Georges Seurat, Der Zirkus
Georges Seurat, Der Zirkus

„Hab ich dir eigentlich je erzählt, dass ich als Junge auch immer zum Zirkus wollte?“ fragte ich Susanne, als wir nach der Galavorstellung des Zirkus Knie eine Kneipe betraten und uns zwischen die Gäste an die Theke schoben, um endlich jenes kühle Bier zu bestellen, von dem wir geredet hatten, seit uns beim Hochseilakt ohne Netz des fliegenden Mexikaners Amerigo Suarez beiden der Mund ausgetrocknet war.
Susanne lachte, guckte mit ihren veilchenblauen Augen, für die ich sie besonders bewunderte, in die Runde und sagte:
„Na ja, Amerigo Suarez bist du nicht“.
„Aber ziemlich wichtig war das schon“, sagte ich. „Auf den Zirkus freute ich mich immer stärker als auf Weihnachten.

Dem Zirkus Knie fieberte ich richtiggehend entgegen. Ich konnte auch ein bisschen jonglieren. Und den Kopfstand habe ich geübt, bis mir kotzübel war. Schon wenn die Zelte aufgerichtet wurden, furh ich auf dem Fahrrad hin und guckte zu.“
„Ja, das Zelt, das die Welt bedeutet“, mischte sich da ein Mann an der Theke ein. Er sprach laut, verlangte Aufmerksamkeit, wandte uns aber seinen grauen Rücken zu und fuhr auch fort, ohne sich umzudrehen. „Wären Sie doch gegangen, ja, hätten Sie doch den Mut gehabt! Wären Sie doch zum Zirkus gegangen. Sie hätten da hingepasst. Ihre Stimme klingt schwärmerisch genug. Aber ich, ich liebe ihn auch, den Zirkus! Ah, wie wird mir wohl, wenn die Leute im Rund des Zeltes zusammenströmen, wenn sich die ausgelegten Holzplanken unter ihren Schritten biegen, wenn die Kinder erwartungsvoll antänzeln, wenn Bier und Eis von heiseren Ausrufern feilgeboten wird, die noch Minuten zuvor die Pferde striegelten und die Krokodile fütterten. Und dann das Einstimmen der Instrumente; noch hört man draussen die Welt mit ihrem Strassenlärm und noch eilen sie herbei, die Leute in Bauernstiefeln und in Stöckelschuhen. Die nach Sägemehl riechende Luft vibriert, Reihe um Reihe schliesst sich im Kreis; an die Metallmasten schlagen die Strickleitern: Die Beleuchter klettern in die Kuppel und plötzlich schmettert die Kapelle los. Da! Wie ein Schuss der Peitschenknall des Direktors. Wiehernd und schnaubend galoppieren die Vollbluthengste an! Und weg ist die Welt, kein Strassenlärm mehr, nur das Trommeln der Hufe. Ah, hören Sie die Leichtfüssigkeit dieser edlen Pferde?“ Als würde er eben selbst angestrengt den Tieren lauschen, unterbrach sich der Mann, der ohne sich uns zuzuwenden ganz eindeutig zu uns gesprochen hatte. Wie ein Dirigent hob er jetzt die Arme, schien auf einmal grösser, mächtiger zu werden, und wieder redete er in die andere Richtung, doch unmissverständlich zu uns.
„Und hören Sie doch bloss die Clowns! Hören Sie ihr Kichern und Keifen und Klatschen! Hören Sie das Prusten und Platzen! Hören sie Emilios Spieldosensolo? Und dann der Elefantenwalzer! Jetzt kommen sie! Die Dicken plumpsen daher, reiben sich gegenseitig an der spröden Haut. Ah, wie die nach Weitweg riechen! Und jetzt die Rufe der Sprungbrettakrobaten, und jetzt Totenstille: Das Zelt hält den Atem an. Da! Der erleichterte Schrei des Trapezkünstlers, ein Tusch und schon braust nach dem Nervenkitzel der Applaus wie eine donnernde Büffelherde durchs Zelt. Und Amerigo Suarez! Ich kenne ihn. Auch ich habe ihn quer durch die Kuppel rauschen gehört. Nein, da lacht keiner mehr, keiner ruft nach Eis, keiner nach Bier, da gibt es nur noch ihn, den fliegenden Menschen ohne Angst. Nein, das ist keiner dieser neuartigen Taschenkünstler, keiner dieser Kellerbühnenopportunisten, die sich mit ihren einfältig zusammengepressten Kleintieren in jeder Manege breitzumachen versuchen. Sie verstehen schon, Zirkus darf man nicht mit den Fussgängerzonen der Grossstädte verwechseln.“
Bei den letzten Worten hatte sich der Mann uns zugewandt. In einem bleichen Gesicht sah ich zwei stumpfe Augen. „Mein Gott! Sie sind ja….“ Ich verstummte.
„Ja, ich bin blind“, sagte der Mann. Und während er einen weissen Stock zusammensteckte, um sich auf den Weg zu machen: „ Wissen Sie, Zirkus, das ist eine Show für Blinde. Wenn man da noch Augen hätte, das könnte man doch gar nicht ertragen. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen“, sagte benommen auch ich und bemerkte wie Susanne, als der Blinde beim Eingang der Kneipe vor dem dort hängenden Zirkusplakat kurz innehielt, ihre schönen grossen blauen Augen schloss.

Erschienen:
Samstag 3. Mai 1986 in der Stuttgarter Zeitung

August Macke, Seiltaenzer
August Macke, Seiltaenzer