Randständiges

Asterix - Dr gross GrabeNotizen zum Spannungsverhältnis zwischen der Standardsprache Hochdeutsch und den deutschschweizer Dialekten.
Erschienen in TEXT+KRITIK , Zeitschrift für Literatur 
Sonderband: Literatur in der Schweiz

Die Erfahrung lehrt, dass gewisse Tatsachen nicht oft genug wiederholt werden können: Die Sprache, auf welche Schweizer und Schweizerinnen in den deutschsprachigen Nachbarländern zurückgreifen, ist eine Standardsprache. Man kann sie Schweizer Hochdeutsch oder Schriftdeutsch nennen, sie hat aber nichts mit Mundart zu tun.
Zweitens: Schweizerdeutsch ist ein Sammelbegriff für unsere Dialekte. Als Sprache existiert Schweizerdeutsch nicht.
Dass es immer wieder Deutsche gibt, die unabhängig von Beruf oder Bildung mit diesen Tatsachen nicht vertraut sind, hat mit unserer kleinstaatlerisch unterwürfigen Höflichkeit zu tun. Unsere Beflissenheit, den deutschen Nachbarn sprachlich entgegenzukommen, wird höchstens von deren Beflissenheit übertroffen, sich dem Angelsächsischen, insbesondere dem Amerikanischen zu unterwerfen.
Und drittens: Die Schweiz wird gerne als das kleine Land mitten im Zentrum von Europa gesehen. Sprachlich stimmt dieses Bild überhaupt nicht. Sprachgeografisch ist die ganze Schweiz Randgebiet. Das stolze Deutsch, zu dem wir als Untergruppe ja auch irgendwie gehören, zerfranst hier in unseren Tälern, kommt in verlangsamten, aber lebendig bunten Dialekten zur Ruhe. Im Vergleich zur strengen Ordnung im Zentrum, herrscht hier im sprachlichen Randgebiet eine herrliche Anarchie. Bündner, Innerschweizer, Walliser, Freiburger (Freiburg im Üechtland) haben nämlich eines gemeinsam: Auch auf höchster politischer und gesellschaftlicher Ebene sind sie sprachlich so eigenständig, dass man sie auch als Schweizer nicht immer versteht. Die Hochsprache Hochdeutsch stösst an unseren hohen Bergen an ihre Grenzen.

Hochdeutsch! In diesem Wort steckt alles! Es ist eben die Hochsprache, die Machtsprache, die Schönsprache. Und dagegen gilt es Stellung zu beziehen. In beiden Sprachen gleichzeitig kann man nicht sein. Unten oder oben! Wir sind unten. Wir sprechen schlechtes Hochdeutsch.

Es gibt tatsächlich Deutschschweizer und Deutschschweizerinnen, die keinen annähernd akzeptablen hochdeutschen Satz sagen können. Wer genau hinhört kriegt vor Scham Hühnerhaut (Schweizerisch für Gänsehaut) Auch deshalb hält man sich gerne an den Dialekt.

Weil Dialekte nicht festgeschrieben sind, sondern beweglich und allen Bereicherungen offen, wird ihre Anwendung nicht taxiert. Man spricht Dialekte nicht gut oder schlecht, man spricht sie einfach und das macht sie demokratisch. Den Dialekt darf jeder frei mitgestalten, wortschöpferisch, mit Ironie und flexibel bis respektlos gegenüber den im Zentrum vorgegebenen und behüteten Strukturen. Es gibt keine verbindliche Rechtschreibung, keine Sprachpolizei. Dialekte sind frei.

Natürlich ist der Dialekt ungeschliffen. Schleifen und Verfeinern heisst aber auch reduzieren. Sprudeln kann man zwar nur auf Hochdeutsch, der Dialekt bewahrt sich aber ein breiteres emotionales Spektrum, denn den Dialekt haben wir auf der Strasse, bei andern Kindern in unseren vertrauten Zusammenhängen aufgesogen. Wir sind mit ihm aufgewachsen. Die Hochsprache haben wir übergestülpt bekommen, wie ein Sonntags Kleid. Hochdeutsche Sätze können scharf und tödlich klingen, werden sie in Mundart übertragen und langsam gesprochen, mit einer Prise Ironie ist da auch immer zu rechnen, klingen sie nur noch halb so schlimm.

Verschiebungen: Ältere Generationen bemühen als Hochsprache weiterhin unbekümmert ihr schweizerisches, im Dialekttonfall gesprochenes Schuldeutsch und bringen damit jene Jugendlichen zum Lachen, die mit dem Tagesfernsehen aufwachsen und durch den exzessiven Konsum deutscher Synchronisationen amerikanischer Filme auf Kosten ihrer Dialektkompetenz ungewohnt früh akzentfrei vorgestanzte hochdeutsche Sätze sprechen können. Es gibt Kinder die sprechen wie Neuabgänger von der Schauspielschule. Sie sind im sogenannten „mündlichen Ausdruck“ ihrem Lehrer deshalb schon am ersten Schultag überlegen. Das Hochdeutsch ist plötzlich keine Waffe mehr, mit welcher die Kinder geschlagen werden können.

Sprachen sind Wege. Begehen den Weg viele, wird er breitgetrampelt und seine Kurven werden begradigt. Wenig begangen bleiben die Wege provisorisch und wild. Sie sind beschwerlich und unsicher, aber abwechslungsreich. Sie bewahren die Poesie ihrer Eigenart.

Meine Sprache und die Sprache meines Umfeldes ist Berndeutsch. Ein Deutscher oder eine Deutsche, die dazu genügend motiviert ist, kann Berndeutsch innert kürzester Zeit verstehen lernen. Berndeutsch sprechen zu lernen, braucht dagegen seine Zeit. Es dauert länger und ist sehr schwierig, weil Berndeutsch wie andere Schweizerdialekte auch, keine Umgangssprache, sondern ein komplizierter Verhaltenskodex ist. Man kann nicht Berndeutsch lernen, man kann nur Berner oder Bernerin werden.

Das echte Berndeutsch ist zurückhaltend, liebt die Untertreibung, die Ironie und die Pause. Berndeutsch ist wie zum Schweigen gemacht. Beredsame Figuren, wie sie der Dialog ebenso auf der Bühne wie im Roman gerne hat, wirken deshalb sehr bald unecht. Auf Berndeutsch hat selbstdarstellerisches Parlando etwas aufgesetztes, etwas Importiertes an sich. Und was schon in der Gasse nach Theatralik riecht, verkommt auf der Bühne sofort zur Karikatur oder zur falschen Eloquenz des Volkstheaters.

Beim Theater drängt sich der Dialekt bei allen Gefahren trotzdem auf. Will das Theater seinen Vorteil gegenüber dem Fernsehen wahrnehmen, nämlich mit klar definierten Bezügen unmittelbar auf eine örtliche Realität reagieren zu können, muss es auch bei der Sprache konsequent bleiben. Es wirkt absurd, wenn Bühnenfiguren zwar Namen und Adresse, auch eine klar definierte soziale Zugehörigkeit haben, dazu aber eine importierte Kunstsprache sprechen.

In der Lyrik, auch in der Musik (Lieder, Chansons und Rocksongs) gibt es eine lebendige, selbstbewusste Szene, die sich der Mundart mit uneingeschränkter Selbstverständlichkeit bedient. Die erzählende Literatur kennt jenseits der verklärenden, verharmlosenden Heimatdichtung dagegen keine Tradition. In den letzten Jahren sind unter hunderten von Büchern auf Berndeutsch nur gerade zwei Prosawerke erschienen, die künstlerisch über jeden Kitschverdacht erhaben sind. Das sind der Roman: Dr Fögi isch ä Souhung! von Martin Frank und die Prosatexte Fournier von Guy Krneta. (Gesamtschweizerisch betrachtet gibt es kaum mehr als die Mundartbücher des Solothurners Ernst Burren.)

Wirklich erstaunlich am schweizerischen Sprachdilemma im Bezug auf die erzählende Literatur ist eigentlich nur, dass man sich daran gewöhnt. Es ist so. Die Situation wird zwar von jeder Generation auf neue Art bewältigt, doch verändern tut sie sich kaum. Und dies bei allen echten und allen herbeigeschworenen Mundartwellen. Das Sprachgefälle stimmt mit dem Machtgefälle überein. Kleinstaatler lernen die Sprache der Grossstaatler. Wollen schweizerische Autoren und Autorinnen über ihre eigentliche Sprachregion hinauswirken, müssen sie vor der deutschen Hochsprache den Hut ziehen und diese als das Mass aller Dinge akzeptieren.

Zu welchem Grad ein Autor oder eine Autorin die Hochsprache mit Schweizerischem Sprachgut durchsetzen oder im Idealfall bereichern will, hängt vom persönlichen Selbstbewusstsein ab. Die einen fürchten sich vor Helvetismen. Seit ihnen ein Lehrer mit dem fetten Rotstift zwischen die Zeilen ihrer vermutlich herrlich sprachschöperischen Kinderaufsätze gefahren ist, bemühen sie sich päpstlicher als der Papst um sogenannt stilreines gutes Deutsch. Andere lieben die Ausweich- und Ergänzungsmöglichkeiten der lebendigen Alltagssprache. Diese Tradition reicht von Gotthelf über Meienberg bis zum preisgekrönten, seinen äusserst wirksamen Dialektpassagen zum Trotz, auch in Deutschland erfolgreichen Stück Top dogs von Urs Widmer.