„Der Tunnel“ von Friedrich Dürrenmatt gilt unter Fachleuten als eine der besten Kurzgeschichten überhaupt. Auch innerhalb von dessen Werk wird ihr ein Spitzenplatz zugeordnet. „Der Tunnel“ erschien schon 1952 in dem Buch „Die Stadt“. Damals ging der Schluss noch so: „Gott liess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu“. Später soll Dürrenmatt diesen Satz gestrichen haben, aber der Zug bleibt ein Bild für die Menschheit auf ihrer Fahrt zur Hölle.
Lebte Dürrenmatt heute als literarischer Realist und nicht als mataphysisch interessierter Parabelspezialist, könnte er den gleichen literarischen Effekt auch durch die Beschreibung des Inneren des Zuges erreichen. Wer heute ein paar Wagen eines Zuges auf der gleichen Strecke von Bern nach Zürich durchschreitet, kann sich leicht in eine Höllenfahrt versetzt fühlen. Besonders wenn er dies spätabends an einem Wochenende tut. Der neue Intercity lässt den Tunnel gleich nach Burgdorf, der bei Dürrenmatt zum bodenlosen Abgrund wird, zwar links liegen, aber er rast auf einer schnurgeraden Bahn wie über eine Abschussrampe zweimal so schnell durch die Nacht. Geraucht werden keine Zigarren mehr und anstattt Watte, wie der junge übergewichtige Mann bei Dürrenmatt, haben die Passagiere zum Selbstschutz die vielseitigsten technischen Geräte in die Ohren gesteckt oder über die Ohren gestülpt. Aus mehreren klingt entschieden infernalisches Zischen, als machte sich der Teufel schon an die Arbeit. Und die metaphysische Angst des jungen Mannes, der dem jungen Dürrenmatt so ähnelt, ist einer erbärmlichen Erschöpfung, einer diffusen, aber offensichtlichen allgemeinen Überforderung gewichen. Mehr als an demjenigen der Welt, wird hier am eigenen Gewicht gelitten. Vereinzelt liegen die meisten, ob Mann oder Frau, haltlos und schief in ihren Abteilen, als wären sie die wenigen Überlebenden eines endgültig verlorenen Krieges. Münder hängen schief, brabeln in Handys, seufzen, stöhnen, leiden oder schnarchen, als wäre der Zug ein Schlafsaal. Allen steht ins Gesicht geschrieben, dass es in oder durch die Hölle geht. In ihrer Isolation und Angst markieren sie ihr Territorium, belegen die leeren Sitze ringsum mit Taschen und Mänteln. Es herrscht ein derart gewaltiger Mangel an Freude, dass man sich dem Tode nahe fühlt.
So muss er sein. So starr, so mürrisch und so hässlich.
Alle sind in teure oder mindestens modische Kleider gepackt und suchen vergebens nach etwas Sinn und Halt in den massenweise herumliegenden gross und bunt bedruckten Werbeträgern, die sie Gratiszeitungen nennen. Andere betrinken sich in gröhlenden Gruppen, beleidigen und provozieren, als gingen gleich endgültig überall die Lichter aus. Aber den Herrn rufen sie sicher nicht an.
Auch ihr Treiben ist ein Greuel, da ist keiner der Gutes tut, auch nicht einer, könnte es theologisch gesagt, heute zum Abschluss der Geschichte heissen.
Säemann 2007