Chaim Soutine, Zwei-Fasane, 1919
Chaim Soutine, Zwei-Fasane, 1919

Es ist noch nicht lange her, da setzten sich in einem Cafe zwei junge Frauen an meinen Nebentisch. Sie redeten über dies und das, über Diät und Gesundheit, schliesslich hielt eine der jungen Frauen voller Empörung folgenden Exkurs:

Als ich noch ein kleines Mädchen war, da steckte die Wurst doch tatsächlich in einem Darm. Ich meine, ich habe jede Art von Wurst immer gehasst, aber die Wursthülle war doch tatsächlich noch ein tierischer Darm. Ein Darm! Und es gab auch Leute, die sich so was einverleibten. Mit Bratwurst und so. Und mein Grossvater, nichts gegen meinen Grossvater, sagte die junge Frau am Nebentisch, gar nichts gegen meinen Grossvater, aber der ass ohne mit der Wimper zu zucken Griebenschmalz, Ochsenmaulsalat und Schwartenmagen. Und Grossmutter Sülze. Schon dieses Wort: Sülze! Und Schwartenmagen. Schwartenmagen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Und Sülze. Sülze, sagte sie spöttisch. So was von ekelerregendem Zeug. Diese Grossmutter kochte Samstags auch noch immer Siedfleisch. Mit Markbein und anderen Suppenknochen. Knochen! Knochen! Wohlverstanden: Knochen! Nie in meinem Leben werde ich einen Knochen auskochen! Vielleicht ab und zu ein mageres Kotelett, aber bitte, bitte ohne Knochen! Wenn ich schon meinen Hund damit verschone, fange ich doch nicht damit an, womöglich noch mit den Händen an so einem Knochen rum¬zunagen, nee. Bin ich denn ein wildes Tier? Also ein bisschen Stil hatte ich schon als Kind, da weigerte ich mich auch kategorisch Kutteln auch nur anzuschauen. Aber Grossvater ass dieses Zeug mit Genuss! Kutteln! In meine Eingeweide kommen keine Eingeweide. Ich bin doch keine Entsorgungsanstalt für Schlachtnebenprodukte. Und Kalbshaxen? Kommt gar nicht in Frage. Nicht auf meinem Tisch. Klar, ich weiss, das soll gut schmecken, aber darauf stand doch ein lebendiges Tier womöglich in einem zu engen Stall im eigenen Dreck? Kalbszunge? Wer isst denn etwas, was andere bereits im Mund gehabt haben? fragte sie und ihre Freundin nickte. Rindsleber? Um Gottes Willen. Ein zartes, mageres Rindssteak ja, ist auch gut für die Linie, aber Leber. Was sich da alles drin ansammelt. Und Nieren? Der reine Wahnsinn. Kalbsnieren soll eine Delikatesse sein! Etwa so wie die Schweinsfüsse, die ich letztes Jahr in einem spanischen Restaurant gesehen habe. Da sassen diese Leute doch an einem fein gedeckten Tisch, sahen eigentlich ganz zivilisiert aus, assen auch mit Messer und Gabel, aber was assen sie? Schweinsfüsse. Ich dachte, ich werde wahnsinnig. Und mein Vater, was hat der neulich im Restaurant bestellt? Ich schämte mich wahnsinnig vor dem gut aussehenden Kellner, der uns bis anhin wahnsinnig zuvororkommend bedient hatte. Kalbskopf, hat der bestellt: Kalbkopf. Wahnsinn. Der hat sich in meiner Gegenwart seelenruhig Kalbskopf bestellt. Das muss man sich vorstellen. Ich willige ein, mit meinem Vater essen zu gehen und dann bestellt der Kalbskopf! Der absolute Wahnsinn! Ich war bestimmt rot wie eine Tomate. Und natürlich gab es eine wahnsinnige Diskussion, natürlich gab es wieder Streit. Mein Vater forderte mich auch noch auf, so lange wie ich Eier essen würde, sollte ich auch mal Suppenhuhn essen, wo er ganz genau weiss, dass ich ausser Krebsen und Langusten nichts essen kann, das noch so aussieht als wäre es ein Teil von einem richtigen Tier. Nie habe ich Hähnchen essen können, das noch aussieht wie Hähnchen. Nie habe ich einen Kaninchenschenkel auch nur mit der Gabel berührt. Er wusste ganz genau, dass ich höchstens geschnetzeltes Pouletfleisch esse. Oder Putenschnitzel. Aber ich habe mich gewehrt. Sollen sie aus ihren Legehennen doch Tiermehl machen, habe ich gesagt, nur Schweine fressen alles und wenn das Zeug so wahnsinnig hochwertig und so wahnsinnig eiweisshaltig sei, wie mein Vater behauptete, können sie doch versuchen, daraus Treibstoff herzustellen. Wenn sie das in Brasilien sogar mit Zuckerrohr schaffen, wird uns doch wohl auch etwas einfallen, wie man Benzin gewinnt aus all diesen wahnsinnig appetitlichen Därmen, Nieren, Haxen und herrlich mineralienhaltigen Knochen! sagte die junge Frau am Nebentisch.

Kutteln

Monolog zum Thema Entfremdung im Zusammenhang mit der Tiermehlproblematik für Echo der Zeit 1996

© BPS