Aus aktuellem Anlass: Ich und Du. Wir und die Welt.
Von Marshall Macluhen, falschen Bildern und Revolutionstouristen
Von Beat Sterchi
Vor vielen Jahren verbrachte ich zwei aufregende Jahre in Tegucigalpa, der Hauptstadt der mittelamerikanischen Republik Honduras. Ich erinnere mich, wie ich zuerst monatelang unter Kulturschock stand. Die neue Realität war schlicht kaum zu bewältigen. Ich lernte zwar beflissen Spanisch, las mich ein in die Geschichte und in die aktuellen Diskussionen meines Gastlandes, schloss meinen sprachlichen Fertigkeiten entsprechende Bekanntschaften, doch war mir meine neue Umgebung noch nach Monaten derart fremd, dass mich wiederholt entmutigende Lähmungen überfielen. Die Hitze und damit eingehende gesundheitliche Störungen machten mein wirkliches, nicht nur körperliches Ankommen in dieser Stadt noch schwieriger.
Ich hatte ein bescheidenes Teilzeitpensum als Englischlehrer zu absolvieren, daneben aber die ganze übrige Zeit für mich. Dennoch unternahm ich keine Reisen, nicht einmal Ausflüge in die Vorstädte oder in die malerischen Dörfer der Umgebung. Ich war kaum fähig, die unzähligen Sinneseindrücke, die guten und die elenden, denen ich auf meinen Arbeitswegen begegnete, zu ordnen und zu verarbeiten. Meine Umgebung bestand nur aus Ungereimtheiten, aus Menschen, deren Situation ich nicht nachvollziehen konnte, aus Haltungen, die ich nicht verstand. Unablässig wurde ich mit neuen sozialen Problemen und neuen Fragen konfrontiert. So gab es kaum einen Gang ausser Haus, der nicht auf seine Art zur Entdeckungsreise, sogar zur innerurbanen Weltreise durch mir fremde Kulturen wurde. Es dauerte fast ein Jahr, ehe ich das Bedürfnis verspürte, mich mit einem Ausflug an die Küste oder in eines der benachbarten Länder, weiteren, neuen Eindrücken und Fragen auszusetzen.
Es ist vor diesem Hintergrund, dass ich der neuzeitlichen Berichterstattung wie wir sie heute kennen, zu misstrauen begann. Dieses Bewusstsein um die komplexe Eigenständigkeit fremder Kulturen, mögen sie nach unseren Statistiken noch so unbedeutend sein, erfüllt mich besonders am Fernsehen bei den gängigen zweiminütigen Info-Häppchen regelmässig mit Unverständnis und Abscheu. Was geht im Kopf der Moderatorin von Sendungen wie 10 vor 10 von SFR zum Beispiel vor, wenn sie in drei Minuten von drei Katastrophen auf drei Kontinenten berichten muss? Vermutlich nichts. Was sie aber vermittelt, ist die vermeintliche Durchschaubarkeit des Fremden. Sie vermittelt das falsche Gefühl, mit einigen scheinbar authentischen Bildern und ein paar Worten Text, liesse sich die Welt vom Sofa aus erklären und verstehen.
Auch den sogenannten Qualitätsmedien begegne ich diesbezüglich seit meinem eigenen Aufenthalt in einem fernen, mir kulturell fremden Land mit Skepsis. Sind die gesellschaftlichen Konflikte und die entsprechenden politischen Entwicklungen gerade in Lateinamerika derart durchsichtig, dass es Sinn macht, aus Mexiko Korrespondentenberichte über Brasilien, aus Argentinien solche über Peru und aus Chile solche über Kolumbien zu liefern. Oder anders gefragt: Wie hoch ist ein Bericht des Time-Life-Europakorrespondenten mit Sitz in London über innerschweizerische gesellschaftliche Veränderungen einzustufen?
Es ist vielleicht einer der grössten Trugschlüsse unserer Zeit, dass wir Marshall Macluhen mittlerweile 50 jährige These vom global village vom globalen Dorf, falsch verstehen. Während er die realitätsverändernde Funktion des Fernsehens frühzeitig erkannte, verwechseln wir die neue Struktur mit einem Resultat und fühlen uns plötzlich auf der ganzen Welt zuhause, und zwar mit einer selbstherrlichen Überheblichkeit, die sogar die Arroganz der Kolonialisten des letzten Jahrhunderts übertrifft. Als Touristen machen wir ganze Kontinente zu unseren Spielwiesen und gerade die geschundensten Länder zu unserem angeblichen Paradies. In einigen Fällen, wenn sich die bunten Bilder-Häppchen am Fernsehen besonders unter südlich blauen Himmeln mit schillernden Helden und ansprechender Begleitmusik romantisieren lassen, besinnen wir uns auch noch auf unser schlechtes Wohlstandsgewissen und werden ausgerüstet mit ein paar spärlichen Minuten Fernsehtext im Kopf, zu jettenden Revolutionstouristen, sei es in Asien, Afrika oder wie eben jetzt gerade wieder in Mexiko. Als ob nicht jede Gesellschaft mindestens den Respekt und die Freiheit verdiente, sich selbst umbauen zu dürfen, ohne zur Projektionsfläche unterforderter Wohlstandsmenschen zu verkommen.
Amnesty International Standpunkt
18. Mai 1998
Und kein Bitz überholt.