Erntestolz
Einige Zeit vor dem Ausbruch des Schweizerischen Sonderbundkrieges unternahm Jeremias Gotthelf zu Fuss eine Reise nach Luthern, um sich dort vor Ort ein eigenes Bild der Situation zu machen. Sein Bericht erschien 1842 unter dem Titel: «Die Jesuiten und ihre Mission im Kanton Luzern». Ich wanderte buchstäblich auf seinen Spuren. Dabei war ich bestrebt, der Welt ebenso aufmerksam zu begegnen, wie er es getan hatte. Mit mindestens einer gesicherten Erkenntnis kam ich zurück: Gotthelf war sehr gut zu Fuss!
Ich fahre zum Bahnhof. Rathausgasse. Zwiebelgasse. Kornhausplatz. Zeughausgasse. An der Rathausgasse sind über Nacht an etliche der noch nicht völlig verschmierten Laubenpfeiler rosarote Anarchistensymbole gesprayt worden. An der Aarbergergasse sitzen vor einem italienischen Restaurant ein hagerer junger Mann und eine ganz in Weiss gekleidete junge Frau an einem Tisch. Beide starren mich unheimlich böse an. Möglicherweise langweilen sie sich, hatten gerade Streit, hassen Radfahrer oder sind sonst schlechter Laune. Ich schaue noch einmal zurück. Der Mann streckt mir die Zunge heraus. Er hat einen Ring in der Nase. Dann eilt zwischen zwei geparkten Wagen hervor eine Frau so hastig und kopflos schräg über die Gasse, dass ich Mühe habe, auszuweichen. Sie drückt sich ein Handy ans Ohr, ist bleich und hat an Kopf, Hals und Armen überall dunkelrote Pickel. Vielleicht sind es aber auch schorfige, schlecht verheilte Einstiche vom Fixen.
Ich fahre weiter. Ich muss wieder bremsen.
Ein schwarzer Toyota-Geländewagen biegt unrechtmässig links ab, bringt mich beinahe zu Fall. Der Mann am Steuer hat ebenfalls ein Handy am Ohr. Ich sehe, wie er mit einer Hand am Lenkrad dreht, dazu ins Handy spricht und von oben herabstarrt. Er bleibt stecken. Vor und hinter ihm stauen sich die Autos. Sie surren im Leerlauf. Es stinkt. An jedem Auspuff flattert eine Abgasfahne.
In einer langen Reihe abgestellter Fahrräder sehe ich eine Lücke. Ich stelle mein Rad dazu, schliesse es ab.
Beim Eingang zur Bahnhofunterführung drängeln Männer und Frauen. Sobald sie auf der Rolltreppe stehen, erstarren sie wie auf Kommando. Ich steige die Treppe hinunter. Eine Frau versucht, mir fünf Franken für eine Arbeitslosenzeitung abzunehmen. „Nein, nein“, sage ich, „ich habe zu tun“, sehe einen freien Ticketautomaten und gehe darauf zu. Ich will gerade meinen rechten Arm ausstrecken, da schiebt sich mir eine rauchende Dame auf dicken Schuhsohlen in den Weg und drückt ihren Zeigefinger auf den Bildschirm des Automaten, drückt weiter darauf herum. Sie steckt sich die Zigarette in den Mund und wühlt in ihrer Tasche, zieht einen Geldbeutel heraus. Die Tasche ist schwarz und riesig. Der Rauch der Zigarette steigt mir beissend in die Nase. Die Frau ist um die zwanzig, ist schlank, blond und stark geschminkt. Ihr enges, hellblaues Oberteil zeichnet ihren Büstenhalter nach und lässt viel braune Rückenhaut frei. Sie steht auf gewaltigen Schuhen mit wirklich gewaltig dicken Sohlen. Während ich warte, schaue ich auf meine eigenen Füsse. Ich trage meine Bergschuhe. Die Frau geht auf ihren hohen Schuhen stolz davon.
Jetzt berühre ich den Bildschirm. Er ist dreckig und zerkratzt.
Meine Fahrkarte kostet CHF 6.20. Bern-Lützelflüh-Goldbach steht darauf. Via Burgdorf. Also Bern ab 10.52, Gleis 3, Schnellzug Burgdorf Langenthal Olten Zürich.
Ich will nach Lützelflüh.
Ich will auf den Spuren von Pfarrer Bitzius vom bernischen Lützelflüh ins luzernische Luthertal gehen. Gehen, nicht wandern. Ich will gehen, denn Pfarrer Bitzius ging damals auch nicht wandern. Wandern ist sich selber Zweck genug. Wandern klingt, als wäre der Weg das Ziel, aber Pfarrer Bitzius ging von Lützelflüh ins Luthertal, weil er mit eigenen Augen sehen wollte, was dort los war. Er wollte jene Jesuiten sehen und hören, von welchen damals alle sprachen und schrieben. Weit über die luzernischen Kantonsgrenzen hinaus wurde mit den Jesuiten gehadert. Das ganze Land hatten sie in Aufregung versetzt. Ein paar Jahre später sollte es zu Freischarenzügen, dann sogar zu einem Krieg kommen. Zum Sonderbundskrieg. Weitere Informationen dazu stecken in meinem Rucksack. Dort befinden sich Band 24 (Kalendergeschichten, 2. Teil.) und der Ergänzungsband 6 (Briefe) der zweiundvierzigbändigen, im Eugen Rentsch-Verlag erschienen Gesamtausgabe. Die beiden gebundenen Bücher sind das Gewichtigste, was ich auf mir trage. Die Jesuiten und ihre Mission im Kanton Luzern gibt es in Band 24 als Referat und als Kalenderbeitrag. Aber es sind weder die Jesuiten noch des Herrn Pfarrer Bitzius’ Einschätzung von diesen, was mich an seinem Bericht so stark zu interessieren vermag, dass ich mich selbst auf den Weg nach Luthern mache.
Ich kann mich nicht erinnern, mich je im Luthertal aufgehalten zu haben.
Auf dem Weg zu Gleis 3 gerate ich in eine Gruppe von Halbwüchsigen. Ein Junge nimmt eine Gratiszeitung aus einem Kasten. Ich besorge mir an einem Kiosk eine Flasche Wasser und die „Berner Zeitung“. Die Verkäuferin sagt zweimal „Merci!“ und wünscht mir einen schönen Tag.
Auf dem Perron hier und dort ein Mädchen oder eine junge Frau, die sich an eine Plakatwand, an ein Geländer gelehnt oder auf einer Bank sitzend über ihre Handys beugen, Nachrichten eintippen und abrufen. Hinter einem Gepäckwagen sehe ich den Jungen wieder, der die Gratiszeitung aus dem Kasten genommen hat. Er hat sie aufgerollt und schlägt damit auf ein Mädchen ein, das kreischend vor ihm her rennt.
Auch im Zug breitbeinige, auf den Bänken ausgestreckte Jungs mit ihren Geräten vor dem Kopf, gummikauende junge Damen mit ihren Handys im Schoss.
Ich setze mich in eines der leeren Abteile. Den Rucksack verstaue ich, die Jacke hänge ich auf. Im Abteil nebenan liegen auf Ablage, Bänken und Boden zerlesene Gratiszeitungen.
Kurz bevor der Zug losfährt, sagt jemand im Abteil unmittelbar hinter mir offenbar in ein Handy: „Itz bin ig grad im Zug abghocket. Itz hanni dir grad wölle alüte.“ Und dann sagt die Frauenstimme eine Menge Sachen, die ich gar nicht hören möchte. Ich überlege, ob ich mich in einen andern Wagen setzen will.
Weil die bevorstehende Fahrt kurz ist, lasse ich es sein. In Burgdorf bin ich aber froh, umsteigen zu können.
Zehn Minuten Zugfahrt reichten der Frau aus, um mit unbekümmert lauter Stimme eine halbes Dutzend ihrer vermutlich besten Freunde und Freundinnen der Reihe nach am Handy öffentlich durch den Dreck zu ziehen. Sie begann jeweils mit einer unverfänglichen Bemerkung, streute dann ein kleines Lob dazu, um schliesslich mit einem „aber“ zu ganzen Listen von persönlichen Unzulänglichkeiten, von Charakterfehlern, von kleinen und grösseren Unterlassungen, von körperlichen Schwächen und Defekten überzugehen. Sie zog vom Leder, dass es mir peinlich war, unfreiwillig zuhören zu müssen.
Den roten Triebwagen des Zuges nach Lützelflüh betreten vor mir zwei ältere Frauen. Sie tragen mit beiden Händen Taschen und Plastiktüten. Doch, sie passe immer auf, sagt die eine. Alleine gehe sie schon nicht mehr auf den Zug. Nachts schon gar nicht. Recht habe sie, sagt darauf die andere. Sie kenne in Langnau eine Frau, die sei voller Angst, es könnte ihr etwas passieren, zu ihren Jungen nach Amerika gegangen. In Amerika sei nichts passiert, aber auf der Heimreise im Zug zwischen Olten und Langenthal. Sie doktere heute noch an den Messerstichen von dem Raubüberfall.
Ich hole meine Zeitung hervor und setze mich in ein Abteil ans Fenster. Auf der ersten, auf der zweiten und auf der dritten Seite:
Irak, Irak, Irak.
Ich schaue hinaus. Die Landschaft wird hügeliger. Die ersten bewaldeten Emmentaler Anhöhen. Die Hubel, die Höger, die Eggen.
In Oberburg, wo sich das Tal weitet und Lützelflüh von weitem zu sehen ist, verstaue ich die Zeitung wieder ungelesen im Rucksack, schnüre noch einmal meine Schuhe, stehe auf und gehe im bremsenden Zug zur Wagentür.
Bevor ich aussteigen kann, klettert ein fettleibiger, pickliger junger Mann herauf. Er keucht, gerät von der Anstrengung, den Zug zu besteigen, ausser Atem. Sein Keuchen vermischt sich mit dem rhythmischen Zischen, das aus den Kopfhörern dringt, die er aufgesetzt hat. Da er in einer Hand neben einer Zigarette eine Dose „Red Bull“ und in der andern einen Discman festhält, kann er sich nur schlecht hochziehen. Er schwankt, stolpert, stösst mich dabei unsanft an, fängt sich auf. Ich sage „Hoppla!“ und er antwortet: „Häaaähuhuhm!“ Sein Mund steht weit offen, das Gesicht ist blass, die Züge hilflos anmassend. Der Stoff seiner scheinbar in die Kniekehlen hinuntergerutschten Hose liegt grösstenteils in Wülsten zerfetzt und ausgefranst auf ungeschnürten Turnschuhen.
Ich steige aus, weiche einem andern jungen Mann aus, der gerade auf den Bahnsteig spuckt. Ich höre einen Kompressor, dazu das Knattern eines Presslufthammers.
Lützelflüh, also.
Geleise, Betriebsgebäude, Betonsilos, Parkplätze, Kabel, Leitungen, alles grau. Hinter dem wieder abfahrenden Zug kommt die bunte Auslage eines Kioskes zum Vorschein. Über das Geleise hinweg sehe ich gleich mehrfach das grinsende Gesicht einer Bundesrätin auf zum Kauf angebotenen Illustrierten Zeitschriften.
Ein Wagen fährt vorbei. Der Baulärm ist so durchdringend, dass sein Motor nicht zu hören ist. An der Kreuzung der Dorfstrasse steht ein Kasten für den Hundekot, daneben Wegweiser, gelbe Wanderwege. Auch eine Eisenplastik steht da. Der Tod. Ein rostiger kleiner Tod aus Schrott und Gerümpel mit einer rostigen Sense. Ein mickeriger Tod. Verloren zwischen Schienen und Strassen.
Bei der Kirche werfe ich einen Blick auf das Pfarrhaus. Schön hat er gewohnt. Ich sehe auch das Grab. Aber welchen Weg hat Pfarrer Bitzius von hier aus nun ins Luthertal genommen? Ging er nach Sumiswald über die Egg?
Im „Ochsen“ bestelle ich einen Kaffee und studiere die Karte. Ich folge mit dem Zeigefinger den grünen Linien: Ginsberg. Brandishueb. Hagsbachgraben. Ellenberg. Waldhusberg. Haselholz. Gsanger. Reckenberg. Egg. Er wird keinen Grund gehabt haben, nicht den allerdirektesten Weg zu wählen.
„I wett zahle!“
Vorbei an einer Reihe von neuen Wohnhäusern mit Solarzellen auf dem Dach gehe ich aus Lützelflüh hinaus. Ein Hund kläfft, ich höre auch Vogelgezwitscher, einen Traktor, hinter einem erst im Rohbau fertigen Solarzellenhaus den schrillen Schrei einer Bohrmaschine, dazu einen Rasenmäher und von weiter unten her, gedämpft schon, den Presslufthammer beim Bahnhof.
Der Weg beginnt zu steigen, biegt ab in einen Wald. Ich gehe langsam, achte auf den Boden. Unter dem raschelnden Laub gibt es verschlungenes Wurzelwerk, glitschige Stellen, Steinklumpen.
Oben sehe ich als erstes eine Bernerfahne flattern. Kühe rechts, Kühe links. Vielleicht sind es auch Jungstiere oder Ochsen. Auf einem kleinen Hügel steht ein Baum. Vielleicht eine Eiche? Eine Linde? Eine Buche?
Der Himmel dahinter ist gross und blau.
Beim ersten Bauernhaus verweist auf einem Tisch ein Schild auf Süssmost und Backwerk. „Kässeli“ steht an einer leeren Tasse.
Es ist still. Ich höre nur den Wind. Dann ein heranbrausender Wagen. Ich weiche auf die Böschung aus. Ohne seine Fahrt auf dem schmalen Strässchen zu verlangsamen, rast der Wagen auf mich zu und an mir vorbei. Am Steuer eine Frau. Sie beugt sich mit geöffnetem Mund weit nach vorne, dreht an dem Lenkrad unter ihrem Kinn. Den Blick auf den Horizont gerichtet.
Dann wieder nur das Geräusch meiner eigenen Schritte. Durch Weideland und einer Hecke entlang führt der Weg zurück in den Wald. Ich atme tief. Einen Schatten habe ich vorbeihuschen sehen. Schweiss tropft mir von der Stirn, von den Ohren. Pfarrer Bitzius wird weniger geschwizt haben.
Um diese Uhrzeit muss Pfarrer Bitzius längst im Luthertal angekommen sein und sich die erste der beiden Jesuitenpredigten angehört haben, über die er später berichtete. Nachts wird er seine Aufmerksamkeit voll und ganz den Unebenheiten des Weges gewidmet haben müssen. Am Waldrand eine Bank. Verkehrsverein Lützelflüh steht darauf. Daneben, eingekratzt, gemalt und gesprayt: Pornografisches, vermeintlich Antifaschistisches, viel Autistisches. Ausländer raus! in den unsäglichsten Variationen.
Ich hole meine Wasserflasche hervor, gehe dann in den Wald. Um die Spitzen der Tannen zu sehen, muss ich meinen Kopf weit nach hinten beugen. Auf der Weide hinter dem Wald liegen Kühe wiederkäuend im Gras. Vierzehn Tiere zähle ich. Ihre grossen Leiber sind alle gegen die Sonne, damit auch gegen die Alpen gerichtet. Als würden sie den Ausblick über die bewaldeten Höhen, dahinter den Anblick von Eiger, Mönch und Jungfrau geniessen.
Ein paar Steinwürfe unterhalb des Weges sehe ich einen Bauernhof mit einem schwarz klaffenden Loch im Dach. An mehreren Fenstern in der Fassade fehlen die Scheiben. Der eingezäunte Gemüsegarten ist unbestellt. Der Brunnen trocken. Vor der Hundehütte liegt eine Kette im Staub.
Ich gehe an einem alten, dann an einem neuen Schulhaus vorbei und erinnere mich, das Pfarrer Bitzius auch für drei Schulen von Lützelflüh verantwortlich war. Ein Schulhaus befand sich hier auf der Egg.
An einem stattlichen, mit Blumen üppig geschmückten Hof vorbei, geht es wieder bergab.
Der Weg ist aufgeweicht. Links und rechts ist der Wald gelichtet. Von Wirbelsturm Lothar verwüstet. Niedergekrachte Baumstämme. Die aus dem Boden gerissenen Wurzeln mannshoch, erdig. Durch die breite Schneise kommt das Surren und Dröhnen des Verkehrs vom Tal den Hang herauf. Jetzt sehe ich Sumiswald. Da gibt es einen „Bären“. Ich beschleunige meine Schritte. Ausser Durst verspüre ich Hunger.
Der „Bären“ hat zu.
Beim „Kreuz“ setze ich mich unter das breite Vordach auf die Terrasse an einen gedeckten Tisch. Das Vordach ist mit Bauernmalereien verziert. Die Bedienung grüsst auf Hochdeutsch. Mordiodeutsch, heisst das bei Pfarrer Bitzius. Sie reicht mir die Menükarte. Ich bestelle Geschnetzeltes mit Rösti. Und Most.
Dieses „Kreuz“ kann für Pfarrer Bitzius nicht viel anders ausgesehen haben. Das mächtige Gebäude ist aus schweren Balken gezimmert. Es ist von der Sonne schwarz gebrannt. Die Aufgangstreppe ist aus unverrückbaren Steinen gefügt. Über der Tür ist die Jahrzahl 1664 eingekerbt. Drinnen gibt es für Hochzeiten und Taufen einen „Gotthelfsaal“. Auf der Toilette riecht es nach einer chemischen Substanz mit einem süsslichen Fruchtaroma. Pfirsich? Aus den Lautsprechern dringt eine Mischung zwischen amerikanischer Countrymusic und einheimischer Volksmusik. Auf Zürichdeutsch. „Emmentaler Cowboys“ nennt sich die Gruppe.
Eine Zeitung liegt herum. „Der Bund“. Ich blättere ihn durch.
Irak, Irak, Irak.
Mein Essen kommt.
Danach gehe ich durch ein geteiltes, zerschnittenes, verbautes Tal. In der Mitte fliesst die Grüene. Autos rasen vorbei. Ein Eisenbahnwagen wird über die Strasse in ein Fabrikareal rangiert. Einer der aufgehaltenen Wagen hupt. Ich bin weit und breit der langsamste. Ich zweige neben Schloss Sumiswald vorbei auf eine Nebenstrasse ab. Ich gehe mitten durch frisch gepflügte Äcker. Ich höre Kuhglocken, sehe einen kreisenden Raubvogel, weidende Schafe, einen Berner Sennenhund.
Ein Bauer grüsst nickend von einem Traktor herab. Auf dem Sitz über dem einen Rad hält sich ein Mädchen fest. Es hat eine Puppe im andern Arm.
Auf einem Acker liegt drei oder vier Schritte vom Strassenrand entfernt ein blauer Zettel. Ich hole ihn heraus. Erde, Ackererde, Boden, Dreck haftet daran. Es ist ein EWG-Pflanzenpass.
Kategorie: Zertifiziertes Pflanzengut.
Ausgestellt von der Anerkennungstelle Rostock. C 279083.
Nur für maschinell vernähte Packungen. Einleger und Plombe nicht erforderlich. (Nachdruck verboten)
Art: KARTOFFEL Solanum tuberosum.
Erzeugerland: Bundesrepublik Deutschland.
Verschliessung: (Monat, Jahr) 03/2003
Sortenbezeichnung: Erntestolz.
Vor Wasen i. E. gerate ich vom Ackerland ganz plötzlich in eine Wohnsiedlung. Zierblumen leuchten. Zäune, Absätze, kniehohe Mauern, Stufen, Blumenkisten ordnen Garageneinfahrten, Rasenflächen. An den Hauseingängen Messingschilder. Bei einem Küchenfenster geht ein Vorhang zu.
Beim nächsten Haus schiebt sich mir ein kleiner grauer Opel in den Weg. Langsam schiebt er sich vom Vorplatz auf die Strasse hinaus. Der Mann am Steuer ist grauhaarig und starrt mit erhobenem Kinn in den Rückspiegel. Er sieht dabei aus, als lotste er einen Ozeandampfer rückwärts aus dem Hafen. Mein Rhythmus ist gebrochen.
Als ich an der Dorfstrasse in Wasen in einem kleinen Supermarkt eine Flasche Most kaufen will, bleiben im Eingang ein Mann und eine Frau stehen. Er ist untersetzt, sie ist stämmig. Anstatt mich passieren zu lassen, sagt sie zu dem Mann: „Dini Finke chasch sowiso furtschiesse, die si uustrub!“ Wie sie zu dem Mann noch sagt, er müsse sich halt endlich mal entscheiden, gehe ich weiter, begegne einer Mutter mit einem Kind im Wagen und einem an der Hand. Sie grüsst. Ich grüsse zurück.
Hinter Wasen, im Löchlibad, bestelle ich in der Gartenwirtschaft ein Glas Süssmost. „Ä haube Liter?“ fragt die Bedienung, die dabei ist, Fenster zu putzen. Ich bejahe und studiere die Karte. Wieder folgt mein Zeigefinger den grünen Linien: Steinweid. Freudigenegg. Gitzichnübeli. Sunnberg. Mätteliboden. Hornbachegg. Nussbaumberg. Fritzenhus, Fritzenberg, Fritzenfluh, Chäpplerspitz. Chipferweidli. Bräschtenegg. Ahorn.
Währendessen erzählt nebenan ein älterer Mann einem jüngeren, er treffe sich oft mit dessen Schwester. Manchmal helfe sie ihm mit der Wäsche, dann würden sie zusammen einen Kaffee trinken gehen. In einem Café in der Nähe des Waschsalons.
Der andere Mann am Tisch ist möglicherweise sein Sohn. Er raucht, er ist nervös, er schielt zu dem Wagen hinüber, der auf dem sonst leeren Parkplatz steht.
Es sei schön, sagt nach einer Pause der ältere Mann zum jüngeren, dass er, seit er vom Gastgewerbe in eine Spitalküche gewechselt habe, nun auch in den Genuss besserer Arbeitszeiten komme.
Mein Glas ist leer. Der Most ist weg. Ich falte meine Karte wieder zusammen, breche auf.
Der Weg ist bald steil wie eine Treppe. Er führt erst einem Waldrand entlang, dann über eine Weide. Ich sehe auf Wasen hinunter, höre Grillen, ein Motorrad, einen Traktor, einen Vogel, wieder einen Vogel, mehr Grillen, noch ein Auto, Kuhglocken.
Ich komme an einem leeren Stall vorbei.
Ein Brunnen plätschert. Das Gras steht fett, der Löwenzahn leuchtet. Ich schwitze. Vor meinen Füssen sehe ich eine Feder. Ich hebe sie auf. Sie ist schwarz, der Kiel ist weiss. Mit der Feder in der Hand gehe ich weiter.
Ich gehe mit der schwarzen Feder in der Hand meinen Gedanken nach.
Streckenweise ging Pfarrer Bitzius bestimmt über den gleichen Boden, die gleichen Brücken, die gleichen Pfade.
Obschon er gerade hier niemals durchgegangen sein wird. Das Rauf und Runter durch Weiden und Wälder wäre ihm viel zu zeitraubend gewesen.
Um mächtige Tannen und ihre Wurzeln herum steige ich einen steilen Hang hinunter.
Und wieder hinauf.
Oben bleibe ich stehen.
Gehe weiter. Auf dem Grat.
Wenn da drüben schon Luzern ist, gehe ich genau auf der Konfessionsgrenze. Ein Fuss katholisch, ein Fuss reformiert.
Mir ist heiss.
Pfarrer Bitzius wird hier sein Predigerwams auch längst ausgezogen haben.
Ich sehe das Luthertal.
Wellenförmig, faltig, eine Weide an der andern. Dazwischen, darüber, darunter Wälder. All dieses Grün. Die Schlaufen der Strassen und Strässchen. Dahinter weichgezeichnet im Dunst graue, weisslich schimmernde Siedlungen, Dörfer, Ballungsgebiete, Industriesektoren, Kommerzzonen, Konglomerationen, Agglomerationen, Investitionen.
Das Mittelland.
Darüber wie fahler Sirup der rötlich gefärbte Himmel.
Durchsetzt mit Grautönen, von Rosastreifen durchschimmert. Trotz gräulichen Schwaden mit bräunlichen Rändern sieht die Smogglocke wie das Abendrot aus.
Ich gehe über eine sattgrüne Lichtung an einer Alphütte vorbei und wieder in den Wald hinein zum Ahorn hinauf und dann ins Tal hinunter. Einen Stock habe ich mir aus dem Unterholz geholt. Und noch halte ich die Feder in der Hand. Immer mal wieder steht ein Kreuz am Weg.
Sobald ich nach Luthern komme, betrete ich den ersten Gasthof, bestelle ein grosses Glas Most und erkundige mich nach einem Zimmer.
Es ist halb Acht.
Um diese Uhrzeit war Pfarrer Bitzius schon längst wieder unterwegs zurück nach Lützelflüh.
Gleich zwei Jesuitenpredigten soll er über sich ergehen lassen haben.
Wovon eine drei Stunden gedauert haben soll. Vor und nachher hätten die Leute gebeichtet wie wild.
Beim Ausziehen der Schuhe schmerzen meine Füsse. Ich könnte heute keine Egg mehr besteigen.
Ermattet gehe ich noch lustlos ein paar Schritte durch das Dorf. Betrete die Kirche. Gehe auf dem Kirchhof durch die Gräber. Gehe zurück. Bestelle ein Abendbrot.
Anstatt meine Bücher auszupacken, schalte ich den Fernseher ein. Wähle einen anderen Kanal. Und noch einen. Und noch einen.
Irak. Irak. Irak.
Ich sehe nichts mehr und schlafe ein.
Beim Morgenessen bringt mir die Bedienung den „Blick“ und die „Neue Luzerner Zeitung“.
Den „Blick“ würde ich nicht wollen, sage ich und frage nach Busverbindungen. Halb aus Neugier, halb weil ich mir überlege, ein Stück zu fahren, anstatt der Luther entlang zu gehen. Am rechten Fuss schmerzt eine Blase.
Die Busverbindungen sind schlecht. Wie die Bedienung im Gespräch erfährt, dass ich am Vortag zu Fuss von Lützelflüh gekommen sei, zollt sie mir Respekt.
Ich will ihr sagen, ein gewisser Pfarrer namens Albert Bitzius, der später unter dem eigenartigen Namen Gotthelf, Jeremias als moralisierender und sprachprotzender Stehschreiber weit über die Grenzen seines Pfarrbezirkes Lützelflüh im Emmental hinaus zu Ruhm und währschaften Feinden gekommen sei, habe zur Zeit der jesuitischen Missionspredigten hier im Tal der Luther diesen Weg an einem einzigen Tage gleich zweimal…
Ich schlucke die Bemerkung hinunter und greife nach dem Zettel, den sie mir auf den Tisch gelegt hat.
Gasthof Krone
6156 Luthern
Fam. Portmann- Schuhmacher.
Rechnung
1 Einer-Zimmer mit Frühstück Fr. 70.-
Der Preis ist zweimal rot unterstrichen.
Das war Luthern. Das Luthertal. Die Luther.
Ich gehe an einem Holzverarbeitungsbetrieb vorbei, sehe, höre und rieche die mannshohe Säge, die gestapelten Bretter, die Balken.
Gehsteig, Wegkreuz, Strasse, Kapelle, Strasse, Zebrastreifen, Friedhof, Strasse, Wanderweg, Hecke, Zaun.
Über eine Brücke komme ich zu einem fabrikähnlichen, fensterlosen Gebäude. Es ist eine Gefülgelmasthalle.
Bei einer Hofeinfahrt ein grosses, handgemaltes Bild. Ein Mann auf einem Traktor. Vater wird 50.
Biege dann auf einen Feldweg ein.
Zwischen Äntebach und Mittler-Brügglismatt steht eine Holzskulptur. Einem Schild entnehme ich, dass ich auf einen sogenannten Erlebnisweg geraten bin. Auf den Luthertaler Sagenweg.
Eines von verschiedenen Projekten, die dem Luthertal neue Impulse verleihen sollen.
Von einer neuen Sagen-Feuerstelle, von Fackelwanderungen, von Geistermenüs und einer Sagenbar ist die Rede.
Beim Weitergehen schrecke ich einen Schwarm Krähen auf.
Irak. Irak. Irak.
Das letzte Wegstück lege ich im Postauto zurück.
„Nach Hüswil-City“ scherzt der Fahrer. Er hat einen Welpen bei sich. Sonst bin ich der einzige Fahrgast.
Vor dem Schalterraum in Hüswyl steht eine Werbewand. Darauf eine strahlende junge Frau überlebensgross am Handy. Hinter der Wand bohrt ein Mädchen mit einem Finger in der Nase herum und drückt dazu ein SMS.
Die Frau am Schalter macht mich darauf aufmerksam, dass mein Zug gleich einfahren wird.
Meine Fahrkarte kostet CHF 14.50. Bern, via Wolhusen-Langnau steht darauf.
Ich gerate irrtümlich in ein Raucherabteil.
Es riecht nach Hanf.
Zwei Jungs sitzen sich mit zischenden Kopfhörern an den Ohren gegenüber, schlagen sich mit leeren Petflaschen auf die Schenkel, in die Hand, auf die Ablage, auf das Sitzpolster.
Im Nichtraucher sind alle Abteile leer. Ausser einem.
Pappbecher, Servietten, bunte Tüten liegen herum, sind von der Ablage zu Boden gefallen. Beim Anfahren des Zuges beginnt eine leere Flasche hin und her zu rollen, gegen die Wände zu schlagen.
Ich sehe einen hochgelagerten nackten Fuss. Die Nägel sind rot lackiert, aber die Zehen sind verkrümmt, schief, verwachsen, schwielig, rotgefleckt.
Als spürte sie, dass ich ihren Fuss anschaue, zieht ihn die unsichtbare Besitzerin zurück.
Ich sammle einige Blätter der herumliegenden Gratiszeitungen ein.
Ich schaue sie nicht an.
Irak, Irak, Irak.
Am Boden sehe ich einen von Hand beschriebenen roten Zettel.
Nicht alles lässt sich leicht entziffern. Es ist eine Einkaufsliste.
Joghurt. Sojamilch. 3L
Birnen oder Aepfel, 1 Zitrone
Mostbröckli Bündner
Brunch
Sojajoghurt
Vollkornmehl (Zopf)
Molke
Mozzarella light
Steht alles da.
Ich hole die Bücher hervor.
Da ich mich nicht richtig zu konzentrieren vermag, lese ich die bereits mit Bleistift markierten Stellen ein zweites Mal.
„Einer im Kanton Bern, der seinen eigenen Augen mehr traut als hundert Zeitungsspiegeln, hörte, dass die Mission in Luthern, Hauptort des Tales, das an den Napf stösst, sich gesetzt, dort wollte er sie hören und sehen. Ists merkwürdig, ein Volk an einer Kilbi in Lust und Tanz zu sehen, so ist noch viel merkwürdiger, ein Volk zu betrachten an seinen heiligen Tagen, wenn an den Tag sein Glaube trittet und seines innersten Wesens Gestaltung.“
Ich schaue auf, schaue hinaus, sehe auf der Strasse gleich neben dem Geleise eine aufgereihte Autokolonne im Stau.
Wo sind wir?
Ich weiss es nicht.
Die Autos stehen ganz nahe am vorbeieilenden Zug. Ich kann die Gesichter der Männer und Frauen sehen.
Dahinter eine Reitanlage neben einem Hof. Ein Pferd an einer Leine. Zwei Pferde weiden. Eine Reiterin.
Ich lese weiter.
„Er machte sich auf an einem Tage, wo Erde und Menschen nach Regen lechzten, Staub Strassen bedeckte, dennoch, der fleissige Berner emsigst heuete und zwischendurch zum Zeitvertrieb Erdäpfel hackte. Lang lief sein Weg durch Gräben hin, dann eine mächtige Bergwand auf, dann über einen Grat hin, wo mit einem Kreuz der Kanton Luzern begann und der Weg in eine schöne, dem Kloster St. Urban gehörige Alp sich senkte. Dort beim Kreuz war eine schöne Lueg in die gewaltigen Gebirge hinein, über die niederen Hügel weg, die wie ungeheure Wellen eines erstarrten Meeres einen bedeutenden Teil der Schweiz bedecken.“
Beim Umsteigen bemerke ich, dass der Fuss mit den rot lackierten Nägeln nicht zu einer Frau, sondern zu einem Mann gehört.
Nach Wolhusen, lese ich weiter, schlafe ein dabei.
Geweckt werde ich von quirligen Mädchenstimmen.
Sie berichten vom Haushaltlehrerinnenseminar.
Eine Stimme sagt: „Da Hueräbrate i dere Huäräbratpfanne isch hueräverbrönnt gsy. Ig ha huere muesse chratze a däm Hueräbratezüg.“
Ich stehe auf, um zur Toilette zu gehen. Ich mache die Tür auf, ziehe sie angeekelt sofort wieder zu.
Ich gehe durch einen Wagen zur nächsten Toilette. Sie sieht nicht besser aus, aber ich muss.
Auf dem Weg zurück an meinen Platz sehe ich Profilstangen vor den Zugfenstern, dann höre ich eine der Mädchenstimmen, die sagt: „Hüt hei mr wenigschtens mau öppis gchochet, wo me het chönä frässe.“
Am Bahnhof Bern bin ich benommen.
So viele Leute. Berufsverkehr. Alle eilen mir entgegen. Meine Beine sind schwer. Ich lenke meine Schritte durch die Menschenmenge. Mein Rucksack hängt mir schwer am Rücken.
Die Bücher, denke ich.
Vor mir stehen plötzlich zwei Frauen. Sie schauen sich bei einem Reisegepäckladen verschiedene Taschen aus Leder und Kunststoff an.
„Es git schandbar schlaus Züg, we me chly luegt u suecht“, sagt die eine.
Ich gehe weiter. Immer neue Wogen von Menschen kommen mir in Eile entgegen.
Ich überlege mir, ob noch eine Besorgung zu erledigen sei. Milch und Brot werde ich kaufen.
Ich versuche dem Strom auszuweichen. Am Rand komme ich besser vorwärts, bemerke dabei einen Mann, der sich nicht um die vorbeieilenden Massen kümmert. Er steht aufgebracht vor einem andern Mann. Dieser hat lange dunkle Haare und ein höhnisches Grinsen im Gesicht. In einem seiner Mundwinkel hängt eine Zigarette, die Hände stecken in den Hosentaschen.
„De mach doch das!“, sagt er und versetzt dem Mann vor ihm mit einem hochschnellenden Fuss einen gewaltigen Tritt voll zwischen die Beine. Niemand beachtet die beiden.
Was der attackierte Mann erwidert, verstehe ich nicht, sehe nur, dass er sein Gesicht verzerrt und etwas sagt.
Wie ich mich noch einmal umdrehe, sagt der Mann in der Lederjacke abermals:„De mach doch das“, als wollte er sagen, der andere solle sie doch endlich holen, die Polizei. Gleichzeitig schlägt er ihm noch einmal den Fuss mit brutalster Wucht zwischen die Beine.
Hinter dem Bahnhof in der Nähe einer Pizzeria steht mein Rad. Ich schliesse es auf. Eine Gruppe verlässt gerade die Pizzeria.
„Aber d’ Pfarrerin het schön gredt“, sagt eine Frau.
Ich fahre an stehenden Wagenkolonnen vorbei durch die Aarbergergasse, dann in die Zeughausgasse. Ein Paar hetzt vorbei. Sie halten sich vornübergebeugt aneinander fest. Sie sehen schitter und gestresst aus. „Das hätt ig niä dörfe mache“, sagt der Mann. Sie sehen aus wie Junkies auf der Jagd nach Stoff.
Bei der Bäckerei steige ich ab. Neben dem Eingang stehen zwei Damen. „Absolument Madame! Absolument! Vous avez tout à fait raison!“, sagt die eine. Beide tragen beige Regenmäntel, beide sind grauhaarig.
Zuhause angekommen, entnehme ich dem Briefkasten eine Gratiszeitung, leere dann den Rucksack auf den Küchentisch. Auch meine Taschen kehre ich um. Eine Fahrkarte, eine Postkarte der Kirche von Luthern, den roten Einkaufszettel, den blauen Pflanzenpass, eine Quittung, ein Stein, die Schlüssel, Kleingeld.
Aus der Brusttasche des Hemdes nehme ich die schwarze Feder.
Bern, 16. September 2003
Erschienen in:
Gotthelf Lesen
Auf dem Weg zum Original, h.e.p. Verlag 2004