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Spanien, Tarifa, Strasse von Gibraltar

Vermutlich ist es ebenfalls diesem Wind zu verdanken, dass die Tourismusindustrie bis heute keine grossen Anstrengungen unternimmt, Tarifa und seine Umgebung zu vermarkten. Die von der Costa del Sol oder von der Costa Blanca her bekannten Hotel- und Apartementtürme fehlen. Die an allen Küsten Spaniens üblichen Zweithäusersiedlungen wuchern nur sehr beschränkt und von der sonst überall aufschiessenden Vergnügungsinfrastruktur mit Spielkasinos, Rummelplätzen, Abenteuerparks und Erlebnisrestaurants ist nur wenig zu sehen.
Statt dessen ist es das Meer, der Hafen und die Aussicht auf den schwarzen Kontinent, was Tarifa äusserlich Charme und Reiz verleiht. Und in der mittelalterlich befestigten Altstadt sind es nicht Touristen, sondern die Einheimischen selbst, die mit ihrem gepflegten Umgang und einer für Andalusien auffallend ruhigen Art das öffentliche Leben prägen. Von Eile oder gar Stress ist auf Strassen und Plätzen wenig zu bemerken. In gut spanischer Tradition wird besonders nach heissen Tagen abends familienweise oder in Gruppen eifrig durch die Stadt oder den Hafen hin und her flaniert und „Luft geschnappt“. Tomar aire nennt sich dieses erholsame Vergnügen.

Afrika

In Geschäften und Restaurants, auch in der zentral gelegenen Markthalle, wo Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch aus beiden Meeren in farbigster Auswahl feilgeboten wird, gibt man sich europäisch gediegen. Es ist als wollten sich die Bewohner von Tarifa unablässig abgrenzen gegen Afrika, das sie vorschnell und ausschliesslich mit Chaos und Armut in Verbindung bringen.
Man spürt die Nähe des andern Kontinentes dennoch überall. In der verschachtelten Bauweise der sonst andalusisch weiss getünchten Altstadt, in den Hornsignalen der Fähren und auch im Zusammenhang mit den vorherrschend diskutierten Missständen.
Idyllisch ist Tarifa höchstens für Durchreisende, denn hier an der Meerenge von Gibraltar befindet sich das Nadelöhr, durch welches täglich hunderte von Menschen vom geschundenen Afrika über nur 14 gefährliche Kilometer ins verheissungsvolle Europa zu gelangen versuchen.
Sie versuchen es selbst mit den untauglichsten Mitteln, ausgeliefert den halsabschneiderischen Schleppern und der Unbarmherzigkeit des Meeres. Während sich die Schiffskatastrophen weiter häufen, gibt es auf dem Friedhof längst ein namenloses Grab für die ungezählten Opfer.
Auch die futuristische Kunstlandschaft der Windmühlen hat eine andere Seite. Sie bedeuten den Tod für ganze Schwärme von Zugvögeln und während das notwendige Netz von Zufahrtswegen zu jedem einzelnen Turm bereits jetzt an Landschaftsverwüstung grenzt, ist eine massive Erweiterung um 3000 Einheiten im Gang.

Die weissen Dörfer

Einen Teil des Charmes von Tarifa macht auch die überschaubare Grösse aus. Viel kleiner als das zwar zu Unrecht verrufene aber verkehrsreiche Algeciras, kleiner auch als Gibraltars gesichtslose Schwesterstadt La Linea, empfiehlt es sich sowohl als Zwischenstation, als auch als Ausgangspunkt für eine Reise ins andalusische Küstengebirge.
Das Ziel kann sehr wohl das berühmte Ronda, der Weg muss aber nicht der direkteste sein. Andalusien besitzt ein teilweise geradezu verhältnislos gut ausgebautes, aber oft nur spärlich befahrenes Strassennetz. Es lohnt sich denn auch, das Auto in diesem Privatverkehrsparadies nicht nur als Transportmittel, sondern einmal als jenen Schlüssel zur Freiheit zu betrachten, als welchen ihn die Werbung so gerne preist. Schilder, welche noch verbleibende Distanzen anzeigen, können demnach missachtet und an Kreuzungen darf ungestraft immer die kleinere oder unscheinbarere Strassenvariante gewählt werden. Nur sie führt zu jenen wundersamen Orten, die unter dem Sammelbegriff Los pueblos blancos – Die weissen Dörfer – bekannt sind.

Licht, Leere, Meer

Vorerst führt die Strasse durch Wälder und sattgrüne Talebenen, auf welchen Kühe und Pferde, vereinzelt, gedrungen und schwarz, auch zum Kampf in der Arena bestimmte Zuchtstiere weiden. Schon bald steigt die Strasse aber steil an, hinter jeder Kurve wird die Landschaft karger, die Berge höher, bis sich die Sierra Ubrique und die Sierra Bermeja unter dem leuchtend blauen Himmel gegenseitig kaum mehr an karger, sauberer Erhabenheit überbieten können. Oben nichts mehr als braune Bergbrocken und Licht und Weite und im Rücken der nur von leichtem Dunst behinderte Blick hinunter auf das glitzernde Mittelmeer, auf den der Küste vorgelagerten einsamen Felsen von Gibraltar und noch stärker in grünlichem Dunst, auf die Küstenberge Nordafrikas.
Von Menschen ausser der sanft den Hängen entlang geschlungenen Strasse kaum eine Spur. Erst bei näherem Hinsehen in schwer abschätzbarer Ferne ein paar weisse Flecken, zusammengewürfelt, verschachtelt, an einen Hang geklebt wie ein Schwalbennest ein weisses Dorf. Gaucin? Benarrabà? Algatocin? Alpandeire? Benadalid?

Dorfbilder

Von weitem nichts als austauschbare spanische Dörfer. Meistens von Abwanderung geplagt, oft vom Zerfall bedroht, ihre Vielzahl ist Legende. Aber keins ist zu klein, nicht eine Welt zu sein. Wem das friedliche Bild eines Esels unter einem Mandelbaum nicht reicht, sei versichert, mindestens ein sehenswerter Brunnen, ein beachtenswertes Rathaus oder aber ein kleiner Laden oder eine kleine Bar ist da immer. Nicht selten auch auskunftsfreudige Männer und Frauen, die sich darüber freuen, dass jemand ihr Dorf besucht. Oft findet sich sogar jemand, der sich aus einer längst verflossenen Gastarbeiterzeit noch ein paar Brocken Fremdsprache aufbewahrt, die er stolz hervorholt, mühsam vielleicht und doch bleiben seine beschränkt verständlichen Hinweise später in der Erinnerung ein bemerkenswerter Teil der Reise.
Aus der Nähe haben sogar die völlig verlassenen, abgelegensten, ärmsten Nester ihre Geschichte und ihre Geschichten. Die Dächer der Häuser mögen zum Teil eingestürzt, das halbe Dorf eine einzige Ruine sein und doch findet sich da mindestens ein Friedhof mit aufschlussreichen Namen und Daten, Spuren einer unverwechselbaren Kultur. Oder plötzlich offenbart sich Schönheit in den schmiedeeisernen Beschlägen und dem kunstvoll verzierten Schloss einer herunterhängenden Holztür, plötzlich steht in einer verwahrlosten Wegkapelle eine Skulptur von einer Jungfrau so einfach, schön und klar, dass sie selbst von Nichtkatholiken bewundert werden muss.

Anhalten

So schön das Fahren durch die offene, traumhaft leere, abwechslungsreiche Landschaft auch ist, der Schwierigkeit, im entscheidenden Moment anzuhalten, gilt es vorzubeugen. In der Nähe eines Dorfes empfiehlt es sich deshalb, sofort früh genug auf die Bremse zu gehen, den Wagen noch vor dem ersten Haus zu parken und den Ort zu Fuss zu betreten.
Wer aber nicht rechtzeitig, also vor dem Zentrum des kleinen spanischen Dorfes anhält, wer hineinfährt in die schmalen Gassen, nicht selten durch das Tor in einer mittelalterlichen Mauer, der muss damit rechnen, dass er keinen Parkplatz, ja kaum mehr eine Möglichkeit anzuhalten finden wird. Er ist also den verzweigten, engen Gassen ausgesetzt, provoziert vielleicht ungewollt Ärger, wird angehupt oder kommt schneller als er will auf der andern Seite des Dorfes wieder heraus auf die Überlandstrasse. Ungehalten über die mangelnde Verkehrsführung oder die fehlenden Parkmöglichkeiten oder verärgert über sich selbst, gibt er dort dann kurzerhand Gas und verpasst, was ihm möglicherweise sehr gefallen hätte.
Bekannt ist auch die Tatsache, dass die ersten Eindrücke eines Ortes oft die schönsten sind und dass sie deshalb besser zu Fuss und in Ruhe genossen werden, denn schon zu oft haben sich Autoreisende beim Bewundern und Fotografieren zum Beispiel einer Kirche Verletzungen zugezogen, weil, um die Turmspitze zu sehen, allzu ungewohnte Verrenkungen unerlässlich waren.

Umkehr

Zumindest die grösseren der weissen Dörfer, wie zum Beispiel das ruhige, sich in ein sattgrünes Regental schmiegende Grazalema oder das von seiner Kirche und einer Burg überragte malerische Olvera, bieten dem Autoreisenden unkomplizierte, manchmal einfache, stets aber tadellos saubere Hotels und ausserordentlich preisgünstige Pensionen. Die in allen spanischen Städten üblichen Park- oder Einbruchsorgen fallen weg. Wer den gewohnten Vorgang umkehrt und von kleinen Dörfern aus die grösseren Orte besucht, spart nicht nur Geld und Nerven, möglicherweise schläft er auch ungestörter und besser. Vor ungewohnt lautem Stadtlärm, wie ihn ganz Spanien gegenwärtig wahrzunehmen beginnt und in ersten zaghaften Schritten zu bekämpfen versucht, davor können nur sehr exklusive Hotels garantierten Schutz bieten.

Ronda

Ein garantiert lärmfreies Hotel ist das Hotel Victoria in Ronda. Es ist vielleicht auch das Hotel mit dem unvergesslichsten Blick aus dem Fenster. Es steht wie die ganze Altstadt von Ronda königlich erhöht wie eine Burg über dem sanften Hochplateau, das gleichzeitig scheinbar unbegrenzt ins Weite ufert und doch von einem phantastischen Bergpanorama so umfasst wird, dass ein Gefühl der Geborgenheit entsteht.
Dass Ronda bei allen seinen ausserordentlichen Sehenswürdigkeiten, von Spaniens schönster Stierkampfarena bis zu der Kathedrale von Santa Maria la Mayor, auch eine von der Natur einmalig begünstigte Stadt ist, bemerkte unter anderen kein geringerer als Rilke, dessen ehemaliges Zimmer im Hotel Victoria auf Anfrage besichtigt werden kann. Mittlerweile gibt es in Ronda sogar eine Autofahrschule mit dem Namen Rainer Maria Rilke, was der Dichter aber erfühlt hat, stimmt immer noch: Ronda ist noch immer zu schön um wahr zu sein und bleibt die erträumte Stadt.

Erschienen in NZZ, 8. 10.1998

 

Parador de Ronda
Parador de Ronda