz standen grob gezimmerte Tische und Bänke. Ich versuchte, die Karte zu lesen und schrieb mit grossen Buchstaben in mein Notizbuch: Und plötzlich Polen!
Auf der andern Strassenseite sah ich in einiger Entfernung erst zwei rötliche, von Pappeln überragte Ziegeldächer und dann ein Fuhrwerk.
Ein Gaul zog einen Heurechen, auf dem, die Zügel locker in der Hand, ein Junge sass. Ich holte meine Kamera aus dem Wagen und machte ein Bild, hob die Hand und der Junge grüsste fröhlich grinsend zurück.

Unterdessen hatte sich mir wie aus dem Nichts ein Mann genähert, der mir Erdbeeren verkaufen wollte. Er hatte eine leicht gebückte, beinahe unterwürfige Haltung, ein bescheidenes Gesicht mit freundlich fleischigen Zügen. Er sagte: «Gin dobré» und zeigte auf den Korb, den er mitführte. Wohl weil ich mich überrumpelt fühlte, wehrte ich ab, noch bevor ich sah, was er mir zum Kauf angeboten hatte. Ohne zu insistieren, ging er sogleich davon.
Nach etwa 3o Kilometern kam ich zu einer Tankstelle. Ich hatte kaum mehr als ein halbes Dutzend Fahrzeuge gekreuzt, war aber etlichen weiteren Erdbeerverkäufern begegnet, die neben ihren Körben am Strassenrand kauerten.
Es war die erste Tankstelle in Polen und die erste nach mehr als 100 Kilometern Autobahn.
Bei den Zapfsäulen standen ein halbes Dutzend oder mehr Wagen, aber es bewegte sich nichts. Als ich herausfinden wollte, was los war, stiess ich sofort an sprachliche Grenzen. Aber hinter einem Fenster, an welchem eine für mich unlesbarer Zettel hing, sah ich den Tankwart. Er hatte für ein paar Stunden dicht gemacht. Er sass an einem Tisch in einem engen Büro und tippte theatralisch auf einem Taschenrechner herum. Er hatte ein Durcheinander von Papieren vor sich. Vermutlich Rechnungen, Quittungen, Bestell- und Lieferscheine. Mein Klopfen war ihm gerade eine kurzer, vorwurfsvoller Seitenblick wert gewesen. Von meinem Nachdoppeln an der Scheibe liess er sich überhaupt nicht mehr ablenken.
Da mein Tank praktisch leer war, hatte ich keine Wahl: Ich musste warten.
Einer der andern wartenden Männer holte gerade gemütlich drei grosse Kanister aus seinem Wagen, stellte sie wie zum Zeitvertrieb mal hier hin, mal dort hin, schraubte dann die Deckel ab und machte die Kanister zum Auffüllen bereit. Ich fragte ihn auf Englisch, was los sei. Er kicherte und sagte etwas auf Deutsch, das ich nicht verstand. Zwei ruppige Burschen putzten ihre Windschutzscheibe und ein älterer Mann hatte sich unter einen Baum gesetzt, wo er an einer Heiligenfigur schnitzte. Er hob auf meine Frage nur die Schultern und seufzte. Keiner protestierte. Nur einer wendete nach etwa einer halben Stunde seinen Wagen und fuhr davon.Und in einem winzigen Polski Fiat sassen zwei Frauen stumm und zusammengedrängt auf dem engen Rücksitz, während vorne zwei hemdsärmelige Männer leise aber ununterbrochen vor sich hinfluchten.
Um einen ersten Überblick zu gewinnen, zog ich in meinem Wagen sitzend die verschiedenen Coupons und Papiere hervor, auch das Geld, das ich an der Grenze hatte umtauschen müssen.
Als sich die wartenden Wagen schon weit in die Autobahn hinein stauten, holte ich meine Kamera hervor und machte ein paar Aufnahmen von der langen Warteschlange und der Tankstelle mit dem kleinen Bürofenster, hinter welchem der Tankwart noch immer mit seinen Papieren und seinem Taschenrechner beschäftigt war. Es entging mir nicht, dass mich dabei einige schadenfreudige Blicke begleiteten.
Ich glaube, weil ich einen Teil des Filmes zweimal belichtet hatte, ist aus diesen Bildern leider nichts geworden.
Die Strasse führte dann wiederholt durch Alleen, vorbei an weit ausgebreiteten Feldern weiter hinein in das grossflächige Land.
Später wurde der Strassenbelag narbiger und der Verkehr dichter. Vermehrt tauchten jetzt Lastwagen auf. Unförmige Riesendinger, die sich vor einer Ampel in ihre eigenen Abgaswolken hüllten wir in einen schwarzbraunen Mantel. Dann kamen Busse und Strassenbahnen hinzu. Auch Fuhrwerke gab es noch.
Als ich dann ein Hotel sah, hielt ich an. Es war ein Hotel wie man es auch in Italien oder in Frankreich bei den Autobahnausfahrten der Städte sieht: Mit dem Bettenhaus verschachtelte Betriebsgebäude, flache Dächer, eine flatternde Fahne, ein leuchtender Neonschriftzug, ein paar noch junge Bäume, ein Parkplatz.
Leider war es ausgebucht. Die Frau an der Rezeption gab mich jedoch nicht gleich auf. Sie lächelte mich an, als ob sie mir Mut machen wollte, gestikulierte etwas, freundlich aber unverständlich, griff dann zum Telefon, redete und lächelte mich wieder an. Dann wandte sie sich mir ganz zu und erklärte mir auf Polnisch, wo ich noch ein Zimmer finden könne. Sie tat es mit grenzenloser Geduld und ich bedankte mich mehrmals. Mit einem kleinen Zettel, worauf sie Hotel Monopol und eine Adresse in Breslau geschrieben hatte, ging dann zurück zu meinem Wagen und reihte mich wieder ein in den dichten Abendverkehr.
Im Hotel Monopol war noch ein Zimmer frei. Obschon es kaum mehr als 70.- Mark kostete, fand ich es allerdings teuer. Ich hatte es nur widerwillig belegt. Ein Portier in einer ziemlich schäbigen Kluft öffnete mir grusslos die quitschende Eingangstür, an der Fassade blätterte der Putz ab, die Glasscheiben in der Tür waren speckig, das Licht in der Halle war schummerig, der Treppenaufgang grosszügig angelegt, aber die Dielen knarrten und der verstaubte Teppich verrutschte unter meinen Füssen. Unbekannte Gerüche schlugen mir entgegen. Ich assozierte sie mit nicht mehr ganz vertrauenswürdigen Abflussrohren. Auch Küchengerüche waren da. Der Geruch von gekochtem Kohl und jener Geruch, der mich noch tagelang wie ein Schatten vorfolgen sollte. Der Geruch nach gekochter Bockwurst.

Hotel Monopol

In meinem Notizbuch beschrieb ich das Zimmer damals als stinkend. Wie gut, dass es erstens Schnupftabak gibt und dass ich zweitens welchen dabei habe. Das steht auch da.
Vor den Fenstern hingen gelbe Vorhänge, die den Blick auf die Backsteinmauer eines Innenhofes freigaben. In den Fassungen der drei im Zimmer vorhandenen Lampen waren noch zwei Glühbirnen übrig, wovon die eine ausgebrannt war. Im Teppich wohnte fliegendes Ungeziefer, unter dem Bett und in den Ecken häufte sich Staub und Dreck. Legte ich mich hin, hing die Matraze durch wie eine Hängematte und der Stuhl quitschte und knirschte, dass ich befürchtete, er würde gleich auseinenderbrechen. Ich setzte mich darauf, um an meinem Reiseradio drehend, einen Sender zu finden, weil aus dem verstaubten Kasten auf dem schiefen Nachttisch kein Ton herauszuholen war.
Auf UKW fand ich nichts, hörte aber auf Mittelwelle etwas, das wie die Nachrichten klang. Ich verstand nur Gorbatschov und im Zusammenhang mit dem Wort Peking ausser Konterrevolutionarsky rein nichts mehr.
Als ich das Hotel verliess, um etwas zu essen, fiel mir erneut auf, wie die ehemalige Pracht des Eingangs heruntergekommen war und ich nahm mir vor, am nächsten Tag davon ein Foto zu machen.
Ich wäre jetzt gerne in einem Lokal mit Leuten ins Gespräch gekommen. Ich suchte auch in mehreren Strassen nach einem Restaurant, einer Bar, einer Kneipe. Fand jedoch nirgends eine einladende Tür und kehrte zurück, um im Hotel selbst zu essen.
Gemäss meinem Notizbuch hatte ich mir auch vorgenommen, endlich aufzuhören, dem mir unvertrauten Land gleich so kritisch zu begegnen.
Der Speisesaal war nur zur Hälfte besetzt. An den Wänden reihten sich prächtige Spiegel in vergoldeten Jugendstilrahmen, Leuchter sprossen wie Äste aus den Wänden und die üppig gedeckten Tische standen zwischen Säulen aus rötlichem Marmor. In den silbernen Kübeln auf den Beistelltischen lag Wodka in Halbliterflaschen auf Eis. Daneben standen Pepsi-Cola-Flaschen.
Es gab da einige ziemlich verdrückte Gestalten, die deprimiert oder betrunken vereinzelt an ihren Tischchen sassen.
Andere Gäste trugen bunt beschriftete Sweaters, Jeans oder Trainerhosen und Turnschuhe. Diese waren laut. Man lachte sich an, man klopfte sich auf die Schenkel, stiess sich gröhlend an, man beugte sich prustend vor, man prostete sich zu, man lehnte sich zurück und rieb sich amüsiert den Bauch. Auf die Musik schien niemand zu achten. Die drei Musiker ganz hinten in einem Seitenflügel bedienten mechanisch ihre Instrumente und sangen dazu in Mikrophone, als wär dies eine Strafe, zu der sie soeben verurteilt worden waren.
Ich setzte mich an einen Tisch und ein Kellner, der eben über dem Knie seine rote Serviette gestrafft hatte, legte sich diese über den Arm und kam auf mich zu.
Er fragte, als ich auf die Karte zeigend ein Glas Wein verlangte, ebenfalls stumm mit dem Zeigefinger und hochgezogenen Augenbrauen, ob ich 100 Gramm oder 200 Gramm wünschte? Meinen Wein hatte ich in meinem Leben noch nie nach Gewicht bestellt. Verunsichert zeigte ich auf 200 Gramm. Unverzüglich kam der Kellner mit zwei Gläsern zurück und schenkte zweimal 100 Gramm ein. Und Weissen! Ich glaubte, auf Roten gezeigt zu haben.
Ich schaute den Kellner an, versuchte seinen Blick zu fangen, aber er schlug die Augen runter, brummte etwas, das wohl eine Höflichkeitsformel war und zog sich mit einem angedeuteten Bückling zurück. Mein Essen brachte er auf einer grossen Platte. Es war viel. Und er häufte mir davon Löffel um Löffel auf meinen Teller, dass mir der Appetit verging bevor ich auch nur davon probiert hatte. Es stellte sich heraus, dass er ein paar Worte Deutsch verstand. Aber auf meine Fragen antwortete er nur sehr kurz, als wäre es ihm verboten, mit Gästen mehr zu reden als es die Ausführung seines Dienstes erforderte. Und dann findet sich in meinem Notizbuch auch noch der mit zwei Ausrufezeichen, eins am Anfang und eins am Schluss, markierte Satz: Höchstens in der DDR noch schlimmeren Frass vorgesetzt bekommen!
Und auf einer der nächsten Seite stehen nur zwei wohl in Wut hingedrückte Worte:
unästhetisch
abstossend
Auf einer weiteren Seite finden sich übrigens genaue Angaben zum Preis des Hotels. Da steht: Der Preis 32 000 Zloty. Habe Taschenrechner dabei: Zum Kurs von 460 gibt das 70.-Dm. Und zum Zimmer: Das Bad riecht wie ein stark desinfiziertes Klo am Bahnhof Zoo. Und die Sicht aus dem Fenster: Verdreckter Hinterhof.
Am nächsten Morgen sah ich mir Breslau an.
In der Oper gab man FAUST und CARMEN. Ich stand vor den Schaukästen eines stattlichen Theaters, bis mich eine Regenschauer überraschte. Ich eilte über die Strasse in eine Gaststätte, die man wohl als Café bezeichnet hätte. ORBIS stand in grossen blauen Leuchtbuchstaben über dem Eingang. Der Name eines staatlichen Gastronomie- oder Tourismusunternehmens.
Ich bestellte einen Kaffee. An der hufeisenförmigen Theke aus rotem Kunststoff sassen ein halbes Dutzend Gäste. Andere standen beim Eingang und guckten in den Regen hinaus. In einem Kühlschrank mit Glastür warteten Nachspeisen darauf, verzehrt zu werden. Unübliche, blassfarbene Gebilde in Plastikbechern.
Eine Frau neben mir bestellte Tee und Schokoladenkuchen, der – gemäss meinen Notizen – appetitlich ausgesehen hatte.
Dann kam eine ältere Frau aus der Küche an den Tresen. Vielleicht legte sie gerade eine kurze Pause ein. Sie trug eine Plastikhaube und eine Plastikschürze, hatte abgearbeitete Hände und ihre Beine waren nackt und weiss und blau. Ihre grossen Füsse steckten in Filzpantoffeln. Sie lachte kurz als eine Frau ihren Schirm kappend hereineilte. Diese Frau war blond, hatte lange Beine, einen Minirock und eine dünne, bauschige rosa Bluse, darunter einen weissen Büstenhalter, von dem sowohl die Träger wie das gestraffte Rückenstück zu sehen waren. Es machte Spass, sie anzuschauen. Sie hatte etwas männlich Strenges, etwas Hartes an sich, etwas, das verflog, sobald sie mit der Bedienung sprach. Da lachte sie und war fröhlich und herzlich.
Als es wieder aufgehört hatte, zu regnen und ich ihr beim Verlassen des Cafés zunickte, nickte sie freundlich zurück.
In einem Buch- und Zeitungsladen versuchte ich danach vergeblich, mir ein Wörterbuch zu kaufen. «Dictionary» sagte ich wiederholt langsam und deutlich, aber die Verkäuferin reagierte so, als würde sie mich für einen Trottel halten. Nur realitätsferne Idioten schienen so etwas zu verlangen. Ich zeigte auch auf einen ausgestellten Reiseführer für die Stadt Leningrad und sagte, wiederum langsam und deutlich: «Breslau!» «Breslau!» Ich erntete erneut nur kaltes, verständnisloses Kopfschütteln.
In einer Vitrine lagen Die Süd-Deutsche Zeitung und Das Neue Deutschland. Beide drei Tage alt. Sonst gab es mattfarbige Zeitschriften, Brief- und Geschenkpapier und an die Wände geheftete Strickmuster. In einem Glasschrank sah ich nummerierte Postkarten. Ich stellte mich noch einmal in die Schlange vor der Kasse und hielt der Verkäuferin einen Zettel mit den gewünschten Nummern hin. Mit einem missbilligenden Blick nahm sie ihn entgegen.
Die 10 Postkarten und ein Kinderbuch, das ich vom Ladentisch fischte, kosteten umgerechnet keine halbe Mark.
Ein eigentliches Buch mit einem mir vielleicht sogar bekannten Autorennamen, hatte ich keines gesehen. Trotzdem behauptete mein Freund Janosch Z. später, Bücher zu kriegen sei in Polen kein Problem. «Wenn ich eines will, bekomme ich es. Wenn nicht im Laden oder in der Bibliothek dann halt von Freunden».
Bei ihm traf ich gegen Abend ein. Er wohnte mit seiner Familie am Rand von Kattowitz im siebten Stock eines zwölfstöckigen Wohnblocks. Die nur wenige Jahre alte Siedung war in der Plattenbauweise erstellt worden und bestand aus einem guten Dutzend identischer Häuser.

Häuser

Schon gleich nach der Ankunft griff ich zu meiner Tabakdose. Janusz sagte mit grossen Augen: «Ah, du bist unter die Schnupfer gegangen.» Er stellte so viel unvertraut riechenden Käse, auch Dosenfisch und Salami vor mich auf den Tisch, dass ich froh war, eine Prise auf meinen Handrücken streuen zu können. Kaum hatte ich mich etwas beruhigt, kam noch etwas besonders stark riechendes aus der Küche. Gleich durfte ich es auch sehen:
Zwei Wurstleichen schwammen im fettäugigen Topfwasser. Geplatzte Bockwürste! «Muss ich»? fragte ich. «Na ja, mal probieren, eigentlich esse ich ja keine Bockwürste,» sagte ich noch.
Und später, als wir auf den Aufzug warteten, wonach roch es im Treppenhaus? Ich glaube, ganz Kattowitz roch nach Bockwurst.
Am nächsten Tag fuhren wir in die Karpaten. Unterwegs besuchten wir Auschwitz.
Irgendwo zwischen Block 7 und Block 14 fragte mich Janusz nach meinen beruflichen Plänen. Er fragte mich, mit welchen Aussichten ich denn in Berlin überhaupt rechnen könne? Ob meine Ausbildung überhaupt anerkannt würde und wenn ja, was man sich da bezüglich Verdienst und Anstellungssicherheit für Vorstellungen machen dürfe?
Auch diese Fragen stellte er in seinem überkorrekten Deutsch, das immer klang, als würde er seine tadellosen Sätze von einem unsichtbaren Blatt ablesen.
Als ich ihn anschaute, ohne zu antworten, hob er seine Schultern und sagte: «Na ja, selbstverständlich ist es nicht, dass ausländische Diplome in Deutschland anerkannt werden». Dabei legte er seine rechte Hand auf die Schulter seines Sohnes Palev und schlenderte weiter als befänden wir uns auf einem Sonntagsspaziergang irgendwo in einem Park. Vermutlich war er schon wiederholt mit Besuchern aus dem Westen hier gewesen. Ich hatte aber überhaupt keine Lust, gerade in Auschwitz von meinem Privileg, als Stipendiat in Berlin weilen zu dürfen, zu erzählen. Da sich aber auch Palev offensichtlich langweilte, hatte ich erst erfolglos versucht, mich wenigstens für ein paar Minuten abzusetzen und dann vorgeschlagen, den Rundgang abzubrechen. Der kleine Palev sagte darauf, dass er etwas essen möchte. Aus meinem Notizbuch geht hervor, dass ich dort in dieser Wüste offenbar äusserst dankbar war für jeden Blick in sein Kindergesicht.
In dem Restaurant der sogenannten Zentralstelle für Touristenbedienung holten wir Kaffee und ein Stück Kuchen für Palev an einen der wackligen Stahlrohrtische. Es herrschte Rauchverbot und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich in einer öffentlichen Gaststätte für den Gebrauch von Geschirr und Besteck ein Pfand bezahlen müssen.
Es ging mir nicht gut, aber in Anbetracht meiner bereits gemachten Erfahrungen mit polnischen Bedürfnisanstalten, verzichtete ich darauf, mich dorthin zurückzuziehen. Rostige, tropfende Röhren in einem gruftigen Keller, fehlende Kacheln, abblätternde Farbe, der ätzende Geruch nach Chlor und die engerlingshafte Erscheinung einer Abortfrau mit geschwollenen Beinen und einer Haube auf dem schütteren Haar, die mir gegen meine armseligen Zlotis einen feuchten Lappen als Handtuch hinhält, hätten mir auch keine Beruhigung gebracht.
Ich schlug vor, ehe wir weiter fahren würden, auf einer Bank beim Parkplatz noch eine Zigarette zu rauchen.
Das Gespräch war schwierig.
Es gab nichts zu sagen, das nicht peinlich klang, noch bevor man es ausgesprochen hatte.
Trotzdem sagte ich, während ich hinüberschaute zu den Türmen, zu den Baracken, zu den Geleisen, dass dies alles ohne eine militärische Machtstruktur mit ihrem Zwang zum blinden Gehorsam wohl nie hätte geschehen können.
Janusz war nicht einverstanden.
Ich hätte Vorurteile gegen das Militär, sagte er.
Schon einmal hatte er die Integrität des machthabenden Generals Jaruselsky verteidigt. Unter anderem mit dem Argument, dass dieser der beste Student auf der Militärakademie gewesen sei. «Primus» hatte er ihn genannt. Und «Intelligenzler».
Ich hätte das Gespräch gleich wieder unterbrechen sollen, fragte aber noch, ob dies an sich, hier von dieser Bank beim Parkplatz im ehemaligen Lager von Auschwitz aus betrachtet, wirklich ein positiver Tatbestand sei.
«Ist es heute wirklich noch eine Auszeichnung, der beste auf der Militärakademie zu sein»? fragte ich.
Janusz meinte darauf, ich solle doch ein gewisses Verständnis für die besondere Situation in Polen aufbringen. «Wir haben da nämlich unsere Erfahrungen gemacht. Wir brauchen ihren Schutz und das Gefühl von Sicherheit, das uns die Armee heute vermittelt», sagte er.
Aber eigentlich hatte ich mich mit Janusz gut vestanden. Jedenfalls bis er vorgeschlagen hatte, Auschwitz zu besuchen.
Wieder unterwegs versperrte mir bald ein kriechender Laster mit einer gewaltigen Rauchfahne am Heck die Sicht. Mit einem Blick auf die Uhr hatte Janusz eben bemerkt, dass wir uns beeilen müssten. Palev sass auf dem Rücksitz und blätterte in einem Comic. Der Laster blinkte und überholte ein Pferdefuhrwerk. Zwei alte Männer führten Kohle. Ein Rappe ging einspännig neben der Deichsel.
Eigentlich war die Strasse angenehm zu befahren. Der Belag war nur streckenweise schlecht. Dann gab es darin aber Löcher von der Grösse unbedeckter Senkgruben.
Alle paar Kilometer stand ein in Panne geratenes Auto am Strassenrand. Räder wurden gewechselt, bei einm roten Lada öffnete ein Mann gerade die Motorhaube, eine Wolke aus Rauch und Dampf stieg auf.
Auch Unfälle sahen wir. Ein gelber Polski Fiat war in einen Lastwagen geprallt. Mit zusammengestauchtem Vorderteil stand er mitten auf der Fahrbahn. Der Fahrer verwarf die Arme. Verletzt war niemand. Eine alte Frau sass hinten im Wagen und glättete sich mit den Händen das Gesicht. Später lag ein von der Fahrbahn abgekommener Lastwagen im Vorgarten eines Häuschens neben einer Kreuzung. Schon in der Nähe von Gleiwitz hatte ich einen Riesenlaster gesehen, der bei einer Kurve über den Strassengraben hinaus auf ein Haus gekippt war.
Die Landschaft war nicht ohne Reiz. Am Horizont hinter den noch grünen Weizenfeldern zeigten sich Backsteindörfer, Kirchtürme, einer sogar mit zwiebelförmiger Kuppel.
Dann wieder Fabriken. Mit roten und weissen Ringen bemalte Schornsteine ragten in den Himmel. Daneben ein Bohrturm. Ein Förderkran. Eine Halde. Geleiseanlagen. Industrie. Stahl. Schlesien.

Schlesien

Bei einem besonders unebenen Bahnübergang löste sich an meinem eigenen Wagen der Auspuff. Wegen der Schlaglöcher musste sich die Verankerung gelockert haben. Janusz befürchtete, das sei wohl das Ende unseres Wochenendausfluges gewesen. Als ich den Auspuff mit einem Stück Draht wieder notdürftig festgemacht hatte und mir die schmutzigen Hände an meinem Taschentuch abwischte, fragte ich, ob wir nicht etwas essen gehen könnten.
Mein Vorschlag gefiel ihm nicht.
«Ich lade Euch ein», sagte ich. «Du weisst ja, der Zwangsumtausch. Was soll ich mit dem ganzen Geld, wenn ich doch bei euch wohnen kann»?
«Aber bis zu unserem kleinen Haus in den Karpaten ist es noch weit», sagte er. Und Wislawa würde auf uns warten.
«Ich bin aber hungrig», sagte ich. Erst als auch Palev Hunger vermeldete, willigte Janusz ein.
Der nächste Ort war Bielsko.
Ich parkte vor einem heruntergekommenen Prunkbau. Wiederum fiel mir dazu eine ganze Serie von herabwürdigenden Wörtern ein. Vergammelt, verwahrlost, verkommen, baufällig, abbruchreif, vermisswirtschaftet habe ich später dazu in mein Notizbuch geschrieben. Die beiden Flügel der Haustür aus Holz und Schmiedeeisen hingen so schief in den Angeln, dass sie sich nicht mehr schliessen liessen. Die Glasscheiben des Oberlichtes waren zertrümmert, im Flur war es dunkel. Auf einem zur Hälfte heruntergestürzten Balkon hing Wäsche. Aus den Kellerluken wucherte Gras auf den Gehsteig.
Es begann zu regnen.
Wir assen in einem Restaurant, das sich in einem Untergeschoss befand. Es roch stark nach Bier. An mehreren Tischen sassen aufgedunsene, finstere Männer wie festgenagelt hinter grossen Biergläsern.
Auch über dem Tisch, an den wir uns gesetzt hatten, hingen Rauchschwaden, braun und so dick wie Morgennebel. Trotzdem war in dieser Ecke das Rauchen verboten. Auch Wein oder Bier gab es nicht an diesem Tisch.
Nur den Gestank davon.
In Berlin hatte man mich vor den polnischen Restaurants gewarnt.
«Wie willst du im Restaurant essen? Die haben ja nichts! Gibt ja nichts»!
Und ein Bekannter hatte gesagt: «Nur Suppe! Immer nur Suppe»!
Während wir Wasser tranken und auf die Gulaschsuppe warteten erzählte Janusz von dem Häuschen in den Karpaten. Er sagte, es gehöre genau genommen seiner Universität, aber er und andere Dozenten der Fakultät für Linguistik hätten das Recht, das Häuschen an Wochenden zu belegen. Als jemand, der aus einem Alpenland komme, solle ich aber nicht allzuviel erwarten. Eigentlich befinde sich das Häuschen ja auch nur am Rande der Karpaten. Trotzdem gebe es dort Bären, fügte Palev, wie mir Janusz übersetzte, noch hinzu.
Ich erwähnte dann, dass ich gerne ein privates Telegramm nach Deutschland schicken würde. Auch erkundigte ich mich, ob es hier in der Gegend etwas besonderes zu kaufen gäbe, das ich als Geschenk mit nach Hause bringen könnte.
Janosch erwähnte handgewobene Decken, auch Vasen und Gläser aus Kristall, was man alles aber nur in der Stadt bekomme. Seine Frau Wislawa würde mir dabei gerne behilflich sein.
Draussen hatte es wieder aufgehört zu regnen.
Noch bevor die Strasse leicht zu steigen begann und immer öfter durch Wald führte, fragten wir uns in einer konturlosen Ortschaft zu einer Weinhandlung durch.
Das heisst, ich drängte Janusz dazu, sich durchzufragen.
Der kleine Laden war geschlossen. Als wir an die Glastür klopften, erschien hinter einem zerschlissenen Vorhang eine gebückte Frau. Erst wollte sie nicht öffnen, dann verkaufte sie uns wortkarg ohne das Licht anzumachen, eine Flasche polnischen Brandy und zwei Flaschen Rotwein aus Bulgarien..
«Weil Samstag ist, machen die Läden schon mittags zu. Wir waren leider schon etwas spät», erklärte Janusz, der es lange nicht hatte zulassen wollen, dass ich mit meinem zwangsgetauschten Geld bezahlte. Die Regale in dem düsteren Raum waren so leer gewesen, als hätte der Laden gleich für immer zugemacht.
Wir waren schon in unmittelbarer Nähe der tschechischen Grenze, als wir Wislawa sahen. Sie stand winkend am Strassenrand bei einem Rastplatz, wo sie auf uns gewartet hatte.
Wislawa trug einen blauen Pullover und einen weiten, lila Rock. Ihr üppiges, kastanienbraunes Haar hatte sie in einen dicken Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte reichte.
Janusz erzählte ihr, dass wir Probleme mit dem Auspuff gehabt hatten. Als Wislawa mir zunickte, sagte er, sie würde mir zu der gelungenen Reparatur gratulieren.
In Polen könnten Intelligenzler so was nämlich nie und nimmer.
«Danke», sagte ich, obschon ich das Wort «Intelligenzler» überhaupt nicht mochte.
Die kleine Hütte lag eingebettet in hohem Gras an einem schrägen Hang neben einem Tannenwald. Man erreichte sie nur über einen halbstündigen Fussweg. Im Talboden und auf der andern Seite waren weitere Ferienhäuser zu sehen. Schmucke Holzhäuschen mit Bretterzäunen um kleine Gärten mit Sitzplätzen und Feuerstellen.
«Schön ist es hier», sagte ich.
«Nur mit dem Wetter ist es eine ganz blöde Sache», sagte Janusz, der sofort den Ofen einfeuerte.
Der Ofen qualmte und füllte die Hütte mit dickem Rauch. Das sei normal, sagte Janusz und Wislawa öffnete die Fenster und die Tür. Erst als es wieder zu regnen begann, auch kälter wurde, und sie Fenster und Tür gerne geschlossen hätten, liessen sie es zu, dass ich auf das Dach stieg, um dort mit einer brennenden Zeitung etwas Zug in den verrussten Kamin zu bringen.
«Der Rauch stank aber fürchterlich», sagte Janusz, nachdem das Feuer richtig zu lodern begann und der Rauch abgezogen war.
Jetzt roch es nach den Bockwürsten, die Wislawa in einem Topf mit Wasser auf den Ofen gestellt hatte.
Nachdem wir die Bockwürste gegessen hatten, tranken wir Wein und Tee und Janusz putzte praktisch im Alleingang die Flasche Brandy weg.
Ausser Tisch und Ofen, gab es in der Hütte ein grosses Bett. Ich schlief neben Palev auf einer aufklappbaren Pritsche.
Der Sonntagmorgen war grau und regnerisch.
«Hierzubleiben macht leider keinen Sinn. Jetzt werden wir uns waschen, dann gehen wir», sagte Janusz. Er brachte den zweiten Eimer Wasser herein, den er in den Topf auf dem Ofen goss. Mit dem ersten hatte Wislawa das Geschirr gespült. Klein Palev hatte abgetrocknet.
Ich vertrat mir die Füsse vor der Hütte, durchnässte dabei meine Schuhe, aber die Luft war frisch und gut, das ganze Karpatental war auch im Regen schön.
Dann erschien Janusz in einem roten T-Shirt mit noch nassem Bart in der Tür und sagte händereibend:
«Ah, waschen! Das würde mir schon fehlen».
«Ist Zeit zum Aufbruch»? fragte ich und machte den Vorschlag, weil Sonntag sei, in einem richtig schönen Restaurant einmal richtig gut essen zu gehen.
Milówka hiess der Ort, wo mir Janusz bedeutete, anzuhalten. Ich parkte auf einer von Pfützen übersäten Seitenstrasse. Keines der Häuser auf der Hauptstrasse sah aus wie ein Laden oder wie eine Gaststätte. Nirgends war ein Schild, kein Plakat, keine Reklame. Ich hielt es für sinnlos, mich nach einem Ort zu erkundigen, wo ich mein privates Telegramm nach Berlin hätte aufgeben können.
Vor einem rostigen Gitterzaun sagte Janusz: «Hier! Hier können wir schön essen».
Die Grasfläche hinter dem Zaun war abgetreten. In einer Ecke stand eine vermoderte Holzbank und auf einer Veranda sass ein halbes Dutzend Männer stumm beim Frühschoppen. Sie drückten ihre Bäuche gegen einen Tisch, auf welchem gelbes Bier in schweren Humpen stand. Unter dem Tisch häuften sich Zigarettenstummel.
Im Eingang brannte eine fahles Licht, die Wände waren mit verfilzten Tapeten beschlagen.
Janusz öffnete die Tür zum eigentlichen Speiseraum und fragte, ob das in Ordnung sei. Im Speisesaal roch es nach Bockwurst. Es war mir peinlich, aber ich griff zu meiner Tabakdose und sagte noch einmal, dass ich wirklich noch viel Geld vom Zwangsumtausch auf mir hätte und dass wir wirklich sehr gut essen gehen könnten.
«Hier isst man sehr gut», sagte Janusz und zog sich schon seinen roten Pullover über den Kopf. Der Tisch, auf den er zusteuerte war für vier Personen gedeckt. In der Mitte stand eine Plastikblume in einer Vase. Das Tischtuch war aus einem undefinierbaren Material und von ebenso undefinierbarer Farbe. Es hing fast bis auf den Boden über den Tischrand hinunter. Der Stuhl, auf den ich mich setzte, wackelte in den Fugen.
Als ich die Kellnerin sah, wusste ich sofort, dass ich keine Suppe bestellen würde. Ich entfaltete meine Serviette und starrte auf meinen Teller. Die Serviette war durchlöchert und aus einem Material ohne Struktur und ohne Gewicht. Der Teller war fleckig, mit fetten Fingerabdrücken am Rand. Das Glas daneben war undurchsichtig. In dem plötzlich durch die Vorhänge hereinfallenden Sonnenlicht hingen Schwaden von Zigarettenrauch über den Nachbartischen. Dort sassen blondsträhnige Menschen in zu engen Sonntagshemden mit blassen, pickeligen Gesichtern. Ihr Schlürfen und Schmatzen wurde nur durch leise gezischte Wünsche nach dem Salz, nach der Schüssel, nach dem Wasser unterbrochen.
Um aus der Flasche trinken zu können, bestellte ich eine Pepsi-Cola. Kaum war sie da, goss sie mir Palev leider ins schmutzige Glas.
Die Kellnerin stellte einen Teller mit Borscht vor Janusz auf den Tisch. Bis weit über den schmutzigen Nagel hinaus steckte ihr Daumen darin.
Ich weiss nicht mehr, was ich gegessen habe.
Nach dem Essen band sich Janusz seinen roten Pullover um die Hüften, hängte sich seine Tasche über und strahlte.
Mein Telegramm konnte ich erst gegen Abend in Kattowitz aufgeben.
Wir hatten noch eine Biologin besucht, die Wislawas Vorgesetzte war und von den Vereinigten Staaten schwärmte. Dort hatte sie während eines Forschungsaufenthaltes Englisch gelernt.
«I like very much the States, I will go back as soon as possible»! sagte sie.
Das Telegramm kostete 3.50 DM
Ungefähr fünf Prozent des Monatsgehaltes von Janusz.
Über meine linke Schulter hinweg hatte er mich beschworen, die Zahl der verwendeten Wörter zu reduzieren.
Am Montag wachte ich auf und sah Janusz vor mir stehen. Ich schlief auf dem Sofa. Das Sofa stand so im Flur, dass die Wohnungstür nicht ganz geöffnet werden konnte und man die Wohnung nur verlassen konnte, indem man darüber hinwegstieg. Ob ich etwas bräuchte oder wünschte, wollte Janusz wissen. Ob ich frühstücken möchte und was ich heute vorhätte, um Zwölf komme nämlich sein Vetter mit einem Kanister Benzin für mich.
«Wie bitte»?
«Du hast doch gesagt, du hättest kein Benzin mehr»! sagte er.
«Coupons brauche ich. Benzincoupons für die Rückreise. Ich kann nur damit tanken, nicht mit Zlotys», antwortete ich.
Später gingen wir mit dem Wagen Einkaufen. Zu PEWEX, dem staatseigenen Laden, in welchem das staatseigene Geld keinen Wert hatte. Bei PEWEX kaufte man mit Westgeld schöne Westprodukte.
Palev wünschte sich Schokolade und Farbstifte, die nicht abbrechen. Wislawa wollte ebenfalls nur Schokolade. Ich musste lange reden, bis sie sich ein paar Toilettensachen aussuchte. Für Janusz kaufte ich eine Flasche Cognac. Er wolllte nicht. Ich kaufte sie trotzdem.
Der Laden war zwar nur eine schlichte, schnörkellose Verkaufshalle, aber seine Verheissungen waren unbegrenzt. Hier war alles da und alles war zu haben.

Pewex

Im Kaufhaus, das wir anschliessend besuchten, war dies anders.
Das Licht im Erdgeschoss war fahl, auf schäbigen Verkaufstischen lagen aufgehäufte Klamotten, auf den Regalen an den Wänden standen zu Pyramiden aufgetürmte Dosen von russischem Fisch. In einer Schlange, die sich um mehrere leere Verkaufstische herum bis in eine angrenzende Abteilung hinein wand, standen Männer und Frauen, die Pfandflaschen zurückbrachten. Bei einer andern, ebenso langen Warteschlange, sagte Janusz, dass diese Leute hier Eimer aus Plastik kaufen wollten, obschon sie eigentlich wissen müssten, dass es jetzt gerade keine Eimer aus Plastik gibt.
«Wenn sie aber jetzt einen neuen Eimer brauchen»? Janusz schien mit Wislawa gerade etwas Schwerwiegendes zu bereden und gab mir keine Antwort.
Und hier, fragte ich danach bei einer weiteren Schlange von stumm ausharrenden Männern und Frauen: «Fleisch», sagte Janusz.
In der Werkzeugabteilung waren wir allein. Kunden gab es ausser uns keine. Und Wislawa war zurückgeblieben. Flüchtig winkend hatte sie sich verabschiedet. Sie würde nachkommen, sagte Janusz.
Ich kaufte einen Satz Schraubenschlüssel, einen Handbohrer und ein Thermometer.
Als ich schon bezahlt hatte, sah ich unter einem Ladentisch eine grosse Menge Hämmer und Sicheln. Es war unklar, ob sie noch ausgestellt und zum Verkauf angeboten wurden oder ob sie, weil man sie nicht mehr brauchte, zum Entsorgen oder für die Rückker in den Lagerraum bereitstanden.
«Ich möchte auch noch eine Sichel», sagte ich. «Und einen Hammer dazu».
Als wir zum Wagen zurückkamen, schrieb ein Polizist gerade einen Busszettel aus. Ich hatte eine 200 Meter entfernte Parkverbottafel übersehen. Der Polizist trug eine auffällig bunte Uniform, in der er mich an den Hauptmann von Köpenick erinnerte. Er war freundlich, gab sich offensichtlich auch Mühe, möglichst korrekt zu sein. Zu Janusz sagte er, ich müsse die Busse gleich bezahlen. Sie betrug umgerechnet keine Mark. Trotzdem redete Janusz so lange auf den Polizisten ein, dass sich auch noch ein zweiter herbeiliess.
Ich wandte mich inzwischen einem dort in der Nähe stehenden Kiosk zu. Ich bückte mich zu der Öffnung in der Glasfront hinunter und sagte, ich wolle Streichhölzer. Innen an der Glasscheibe waren Zigaretten, Zahnpasta, Haarbürsten, Schockolade und Seife aufgereiht. Drei oder vier Zeitungen steckten in einem Halter.
Die Kioskfrau versuchte, zu verstehen.
Ich wiederholte mich, wiederholte mich noch einmal.
Sie reichte mir eine Streichholzschachtel, auf welcher der Kopf eines Streichholzes abgebildet war.
«Gin dobre», sagte ich und nahm das Wechselgeld.

Kiosk

Beim Wegfahren fragte ich Janusz, worüber er denn so lange mit den beiden Polizisten geredet habe.
Er habe ihnen Vorwürfe gemacht. Wegen mangelnder Fremdsprachenkenntnissen, sagte er.
Nach dem Abschiedsessen tranken wir wiederum Wein und Janusz leerte wiederum praktisch im Alleingang die Flasche Cognac. Das Essen selbst war köstlich gewesen. Wislawa hatte sich im Kaufhaus in die Schlange gestellt, hatte einen Braten besorgt, hatte den Tisch weiss bezogen, hatte ihr schönstes Geschirr aus den Schränken geholt.
Ich schämte mich, soviel gemotzt und geprotzt zu haben und heute wundere ich mich nicht darüber, dass Janusz, Palev und Wislawa auf meinem Abschiedsfoto alle in eine andere Richtung, bloss nicht in meine Kamera gucken.
Die Rückfahrt verlief nach Plan. Da ich noch immer Zlotis hatte, die ich nicht wechseln konnte, kaufte ich an der Grenze noch eine Vase und dann, um endlich alles Geld loszuwerden, für den mir verbleibenden Rest auch noch einen goldumrahmten, spottbilligen Wandspiegel. Es war ein Spiegel wie ich in meinem Leben nie einen gebraucht noch gewollt hätte.
Er ging auch schon auf der Rückreise in Scherben. Noch bevor ich wieder in Berlin war.

Bern, den 25. Januar 2000

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