Gehalten im Rahmen der Ringvorlesung: Kontraste in der Medizin.
Zur Dialektik gesundheitlicher Prozesse. Wintersemester 2006/2007 an der Universität Bern

Kontraste in der Medizin? Zur Dialektik gesundheitlicher Prozesse? In welcher Medizin? Wo sind da gesundheitliche Prozesse? Gibt es da irgendwo gesundheitliche Prozesse, wenn sich überall alle bekriegen und ein ganzer Planet vor die Hunde geht? Was ist denn das schon für eine Medizin, die ein derart punktuelles Interesse an Krankheit hat, dass sie sich in einem gnadenlosen Spezialisierungswahn jedem grösseren Zusammenhang verweigert?

 

ParacelsusParacelsus Paratext Paradox. Widersprüche in der Medizin.

Anders als in den vorangegangen Vorträge kann man in diesem Beitrag kaum etwas Neues erfahren. Ich als Autor vertrete aber die Haltung, dass man sich gewisse Dinge nicht oft genug ins Bewusstsein rufen kann, denn längst nicht alles, was man weiss, macht uns so heiss, wie es eigentlich sollte. In der Computersprache gesprochen bedeutet das: Es genügt nicht, Dokumente abzuspeichern. Man muss sie auch wieder finden können und man muss sie öffnen, um ihren Inhalt wirklich in Betracht zu ziehen. Es gibt nun mal Sachverhalte, die kann man sich nicht oft genug vor Augen führen.

Das vom Schwanz her aufgezäumte Pferd

Als ich begann, meine eigenen Dokumente zum Thema Kontraste in der Medizin zu sichten, als ich also begann nachzudenken, was ich hier eventuell vortragen könnte, brach eine Woge der Ernüchterung über mich herein. Kaum hatte ich einen kleinen Überblick über meinen im Bezug auf das vorgegebene Thema ganz besonders desolaten Wissensstand gewonnen, war ich erschüttert ob der Dürftigkeit meiner in meinem Kopf vorhandenen, nun geöffneten Dokumente. Um Gottes Willen! dachte ich. Ich weiss ja gar nichts! Was habe ich mir hier nur eingebrockt!
Schon dieser Titel! Paracelsus Paratext Paradox! Widersprüche in der Medizin! Wie komme ich bloss dazu, mir so etwas aufzuhalsen? Es war klar. Ich hatte das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Das kann nie gut gehen.
Schuld waren aber auch die Umstände. Letzten Sommer, als mich André Thurneysen fragte, ob ich Lust hätte, in dieser Reihe einen Vortrag zu halten, war ich gerade damit beschäftigt gewesen, aus einem Kriminalroman, in welchem es um Organhandel ging, ein Theaterstück zu machen. Ich hatte mich also mit Medizin, besonders mit der Thematik der Organtransplantation zu befassen. Ich hatte mich auch zum ersten Mal etwas ausführlicher mit dem Begriff Hirntod beschäftigt und war wohl allzu voreilig überzeugt gewesen, dass ich schon allein darüber etwas zu sagen haben würde.
Genau betrachtet ist dieser „Hirntod“ ja ein ganz verrücktes Ding. Wie da ein neues Wort erfunden worden ist, um unser Verständnis vom Tod sprachlich der technischen Entwicklung der Medizin anzupassen! Da gibt es doch Widersprüche, die sind so riesig, dass sie kaum in einem einzigen Vortrag abgehandelt werden könnten! Und ist denn nicht das Leben selbst mit seinem unausweichlichen Tod etwas anderes als eine einzige gigantische Ansammlung von unauflösbaren Widersprüchen?

Titelschummelei

Aber dann: Paracelsus Paratext Paradox! Es war zum Verzweifeln. Natürlich hatte ich geschummelt. Noch bevor ich genau wusste, wovon ich hier sprechen wollte, musste ich mich für einen neugierig machenden Titel entscheiden und ich wollte unbedingt etwas wählen, das eher literarisch als medizinisch klingt. Paradox klingt ja auch besser als widersprüchlich und sollte mir gar nichts einfallen, dachte ich, erzähle ich halt von jenem jüdischen Sprichwort, das zum allerwichtigsten Teil meines persönlichen Zitatenschatzes gehört und das so umwerfend paradox, so widerwidersprüchlich ist, dass es schmerzt, wenn man es zum ersten Mal hört. Allein mit diesem Sprichwort müsste die Sache ja zu gewinnen sein, hatte ich damals gedacht. Und zu Paradox passte Paracelsus nun mal sehr gut, war er doch selbst der Inbegriff eines paradoxen Menschen. Von Paracelsus hatte ich nämlich ebenso vage wie idealisierte Vorstellungen im Kopf, die etwas mit dem zu tun haben könnten, was ich möglicherweise zu sagen hätte, wenn ich wüsste wie. Auch dachte ich, schon nur den ganzen Namen von Paracelsus erwähnen zu dürfen, wäre doch einen halben Vortrag wert: Theophrastus Bombastus Aureolus Philippus von Hohenheim, genannt Paracelsus! Wenn man sich das auf der Zunge zergehen lässt: Theophrastus Bombastus Aureolus Philippus von Hohenheim, genannt Paracelsus. Wenn das nicht schon mal etwas ist! Ich sah aber bald, dass sich nicht mal Paracelsus einfach so vor jeden Karren spannen lässt. Und zu allem Überfluss musste ich auch noch erkennen, dass sogar das eher als phonetisches Füllwort gewählte „Paratext“ nicht einfach so zu bewältigen sein würde. Was heisst schon Paratext? Eigentlich heisst es textliches Beiwerk, also mein Beiwerk zu den anderen Vorträgen und doch bedeutet Paratext irgendwie auch alles und nichts und wie sollte ich das nun alles unter einen Hut bringen?

Die aufschreiende Stimme

Gleichzeitig war da aber eine Stimme in mir zu hören, die unabhängig von meinem dürftigen medizinischen Wissen aufschreien wollte: Was? Kontraste in der Medizin? Zur Dialektik gesundheitlicher Prozesse? In welcher Medizin? Wo sind da gesundheitliche Prozesse? Gibt es da irgendwo gesundheitliche Prozesse, wenn sich überall alle bekriegen und ein ganzer Planet vor die Hunde geht? Was ist denn das schon für eine Medizin, die ein derart punktuelles Interesse an Krankheit hat, dass sie sich in einem gnadenlosen Spezialisierungswahn jedem grösseren Zusammenhang verweigert? Und die Welt sieht nun mal sehr, sehr schlecht aus. Hier bei uns in unseren nach wie vor privilegierten Regionen zeigt sie nach einer Schnelldiagnose vielleicht bloss dunkle Ringe um die Augen. Erwiesenermassen leidet sie an unschönen Ausscheidungen, verströmt einen ziemlich unangenehmen Körpergeruch, aber sonst scheinen sich ihre Leiden wenigstens hier bei uns auf Äusserlichkeiten wie Haarausfall, hässlich picklige, schorfige Haut und eine Tendenz zu beschleunigten Alterungsprozessen zu beschränken. Aber auch bei uns muss jede Langzeitdiagnose als höchst dramatisch eingestuft werden. Unsere Welt befindet sich nämlich längst im Komma! Vielerorts sogar in einem irreversiblen Komma! Ein Pulverfass. Vor dem totalen Absturz! Was heute noch heil ist an Gliedern, kann schon morgen brechen! Was vielleicht heute noch blüht, ist schon morgen Wüste! Was heute noch atmet, ist morgen schon tot!
Aber! will diese Stimme in mir schreien, anstatt dass wir angemessen darauf reagieren würden, beschleunigen wir unser Leben, gehen überall aufs Gas, bauen Türme in den Himmel, tanzen um das goldene Kalb, huldigen hemmungslos den Göttern der Unterhaltung und der Ablenkung und lassen uns blenden von Glitter und Glanz, von Glamour und Saus und Braus und blind wie wir sind verschliessen wir uns dem offensichtlich ziemlich terminalen Krankheitsbild unseres Planeten.
Diese Stimme in mir meinte aber nicht einfach die so genannte Umwelt. Nein, dieses Wort Umwelt wird sich schon sehr bald als das Unwort des letzten Jahrhunderts entpuppen, soll es uns doch vorgaukeln, eine, von uns Menschen trennbare Einheit, etwas um uns herum sei bedroht und in ihrem Gleichgewicht gefährdet. Dabei ist es die Welt an sich, die krank ist und die kaputt geht und diese Welt ist unsere Welt. Es ist die Welt in der wir Leben und es ist weiss Gott die einzige die wir haben. Eine Umwelt gibt es gar nicht.
Diese Stimme in mir wollte auch hinausschreien, ob diese Medizin denn ihren Namen verdiene, die sich nicht erschüttern lasse von Seuchen, Hungerkatastrophen und dem allgemeinen Irrsinn dieser Welt? Was das für eine Medizin sei, die sich für die Reichen und privilegierten Regionen der Welt auch noch die besten jungen Talente und das am besten ausgebildete medizinische Personal aus den Entwicklungsländern unter den Nagel reisst? Was ist das für eine Medizin, die sich bei aller Unterversorgung in grossen Teilen der Welt zunehmend in den grossen Städten konzentriert, weil ihr immer weiter auf die Spitze getriebenes Spezialistentum nur dort funktionieren kann?
Was ist das auch für eine Medizin, die nicht verhindern kann, dass längst überwunden geglaubte Krankheiten wie die Tuberkulose vielerorts wieder aufkeimen, während sich Heerscharen von medizinischen Fachleuten der ästhetischen Chirurgie widmen? In New York lässt man sich angeblich massenweise schon die Füsse mit einer Zehenoperation verschönern, während in kaum zwei Flugstunden entfernten Gebieten nicht mal die medizinische Grundversorgung gewährleistet ist. Was ist das für eine Medizin, wollte diese Stimme in mir aufschreien, die das Elend nicht sieht, obschon es sichtbarer ist als je und die Mittel dagegen in einem Ausmass vorhanden wären, das man sich noch vor kurzem kaum hätte zu erträumen gewagt? Und dann das Gerede von der Ges und heit! Was ist überhaupt gesund? Ist es etwa gesund, dass unsere Spitzenmediziner und Spitzenmedizinerinnen so viel arbeiten? Und warum nennen wir unsere medizinischen Sachzwangsverwalter Gesundheitsdirektoren und Gesundheitsdirektorinnen, ihre Zusammenkunft sogar die Gesundheitsdirektorenkonferenz? In Anbetracht des Zustandes der Welt darf dies doch sicher als widersprüchlich, als paradox wenn icht als zynisches Newspeak bezeichnet werden! Und was ist das für eine Medizin, die mithilft eine Art Ges und heit zu propagieren, die sich als Selbst- und Lebenszweck versteht? Leben um rein körperlich, man könnte auch sagen äusserlich, gesund zu sein! Was in der Konsequenz die Abschaffung der Lebensphasen und schliesslich auch die Abschaffung des Todes bedeutet! Erst galt die Jugend noch als die einzige Krankheit, die sich von selber kuriert und schon ist die ewige Jugend der Anspruch, das Ziel, der Lebensinhalt schlechthin! Jung und schön in schwereloser Wellness rund um die Uhr auf immer und ewig. Was ist das für eine Medizin, die solche Illusionen schürt und verheisst! So wie es kein Richtiges im Falschen gibt, kann es keine Gesundheit in der Krankheit geben.
Auch von verantwortungslosen Zauberlehrlingen, von Stammzellenforschung, von Profitgier und Gentechnologie, von Sackgassen und von Überheblichkeit und von vielem mehr wollte die Stimme in mir schreien, doch sie klang zunehmend so verstört, überfordert und verloren, dass mir schwarz wurde vor den Augen.

Bei Lichte betrachtet

Sie sehen, Laotse hat schon Recht: Es ist der Unwissende der redet, der Wissende schweigt. Mir war auch klar, dass eine solch ungezügelte Stimme in dieser Vortragsreihe hier nichts zu suchen hat. Es geht ja nicht an, einfach selbstgerecht mit ein bisschen Betroffenheit zu barambarisieren. Einfach so drauflos zu barambarisieren bringt nichts. Immerhin besitzen wir eines der besten Gesundheitssysteme überhaupt. Das weiss jeder, der ein bisschen in der Welt herumgekommen ist oder jeder, der es wirklich wissen will. Aber dennoch, dachte ich, bei Lichte betrachtet ist das ja auch nicht alles nur falsch und blöd, was die Stimme da in mir barambarisiert hat.
Ich bedachte auch, dass man hier einwenden könnte, es sei den Menschen ja allgemein noch nie so gut gegangen wie heute. Ja, würde ich darauf antworten, stimmt, aber noch nie ist es so vielen Menschen in Relation zu den vorhandenen Möglichkeiten so schlecht gegangen.
Ich zeichnete also als erstes einen Kreis und setzte einen kleineren Kreis, den ich schwarz ausmalte in dessen Mitte und schrieb dazu:
Es gibt kein Gesundes im Kranken.
Und gleich darunter schrieb ich: Alles wird globalisiert, warum eigentlich nicht die Medizin? Arbeitsthese: Das Verantwortungsbewusstsein entwickelt sich unabhängig vom Medizinischen Fortschritt.

Braindrain

Ich begann auch gleich, nach einem Artikel zu suchen, den ich ausgeschnitten und zur Seite gelegt hatte. Es war ein Artikel über den Weltbevölkerungsbericht der UNO von letztem Jahr. Der Artikel hatte mich besonders berührt, weil er auf den medizinischen braindrain in den Entwicklungsländern verwies. Schon vor 30 Jahren, als ich zwei Jahre lang im mittelamerikanischen Honduras gelebt hatte, war dort oft beklagt worden, dass die allerbesten Medizinstudenten schon gleich nach ihren Prüfungen vor allem von amerikanischen aber auch von europäischen Universitäten Stipendien angeboten bekamen, die so attraktiv waren und so gut dotiert, dass sie sich kaum jemand entgehen lassen konnte oder wollte. Die bekannte Konsequenz war, dass diese jungen Ärzte und Ärztinnen ihren Herkunftsländern, die sie dringendstens benötigt hätten verloren gingen.
Als ich nun den besagten Artikel wieder gefunden hatte, beschaffte ich mir auch gleich noch den Uno-Bericht, wovon er handelte. Daraus geht beispielsweise hervor, dass derzeit in der nordenglischen Stadt Manchester mehr malawische Ärzte praktizieren als in ganz Malawi. Oder dass von den 600 Ärzten, die seit der Unabhängigkeit 1964 in Sambia ausgebildet wurden, derzeit noch 50 in ihrem Heimatland praktizieren. Aber auch ausgebildetes Pflegepersonal aus Afrika beanspruchen die reichen Länder heute in einem Ausmass, dass die Herkunftsländer dieser Männer und Frauen vor schweren, medizinischen Versorgungskrisen stehen.
Zu Malawi gilt es noch dies beizufügen: Die durchschnittliche Lebenserwartung gemäss Wikipedia ist in den letzten Jahren auf 32,5 Jahre gesunken, 30-55% der Bevölkerung leiden an Aids, das für ungefähr 75% der Todesfälle verantwortlich ist.

Verantwortungsbewusstsein

Hier kam mir nun wieder Paracelsus in den Sinn. Steht er in meinem Kopf doch für ein ganzheitliches Bild der Medizin. Er steht dafür, dass alles irgendwie zusammenhängt und dass es in ungesunden Zusammenhängen keine gesunden Menschen geben kann? Das wusste man immerhin schon im Mittelalter und bestimmt hat Paracelsus bei seinem Blick auf die Welt und bei seinen Heilmethoden die Verbindungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos einbezogen. Also, dachte ich weiter, wenn Paracelsus ein medizinisches Verantwortungsbewusstsein für ganz Europa hatte, warum sollte die Medizin heute nicht ein Verantwortungsbewusstsein entwickeln können, das die ganze Welt einbezieht?
Ich weiss natürlich auch, dass es sehr wohl immer wieder Ärzte und Ärztinnen gab und gibt, die als Fachleute der Humanmedizin Menschen heilen, ohne vor den Krankheitssymptomen der Gesellschaft Angst zu haben und die die auch Welt so verändern und heilen wollen, dass das gesunde Leben des einzelnen erst richtig möglich wird.
Zwei der berühmtesten oder berüchtigtsten, je nach Gesichtspunkt, waren Salvador Allende und Che Guevarra. Über ihre Erfolge lässt sich bekanntlich streiten. Aber in europäischen Zusammenhängen waren die wirkungsvollsten Sozialreformer nicht selten auch politisch engagierte Ärzte. Und ich weiss, dass sich auch heute wesentliche Teile der Medizin, gegen den allgemeinen Trend, und für Ganzheit in jedem Sinn, also auch für globales Bewusstsein engagieren. Ich habe sogar Freunde und Bekannte, die gegen das reine Spezialistentum angehen oder die, indem sie im Dienst internationaler Organisationen oder auch ganz aus eigenem Antrieb hier und dort auf der Welt ihren schönen Beruf oder wie es heisst, die vornehmste aller Künste immer da ausüben, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

Ethik

Trotzdem fragt sich der Laie vor diesem Hintergrund, ob sich dieses eindeutig bestehende Ungleichgewicht medizinischer Versorgung mit jenen hohen ethischen Ansprüchen, die man mit der Medizin in Verbindung bringt, überhaupt vereinbaren lässt. Weil ich hier ziemlich ratlos war, besann ich mich auf einen Nachbarn, der diesbezüglich vom Fach ist.
Ich erzählte ihm am Telefon von meinem Vortrag und er lud mich freundlicherweise ein, noch bevor er genau wusste, worum es ging, ihn zu besuchen.
Ich erzählte ihm also mit der Inbrunst meiner inneren Stimme ziemlich wirr von der Ungerechtigkeit des braindrain, von Widersprüchen hier und dort und davon, dass ich mich fragte, ob es nicht irgendwelche ethische Grundsätze gebe, die ich hier unbedingt erwähnen müsste. Ich sagte auch, es könne doch nicht sein, dass dieser alte Grieche, dieser Hippokrates, der so nagelfeste Berufsregeln aufgestellt habe, dass noch heute auf sie geschworen werde, dazu nichts zu sagen hätte.
Klar, sagte mein Nachbar vom Fach, es sei schon so, dass es vielerorts tatsächlich ethische Defizite zu beklagen gebe. Er war zu seinem Bücherregal gegangen und gab mir das Bändchen mit dem Titel: Hippokrates, Der Eid des Arztes. Sehr interessant sagte er und fügte auch noch hinzu, der technische Fortschritt und auch die Macht der Industrie würden sich vielerorts halt zwischen den Arzt und die Patienten schieben, was fehle, sei ein gewisser Humanismus.
Beim Wort Humanismus hackte ich sofort mit Paracelsus ein. Weißt du, sagte ich, ich habe immer dieses Bild im Kopf von diesem Paracelsus, der durch ganz Europa wandert, sich für ganz Europa verantwortlich fühlt, also für ein Gebiet das unter damaligen Bedingungen nur in Wochen durchmessen werden konnte. Warum ist das heute nicht so? Theoretisch könnte heute irgend ein europäischer Arzt auf dem Flugweg schneller bei einem Sterbenden in der Sahelzone oder in Malawi sein, als der berittene Landarzt von damals auf dem beschwerlichen Weg zum transportunfähigen Kranken auf der oberen Alp im Berner Oberland oder auf der hinteren Egg im Emmental. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die wenigen Ärzte von dort kommen zu uns oder gehen nach Amerika. Und mitsamt Pflegepersonal.
Mein Nachbar vom Fach stand wieder auf, trat an sein Regal und sagte: Dieser Paracelsus sei ja auch wirklich ein wahnsinniger Typ gewesen. „U gsoffe het er wie nes Loch“, sagte er auch noch, während er mir ein Buch mit dem Titel Scharlatane, zehn Fallstudien, überreichte.

Hippokrates

Bei der ersten Lektüre des berühmten Eides von Hippokrates fiel mir vor allem die unerwartete Kürze auf. Neun Paragrafen auf knappen zweieinhalb Seiten. Ich sah aber auch einzelne, sehr schöne Sätze. Zum Beispiel: Diätetische Massnahmen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Können und Urteil, vor Schädigung und Unrecht aber sie bewahren.
Oder: Lauter und redlich werde ich bewahren mein Leben und meine Kunst.
Oder: Nie und nimmer fürwahr werde ich Blasenkranke operieren, sondern sie abschieben zu werkenden Männern, die sich in diesem Gewerbe auskennen.
Ich erkannte gleich, dass ich es hier offensichtlich mit einem Sprachkunstwerk zu tun hatte, dass ziemlich verschlüsselt war und das sein Geheimnis nicht einfach so ohne geschichtliche Hintergrundinformationen preisgeben würde. In beigefügten Erläuterungen las ich auch, dass der Eid durchwegs seine Aktualität bewahrt habe und dass es offensichtlich weitere, ähnliche Dokumente zur ethischen Orientierung der Medizin gab.
Ich beschränkte mich jedoch darauf, zu spekulieren, auf welchen geografischen Raum sich dieser Eid wohl damals bezogen haben mag und ob sich heute das Versprechen, Kranke vor Schädigung und Unrecht zu bewahren, nicht auf die ganze Welt anwenden lassen müsste?

Paracelsus

In dem Buch über Scharlatane erfuhr ich dann, dass mein Theophrastus Bombastus Aureolus Philipus von Hohenheim, genannt Paracelsus, wohl nicht überall jene uneingeschränkte Bewunderung genoss, die ich ihm entgegenbrachte. Zwar gab er kluge Sachen von sich, war tatsächlich sehr viel unterwegs und hat offensichtlich auch rein medizinisch viel damals Bahnbrechendes und Hervorragendes geleistet.
Aber als Wanderer eilte er nicht unbedingt von Krankenbett zu Krankenbett, eher wurde er getrieben, manchmal sogar gejagt, war offensichtlich selbst nicht über jenen Hokuspokus erhaben, den er vielerorts bekämpfte. Der Humanist Erasmus von Rotterdam soll es trotz schwerer Leiden, in Basel vorgezogen haben, nicht von meinem Humanisten Paracelsus behandelt zu werden. Aber, und das muss auch erwähnt werden, er war offensichtlich gerne beim Volk, liebte die Menschen, zechte mit ihnen in den Spelunken, aber kümmerte sich auch an ihren Krankenbetten unabhängig von Rang und Reichtum um sein Wohl.
Besonders beeindruckte mich, was ich offensichtlich vergessen hatte, nämlich dass der Mann sehr klein, nur ein Meter zweiundfünfzig grosse war, seine Reisen kreuz und quer durch Europa und darüber hinaus, also auf sehr kurzen Beinen bewältigt hatte. „Bin weiter gewandert“ schreibt er selbst, „gen Granada, gen Lissabon, durch Spanien, durch England, durch die Mark, durch Preussen, durch Litauen, durch Poland, Ungarn, Walachai, Siebenbürgen, Karpaten, Windischmark, auch sonst andere Länder nit noch zu erzählen. Seine Welt war also tatsächlich von einer Grösse, die heute Malawi bestimmt einschliessen würde.
Als ich nach der Lektüre des Buches über ihn, in einer spanischen Zeitung einmal mehr beobachtete, dass die Werbung für Schönheitschirurgie kurz davor ist, in ganzseitigen Inseraten sogar die Webung der Autoindustrie an Präsenz zu übertrumpfen, fragte ich mich, was jemand wie Paracelsus, der unter anderem auch für seine deftigen Sprüche bekannt war, wohl dazu einfallen würde?
Mir selbst fiel nur wieder dasselbe ein: Wie ist es möglich, dass unsere gute ehrenwerte Medizin hier Menschen in ihrer besten Jugend umbaut, während andere noch immer an längst überwunden geglaubten Krankheiten und Zuständen leiden. Ich fragte mich auch, ob es hier nicht Bereiche gibt, die von der Medizin abgekoppelt werden müssten, weil sie nichts mehr mit dem Wiederherstellen oder erhalten von Gesundheit zu tun haben? Wobei mir aber klar ist, dass in sehr vielen Fällen, auch die ästhetische Chirurgie Menschen hilft und rettet und grossartiges leistet.

Medizinmänner Priester

Man kann hier natürlich einwenden, was ist das denn überhaupt für ein Verständnis der Medizin? Ärzte und Ärztinnen sind doch keine Medizinmänner, die sich um das Gesamtwohl eines Indianerstammes oder sonst einer Gemeinschaft zu kümmern haben. Wir leben heute!
Möglicherweise haben meine romantischen Vorstellungen ausser mit Paracelsus noch mit anderen Helden meiner Jugend zu tun.

Dr. Adler

Einer von ihnen war sicher Dr. Adler.
Der. Adler war Kinderarzt. Er ist einer der Ärzte, die mein Arztbild prägten.
Ich erinnere mich an ein oder zwei Krankheitsschübe, die ich als Knabe offensichtlich so schlecht ertrug, dass man Herrn Dr. Adler alarmieren musste.
„Dr Doktr Adler chunnt de. Ig han em Doktr Adler aglütet“, sagte dann meine Mutter.
Das bestätigte mir, dass man sich um mich sorgte und es versprach Erlösung.
Wenn Dr. Adler zum mir oder zu einem meiner Brüder kam, kam er hörbar schnaufend und schnaubend die Treppe hoch, ich hörte ihn schon im unteren Stockwerk, wo die Mutter ihn begrüsste, bevor sie ihn zu unserem Schlafzimmer im oberen Stockwerk führte.
Dr. Adler war untersetzt, wie man sagt, vielleicht leicht übergewichtig, er zog sich mit einer Hand am Treppengeländer hoch in der anderen trug er ein „Dokterköfferli“, einen jener unverkennbaren Ärztekoffer.
Seine Ankunft, sein Kommen war für mich ein Auftritt, ein Ereignis, das ich ganz eindeutig für die Therapie gehalten haben musste. Wenn Dr. Adler kam, war der Krankheitshöhepunkt erreicht und die Besserung konnte eintreten. Und zwar unmittelbar und rezeptunabhängig. Die Verordnungen, die Ratschläge, die mit dem Handschlag oder dem Tätscheln der Bettdecke verabreichten Wünsche waren nur noch Beiwerk. Wenn Dr. Adler kommt, geht es nachher besser und es ging besser.
Dr. Adler trug den gleichen grauen Anzug mit Krawatte wie unsere Lehrer und sah diesen überhaupt sehr ähnlich, ausser dass sein Auftreten viel selbstbewusster, gelöster, selbstverständlicher und entsprechend ruhiger und gelassener war. Die Aufmerksamkeit, die er verschenkte war nicht begleitet von dem Vorwurf, um diese unberechtigterweise gebeten zu haben. Er sah im gängigen Sinn wirklich nicht besonders gesund aus, aber er brachte Gesundheit. Und Dr. Adler hat Spuren hinterlassen. Es ist vielleicht ungerecht und unzeitgemäss, aber noch heute messe ich medizinische Leistungen an der Anstrengung und dem Aufwand, den er für mich erbracht hat. Und bei allem Respekt für biotechnische Fortschritte, es wird im Bereich zwischen Gesundheit und Krankheit noch lange unerfassbare, nicht berechenbare und nicht verrechenbare Faktoren geben, mit welchen Leute wie Dr. Adler mit dem ganzheitlichen Anspruch des Hausarztes am besten umzugehen wissen.

Dunant

Ein weiterer Held meiner Jugend war Henry Dunant, der Gründer des Roten Kreuzes.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen bei Informationen über drastische medizinische Missstände auf der Welt geht. Möglicherweise haben Sie sich bei gewissen Katastrophen auch schon gefragt, wie ist das menschenmöglich, dass sich nicht sofort das ganze menschliche Tun und Trachten der ganzen Welt auf sie richtet? Ich habe mich auch schon gefragt, wie abgestumpft sind wir eigentlich und wie abgestumpft bin auch ich selbst, dass ich dies einfach so zur Kenntnis nehme?
Ich bewundere Dunant noch heute, weil er es gewagt hat, bei den Kriegsgräueln von Solferino, genau hinzuschauen, er hat es gewagt zu beschreiben, was in einem solchen Krieg mit dem menschlichen Körper passiert und wie die Chirurgen den Verwundeten wie am Fliessband die zerschmetterten Glieder amputieren mussten und zwar indem sie ihnen die Knochen ohne Narkose absägten. Er hat aber nicht nur eine grossartige Reportage darüber geschrieben, mit der er vielen die Augen öffnete, er hat auch noch eine Weltorganisation wie das Rote Kreuz angeschoben. Auch heute geht täglich in vielen Kriegen weiterhin um das Zerstören. Um das Zerstören an sich, aber vor allem um das Zerstören und Töten von Menschen. Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen zu können, dass sich in einem heutigen Feldlazarett zwar die Behandlungsmethoden verändert haben, dass sich die von Menschen ausgestandenen Schmerzen und Qualen aber nach wie vor ziemlich ähnlich sein dürften. Krieg ist nach wie vor Krieg, bloss schützt uns heute die kontrollierte Berichterstattung, der so genannte embeded journalism vor jenen Bildern, die uns in ihrer Unerträglichkeit vielleicht zu einem andern Verhalten verleiten könnten. Wir werden vor sehr viel verschont und geschützt. Damit auch die Medizin.

Hirntod

Und jetzt habe ich noch nichts zu Hirntod gesagt. Es ist aber wie Umwelt ein neues Wort. Auch ein erfundenes Wort und man ist bekanntlich gut beraten, wenn man solchen Wörtern mit Vorsicht begegnet, denn sie sind mit Anliegen, Absichten und Interessen beladen. Gestandene Wörter, die ihre Wurzeln im Altertum haben und über deren Bedeutung sich die beneidenswerterweise des Griechischen und Lateinischen kundigen Ärzte trefflich streiten, wie das in anlässlich der Veranstaltungen in dieser Vortragsreihe offensichtlich geschieht, sind mir persönlich lieber.
Bei einem Sprachwissenschafter las ich, dass wir weiterhin dabei sind, den Tod terminologisch aufzuspalten. Das Spiel mit der sprachlichen Anpassung wird weiter getrieben. Ich stiess auf Wörter wie Ganzhirntod, Teilhirntod, Hirnstammtod und Hirnrindentod die alle ihre Geschichten und Bedeutungen haben mögen, aber sicher nicht meinen Verdacht aus der Welt schaffen können, hier würde auf Kosten der Sprache etwas zurechtgebogen. Andere haben das auch schon klarer ausgedrückt. Aber betrachtet man den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele, dann ist tot eben tot und fertig.

Zum Schluss

Ein unschöner Schluss ich weiss. Unschön auch, dass ich hier noch gestehen muss, nicht nur im Titel, sondern auch in diesen Ausführungen mindestens einmal geschummelt zu haben.
Ich habe von meinem Ba ram ba ri sieren gesprochen. Aber Barambarisieren ist kein Wort, auch nicht, wenn ich es zu meinem Vergnügen dreimal verwendete, es ging mir einfach viel besser über die Zunge als bra mar ba sieren, wie es nach Duden richtig heissen muss.

Und ganz zum Schluss möchte ich auch noch das jüdische Sprichwort verraten, mein Lieblingsparadox:
Es geht so: Wäre es den Armen möglich, gegen Bezahlung für die Reichen zu sterben, könnten sie ganz schön viel
Geld verdienen und sehr gut leben.
Vielleicht wären dann sogar die Widersprüche, die ich hier anzusprechen versucht habe, gelöst.