CH 6491 Realp:
Licht im Bunker
Eine Reportage von Beat Sterchi
Erschienen im März 2004 im Berliner Tagesspiegel nach der Abstimmung über den Unobeitritt der Schweiz.
Wenn man nach Realp fährt, dann fährt man in die Berge. Über Rampen und Kehrschleifen, durch Tunnels und Lawinenschutzgallerien führt die Strasse steil durch die Schöllenenschlucht hinauf mitten in die Herzkammer der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Über den senkrecht aufsteigenden Felswänden sind keine Gipfel zu sehen. Nur ein schmales Stück Himmel. Hier wurde einst mit einer kühn über den Abgrund gespannten Steinbrücke die erste Nord-Süd-Verbindung über den Gotthardpass eröffnet. Als derart gottesverachtend wurde das Unterfangen betrachtet, diese wilde Schlucht begehbar zu machen, dass man die Brücke Teufelsbrücke nannte. Die Menschen wagten sich der Sage nach auch erst hinüber, nachdem ein Ziegenbock vorausgegangen war.
Die Schweiz und die Uno
Noch weiter oben liegt Realp auf 1538 Meter ganz hinten im Urserental. Einwohnermässig ist das 170-Seelen-Dorf die kleinste Gemeinde im Kanton Uri. Stimmberechtigt sind 139 Frauen und Männer. Sie haben bei der Abstimmung vom vorletzten Wochenende zu 73% für den Beitritt zur Uno gestimmt und lagen damit weit über dem Schweizer Durchschnitt von 55% Jastimmen. Der Kanton Uri selbst, hatte die Vorlage mit einem Neinstimmenanteil von 59,7% verworfen. „Warum sie so abgestimmt hätten?“ Sie wisse es auch nicht, sagt die Frau am Schalter des kleinen Bahnhofes in Realp lachend. Sie kenne auch niemanden, der Nein gestimmt habe. „Doch, ich habe nein gestimmt“, sagt darauf ein Arbeitskollege von ihr, der gerade die gläserne Schalterwand putzt. Er sei aber kein Realper, obschon er hier wohne.
Gleich neben dem Bahnhof befindet sich der Dorfladen. Die Regale sind voll, es gibt alles, was man braucht. Auch einen Ständer mit Postkarten. Diese zeigen das Dorf Realp im offenen Hochtal. Ein paar Häuser nur, eine weisse Kirche, eine Kapelle, ein schönes kleines Hotel Post im alpinen Jugendstil. Auf andern Karten viel blauer Himmel und weisse Berge, ein Skilift, Langläufer in der Loipe, zwei oder drei, offensichtlich als Sehenswürdigkeit eingestufte braungebrannte Holzhäuser. Dann die roten Züge der Furka-Oberalpbahn in der wilden Schneelandschaft.
Geführt wird das „Dorf Lädeli“ von Frau Gaby Simmen. Für sie ist der Fall sonnenklar: „Wir hier in diesem Dorf müssen weltoffen sein, denn ohne andere können wir nicht überleben“.
Keine Kopfnicker
Genüsslich breitet Alfred Simmen, Gemeinderatsmitglied und Wirt im Hotel des Alpes eine Zeitung aus: „Die Schweiz und Realp sorgen für Schlagzeilen“! Auffällig sei es in der Tat.
Vom urwüchsigen, traditionell konservativen Bergbauerntum ist in Realp ausser einem Misthaufen und einem an einen Stall gelehnten Hornschlitten aber kaum mehr etwas zu sehen. Vielmehr ist man vom Tourismus abhängig. Die Sommer und Winter durch den Furkatunnel ins Wallis verkehrende Bahn stellt ein Dutzend Arbeitsplätze, ungefähr ebensoviele gibt es in der Hotellerie. Die zum Tourismus gehörende Weltoffenheit, hinderte jedoch die meisten andern Ferienorte der Schweiz nicht daran, massiv gegen einen Unobeitritt zu votieren.
Alfred Simmen ist ein korpulenter Mann mit einem markanten Schädel. In seinem melodiösen Urnerdialekt verwahrt er sich ruhig und klar gegen die Vermutung, die Realper seien regierungstreue Kopfnicker. „Im Gegenteil“, sagt er, „wir denken einfach ein bisschen weiter“. „Wir“, sagt er ganz selbstverständlich und meint damit wirklich das ganze Dorf, die ganze Gemeinde. „Wir wissen, dass man nur etwas bewegen kann, wenn man miteinander spricht und gemeinsam Lösungen sucht. Sei es nun auf kommunaler oder internationaler Ebene“, sagt er.
Gemeinwesen und Gemeinsinn
Zu bewegen gibt es viel, in einem bevölkerungsarmen, an der Abwanderung leidenden Bergdorf. Ehrenamtlich kümmert man sich um Wasser und Wege, der teilzeitlich arbeitende Gemeindeschreiber ist auch der Civilstandsbeamte. Sowohl die Männer als auch die Frauen sind bei der Feuerwehr engagiert. Weil die finanziellen Mittel äusserst knapp sind, wurde das alte Gemeindehaus sogar in Fronarbeit zum neuen Schulhaus umgebaut. Kaum jemand, der nicht eingespannt werden muss in Ämter und Kommissionen.
Die auffallende Aufgeschlossenheit hänge auch mit den beschränkten Einkommensmöglichkeiten zusammen, meint Alfred Simmen. Viele Realper arbeiteten auswärts, die Jugend sei irgendwo draussen in der Welt. Das bringe frischen Wind und erweitere allgemein den Horizont.
Weil das schon immer so war, hat man in Realp auch schon bei der letzten Unoabstimmung, die schweizweit abgelehnt worden war, Ja gestimmt. Und 1972 führte Realp als erste Gemeinde im Kanton Uri das Frauenstimmrecht ein.
In Realp wissen alle, was Solidarität bedeutet. Noch ist der Zugang zum Dorf nicht absolut wintersicher. Bei grossem Schneefall ist man oft tagelang durch Lawinenniedergänge vom Rest der Welt abgeschnitten. Bei diesen extremen Verhältnissen, vergesse man die kleinen Ungereimtheiten, die es in jeder Gemeinde gebe, sagt Alfred Simmen weiter. „Ein Hauch von miteinander leben und leiden, kehrt dann ein. Das ist es wohl auch, was die Feriengäste jeweils als abenteuerlich empfinden, während es für uns normal ist und wir auch darauf vorbereitet sind“.
Keine Parteipolitik
„Wir sind eine katholische Gemeinde und bei uns ist es üblich, dass wir am Sonntag in die Kirche gehen. Danach trifft man sich auch zu einem Apperitiv und da wird dann kräftig politisiert“, sagt Roland Simmen, der Gemeindepräsident von Realp. Was dabei herauskomme, das werde in die Familien hineingetragen und dort weitergegeben. Von Druck auf die Stimmbürger will er aber nichts wissen. „Wir machen auch keine Parteipolitik“, sagt er weiter, denn der eigentliche Chef sei so oder so die Natur, das Wetter und vor allem der Schnee, mit dem sie sieben Monate im Jahr leben müssten.
Roland Simmen arbeitet als Werkstattchef bei der Festungswache. Er trägt den grünen Uniformpullover der Armee. Während er eine Cola trinkt, spricht er mit der zwar vorsichtigen, aber auch klaren und direkten Art des Berglers über die Freuden und Leiden eines Gemeindepräsidenten. Nichts unter der Sonne, womit er sich nicht schon befasst hätte oder befassen musste. „Man weiss halt von allen etwas“, sagte er schmunzelnd und fügt stolz hinzu, dass man in Realp aber auch auf alle zählen kann. „Wenn er gebraucht wird, ist der Realper da für die andern“. Das habe er schon wiederholt erlebt.
Befestigte Innerschweiz
Roland Simmen ist Festungswächter und gleichzeitig Präsident eines Dorfes, das exemplarisch Öffnung und Offenheit markiert. Und zwar mitten in jener uneinnehmbaren Alpenfestung, als die sich die Schweiz lange verstand. Das Gotthardmassiv und besonders das in sich geschlossene Urserental spielten eine zentrale Rolle in der unter dem Namen „Reduit“ bekannten militärischen Rückzugsstrategie. Nach 1939 hatte die Schweiz diesen Militärplan entwickelt und so weit in den kalten Krieg hinein beibehalten, dass ihn grosse Teile der Bevölkerung untilgbar verinnerlicht haben. Die Sympathie für den Populisten Christoph Blocher und seine rechtsbürgerliche Schweizerische Volkspartei, geht noch heute auf diese durch die Reduitidee geförderte Sonderfall- und Abkapselungsmentalität zurück.
Geplant war, bei einem Angriff aus Nazi-Deutschland das Mittelland mitsamt allen grossen Städten und der ganzen Industrie preiszugeben. Die Armee sollte sämtliche Brücken und Tunnel sprengen, um sich dann in den Bunkern der Hochtäler rund um den Gotthard zu verschanzen. Ausser sich selbst, hätte die Armee damit auch die legendäre eindgenössische Freiheit und Unabhängigkeit zwar nicht für die Bürger und Bürgerinnen, aber wenigstens als hehrne Werte geschützt und hochgehalten.
Das Ohr in der Welt
Mindestens ein Realper ist überzeugt, dass man bei der Unoabstimmung „geweibelt“ habe. Er sei überzeugt, dass die Gemeindeoberen die Ja-Parole ausgegeben hätten, sagt der rüstige Rentner, der seinen Namen nicht erwähnt haben möchte. Zu ihm sei zwar niemand gekommen und er habe auch so Ja gestimmt. „Ich schaue das richtig an“, sagt er, „wenn nämlich ein Krieg ausbricht, ist es wichtig, dass man mit anderen verbündet ist. Was will die Schweiz allein machen, wenn einer auf uns loskommt?“ Für ihn besteht kein Zweifel, dass auch Hitler, allen Festungen und Bunkern des Reduits zum Trotz, die Schweiz hätte einnehmen können. „Nein, nicht durch die Schöllenen hoch, wären sie gekommen. Oben durch! Wie die Amerikaner!“ Noch erinnert er sich genau, wie deren Brummer über Realp Richtung Mailand geflogen seien. Erst habe man die Bomber gesehen und später habe es „getätscht“, es sei nämlich sehr „ringhörig“, das heisst hellhörig, hier bei ihnen in den Bergen.
Gut zu hören ist in dem stillen Realp auch die Kirchenglocke. Sie schlägt die Stunden langsam. Fast bedächtig verklingen die Schläge über die schneebedeckten
Lawinenhänge hinauf in den Abend hinein. In der Gaststube im schmucken Hotel Post gleich neben der Kirche, knarrt der Boden unter den Füssen vor Gemütlichkeit. „Nein, sie sei nicht abstimmen gegangen“, sagt hier die Wirtin, die auf einem für ein grosses Fondueessen gedeckten Tisch gerade die Gabeln verteilt. Und auf die Frage, wie sie sich das auffallend positive Resultat erkäre, meint sie gelassen: „Realp ist so“.