Schwingen, Brücke
Schwingen, Brücke

«Ah, c’est un Schlungg»
Impressionen von einem Bergschwingen

Vor den Ehrendamen gehen sie in die Knie.

Am vergangenen Sonntag stieg die Schwingerelite im freiburgischen Schwarzsee in die Hosen. Eine Reportage über das bodenständigste aller Kräftemessen.

Um acht Uhr ist Anschwingen. Das heisst, die Schwinger steigen zum ersten Mal in die Hosen, gürten sich und begeben sich für den ersten von sechs Gängen in den Ring. Es sind um die 140 Schwinger, die sich für dieses Schwingfest im freiburgischen Schwarzsee qualifiziert haben. Es ist der grösste der so genannten «Bergschwingeten», die während des Sommers vom Brünig bis zur Schwägalp als Teil von Älplerfesten veranstaltet werden. In Schwarzsee wird zwar auch ein Chörli singen und jodeln, und in der Mittagspause ist das deftige Stossen von zwanzig und fünfzig Kilo schweren Mordsbrocken von Steinen angesagt, aber im Mittelpunkt steht hier eindeutig «la lutte suisse», das schweizerische Kleiderringen, unser aller ureigenes, altväterisch währschaft eidgenössischstes und bodenständigstes aller Kräftemessen: das Schwingen.

Kurz und Lutz
Die Tribünen haben sich längst gefüllt, noch spendet hier und dort eine Tanne etwas Schatten. In vier Sägemehlringen gleichzeitig folgt Kampf auf Kampf. Jeder beginnt mit einem Handschlag zur Begrüssung, dann geht es mit dem «Zusammengreifen» forsch zur Sache. Zuerst gilt es, an des Gegners Zwilchhose die Hände festzuhaken. Je eine Hand am Gürtel und die andere an einem Hosenstoss. Ist der Hosenstoss aufgerollt, kann er am unverrückbarsten gepackt werden. Sobald der Kampfrichter sagt «Guet!», haben die Schwinger sechs Minuten Zeit, ihren Gegner zu besiegen, indem sie ihn – ohne dessen Hose mit mehr als einer Hand loszulassen – möglichst platt auf den Rücken ins Sägemehl legen. Liegt der Rücken vorschriftsgemäss am Boden mit beiden Schulterblättern auf, ist der Gegner «gebodigt».
In der einen Ecke des Wettkampfareals bricht auch schon Jubel aus. Einem kollektiven Aufschrei der Bewunderung folgt Applaus. Schon steht der erste Überraschungssieger fest. «Einfach gefährlich, der Lutz», sagt jemand im Publikum und meint mit «Lutz» einen der Würfe, mit welchen sich die Schwinger gegenseitig aufs Kreuz zu legen trachten. Gleichzeitig sagt jemand erstaunt: «Eh lueg dert, ä Schwarze!» Obschon er dieselben Hosenträger über demselben blauen Ethnoküherhemd trägt wie viele andere auch und obschon er sich ebenso schlaksig mit leicht vorgebeugter Körperhaltung zum «Zusammengreifen» in einen der Ringe begibt, ist der dunkelhäutige Schwinger in diesem Umfeld nicht zu übersehen.

Grittelen und Gammen
Irgendwoher ist jetzt ein Ländler zu hören. Dazu Kampfgeschrei: «Uhäh! Uhäh! Uächch! Äääächch und Hoohoooohhh!» Dann Bravorufe. «Bravoooo, Üelu!» Diesmal jubelt das Publikum auf der anderen Seite des Areals.
«Nid jufle!», wird in einem dritten Ring einem Schwinger zugerufen. Dieser ist gezwungen, mit seinem Gegner wie zu einem doppelrückigen Tier verwachsen im Passgang hin und her durch das Sägemehl zu stapfen. Komisch sieht das aus. Schon wiederholt hat er vergeblich ruckartig zu einem Schwung angesetzt. «Nume nid jufle!», kommt wieder eine Warnung aus dem Publikum.
Andere Schwinger warten in Gruppen an den wenigen schattigen Orten auf ihren Einsatz. Viele tragen auch an diesem heissen Tag Trainer und Pullover. Ruhig und andächtig stumm wie Krieger vor der Schlacht stehen und sitzen sie beeinander, starren auf ihre grossen Trinkflaschen oder spielen damit. Es sind Berge von Männern. Einige haben noch etwas Gel in den Haaren, und mindestens einer hat sich blonde Strähnen in die Mähne verpasst. In ihren Gesichtern ist zwar keine Spur von Bösartigkeit oder zielgerichteter Aggression zu sehen, aber Arme haben sie so stark und dick wie andere Menschen Beine. Und mehr als einer hat buchstäblich einen Nacken wie ein Stierenkalb. In ihren Flaschen befindet sich vielleicht keine «potion magique», aber mit Obelix sind sie alle verwandt.

Hüfter und Wyberhaken
«Itz het er ne!», sagt dann jemand, und begleitet von einem Schrei «wirbelen» Beine durch die Luft. «Das isch ä schönä Hüfter gsy!» Das Schwingervolk erweist sich als ebenso gesprächig wie kommentarfreudig. Vieles geht so verdammt schnell, dass das ungeübte Auge kaum mithalten kann, und der Laie profitiert vom Kenner, der die akrobatischen Einlagen in einer verbalen Nachbereitung ein zweites Mal wie in Zeitlupe geniesst. Bis in die kleinsten, nur scheinbar unwichtigen Details hinein werden die Würfe analysiert und noch einmal vor dem inneren Auge nachgestellt und abgespielt.
Kurz vor zehn Uhr, schon mitten im zweiten Gang, erschallt ein Schrei über die sattgrünen Weiden der Freiburger Alpen bis zu den Alphütten hinauf, deren Schindeldächer gleissen und vor dem blauen Himmel silbrig leuchten. Ohne dass sich die anderen Kampfpaarungen ablenken liessen, riss ein blonder Hüne mit einem vollen, runden Sennengesicht die Arme hoch. Bei den meisten Kämpfen hält sich der Jubel der Sieger selbst sonst in Grenzen. Anstatt zu triumphieren, wird dem Unterlegenen auf die Beine geholfen und das Sägemehl vom Rücken geklopft. Der Brauch will es so. Wie sich herausstellt, hat hier aber der erst achtzehnjährige Stucki Christian die Schwingergrösse Laimbacher Adrian aus Schwyz bezwungen. Laimbacher Adrian ist Zimmermann, 23 Jahre alt, 189 Zentimeter gross, 116 Kilogramm schwer und dazu noch ein «Eidgenosse», das heisst, ein Eliteschwinger, der an dem alle drei Jahre stattfindenden «Eidgenössischen» schon einmal mit einem Lorbeerkranz gekrönt worden und deshalb zum inneren Kreis, zur absoluten Schwingerelite, zu zählen ist. Der aus dem Seeland stammende Stucki Christian wird dagegen von Kennern allgemein als überragendes Jungtalent und als die seit Jahren erwartete grosse Nachwuchshoffnung der Berner gehandelt.

Lätz und Stich
Während in einem der Ringe zwei Schwinger gerade eine Art Katz-und-Maus-Spiel treiben, indem der eine den andern an den Beinen festhält, um ihn daran zu hindern, aus dem Sägemehl hinaus zu «schnaaggen», geht Jungschwinger Stucki Christian erst mal zu dem hölzernen Trogbrunnen in der Mitte des Areals. Immer öfter und länger kühlen sich die Schwinger hier die vom Greifen heissen Hände, bespritzen sich Kopf und Nacken, denn gnadenlos brennt die Sonne vom blauen Himmel herunter.
«Un temps magnifique!», sagt eine Zuschauerin und jemand antwortet: «C’est vraiment la fête!»
Dann ein Raunen. Auf einem der Plätze hat der Schwinger Odermatt Daniel seinen Gegner Wolhauser Gilles aus Arconciel nicht nur in die Luft gehoben, er hat ihn schon dreimal mit angezogenen Beinen wie auf einem Karussell um sich kreisen lassen, als wollte er ihn schwindlig drehen, um ihn dann umso leichter mit einem überraschenden Schwung zu Boden zu bringen. Aber der Welsche aus dem Regenbogendorf wehrt sich vehement, versucht einen Fuss beim Odermatt Daniel einzuhaken, wird aber selbst gestöckelt und landet so eindeutig platt auf dem Rücken, dass Odermatt neben dem Sieg auch die Bestnote 10 davonträgt.
Landet ein Unterlegener so am Boden, dass er erst durch Nachdrücken bezwungen werden kann, gilt ein Sieg nur 9,75 Punkte.
Im ersten Ring werden dann gerade die ungezählten Möglichkeiten, ineinander verkrallt zu sein, vorgeführt. «No e Minute! Encore une minute!», sagt der Kampfrichter, aber die beiden Männer sind derart verschraubt, ihre Köpfe unsichtbar und wie für immer verschweisst, dass ihr Kampf «gestellt», also unentschieden endet, was ihnen je 8,75 Punkte bringt.
Bei ernsthafterem Bemühen, das Unentschieden durch Angreifen zu vermeiden, wären ihnen je 9 Punkte gutgeschrieben worden, denn Risiko wird belohnt und defensives Taktieren bestraft. Wehrt sich einer tapfer auch in einer scheinbar aussichtslosen Situation, kriegt er mit 8,75 Punkten die gleiche Belohnung wie einer, der den Kampf passiv auf einen gestellten Gang hinauslaufen lässt.
Noch vor der Mittagspause tauchen die ersten Ehrendamen in prächtig roten Trachten auf. Ein ebenfalls mit roten Westen bekleidetes Chörli stimmt auf der Ladefläche eines Lastwagens die ersten Lieder an. Im Halbkreis, im hohlen Kreuz, mit den Fäusten tief in den Hosensäcken, versteht sich.

Bur und Schlungg
Nach dem Mittagessen in der Festwirtschaft (Rindsgeschnetzeltes, Nüdeli und Gemüse aus der Kochkiste Fr. 16.50 oder Brot und Cervelat Fr. 3.50) wird im vierten Gang vorerst die Spreu vom Weizen getrennt. Wer nachher keine Aussichten mehr hat, in die Kränze zu kommen, scheidet aus.
Einer, der bereits drei Kämpfe verloren hat, ist der 24-jährige Zurbrugg Nicolas aus La Chaux-de-Fonds. Er hatte einen vielversprechenden Schwingerfrühling und hoffte, sich mit einer guten Leistung am Schwarzsee für die Teilnahme am «Eidgenössischen» in Luzern zu qualifizieren. Obschon er dann auch im vierten Gang unterliegt, ist er guter Dinge. «C’est le plaisir qui compte», sagt Zurbrugg Nicolas, der jeweils nur am Montag zum Training in den Schwingkeller geht, sich dann während der Woche mit etwas Jogging begnügt.
Bei den Favoriten sehe der Trainingsplan allerdings gewaltig anders aus, sagt der wegen einer Verletzung pausierende Innerschweizer Arnold Adrian, selbst achtzehnfacher Kranzschwinger. Ohne zwei Abende Technik, zwei Abende Kondition und Koordinationstraining und einer rechten Portion mentaler Vorbereitung halte sich keiner lange unter den Besten. Schwingen sei längst kein Bauernmurkssport mehr, ohne Talent und Aufwand sei nichts mehr zu holen.
Zu den talentiertesten und am besten vorbereiteten Schwingern des Landes gehört Suter Heinz aus Muotatal, einer der beiden Hauptdarsteller in Matthias von Guntens Dokumentarfilm «Die Wägsten und die Besten». Mit drei Siegen auf dem Konto zählt er zu den Favoriten für den alles entscheidenden Schlussgang.
Kühn und aufrecht, wie ein Gladiator zu allem entschlossen, geht er in den Sägemehlring. Hebt seinen Gegner auch ruckzuck an, stemmt ihn hoch an den hochgerollten Hosen, aber dann wird er schneller, als dies der Laie genau verfolgen kann, abgedreht und landet mit einem Schrei selbst auf dem Rücken. «Ah, c’est un Schlungg!», sagt jemand mitten im aufbrausenden Applaus.

Brienzer und Kreuzgriff
Der Bezwinger von Suter Heinz ist der Zimmermann Odermatt Daniel aus Buochs, der sich mit diesem Plattwurf die vierte Maximalnote holt und zum Kronfavorit des Tages aufsteigt. Von Beruf ist er Landwirt, misst 189 Zentimeter und wiegt mit seinen knapp 30 Jahren 105 Kilogramm. «Muesch mau die Oberarme luege», sagt jemand bewundernd. «Dä het de Tütschi», wird beigepflichtet.
Im Schlussgang trifft er auf den ebenfalls ungeschlagenen Schwyzer Grab Martin, seines Zeichens Spenglerpolier von Beruf, 24 Jahre alt, Vater von zwei Kindern und bei 193 Zentimeter 115 Kilogramm schwer.
Da er weniger Punkte hat, greift Grab auch sofort an. Zehn Minuten dauert der Schlussgang, aber schon nach einer Minute gehen die beiden Wägsten des Tages zum ersten Mal zu Boden. Die Sache wird ernst. Plötzlich legt sich eine gewaltige Spannung auf die idyllische Schwingerwiese am Schwarzsee. Weil er Sägemehl in den Mund bekam, verlangt Grab Martin eine Unterbrechung und geht zum Brunnen. Odermatt Daniel folgt ihm lauernd.
Zurück im Ring greifen sie abermals zusammen, wiederum greift Grab Martin an, setzt energisch zu verschiedenen Schwüngen an, Odermatt scheint endgültig in der Defensive, der Siegeswurf liegt schon in der Luft, da ist es plötzlich Grab Martin, der Hals über Kopf durch die Luft und platt ins Sägemehl fliegt, dort aber gleich aufspringt und gegen das rasch gefällte Verdikt protestiert. «Tammi Siech», flucht er noch, während Odermatt Daniel schon von zwei Kameraden auf die Schulter gehoben und im Triumph durch das Areal geführt wird. Wütend macht sich Grab Martin davon. «Es isch nid gsy, das gspürsch doch», sagt er hinter dem Speakerwagen noch zu einem Freund und verschwindet.
Wieder zum Vorschein kommt er erst bei der Siegerehrung. Gefasst, geduscht, in Jeans und im «Mutz» kniet er mit den andern Kranzträgern auf Kommando vor den Ehrendamen nieder, um gekrönt zu werden. Als Zweiter darf er dann zum Gabentempel schreiten, wo er sich aus unzähligen Schnitzereien, Stabellen, Truhen, verzierten Spiegeln und Glocken und Schellen vor einem noch immer scharf beobachtenden Publikum den materiellen Schwingerlohn des Tages aussuchen darf.

Erschienen 2003 in der Wochen-Zeitung