Essay über die Berner Altstadt 2007 erschienen im Buch
BERN WEST 50 Jahre Hochausleben
Unter der Woche spät abends oder gar nach Mitternacht präsentiert sich die Berner Altstadt von ihrer schönsten Seite. Die bunten Lichter der Schaufenster sind ausgegangen, die Fassadenbeleuchtung ist eingeschränkt und der Verkehr hat sich beruhigt. Bis auf ein paar Taxis, haben sich die Autos verflüchtigt. Die wenigen Leute, die es sich leisten können, jetzt noch in der Altstadt unterwegs zu sein, sind gut gelaunt. Sie geniessen ihren Spaziergang durch die Seitengassen oder die grosszügig angelegten Hauptgassen, die eigentlich keine Gassen, sondern Plätze sind, denn was in seiner Mitte meisterlich gebaute Brunnen mit vier Röhren vorzuweisen hat, darf sich ruhig Platz nennen. Während jetzt die Brunnen mit ihrem Plätschern die Stille untermalen, zeigt sich in der zur Einheit geformten Vielfalt der Fassaden viel Anmut und sogar der oft als „grau“ bezeichnete Sandstein schimmert diskret in den unterschiedlichsten Grüntönen und strahlt eine Würde aus, an der man sich laben kann.
Genau genommen ist die Berner Altstadt ein mittelalterliches architektonisches Gesamtkunstwerk von kaum zu überschätzender Einzigartigkeit.
Mit Bern West hat die Altstadt vor allem darum viel gemeinsam, weil auch hier einst Wohnformen verdichtet wurden, wie das heute so poetisch heisst, und weil auch bei der Anlage des ursprünglichen Kerns von Bern weitsichtig, wenn nicht gar utopisch gedacht und geplant worden ist. Was da in die Welt, genauer gesagt auf eine ganz bestimmte von der Aare umflossene Landzunge gestellt wurde, ist wie Bern West Ausdruck einer grossen, gemeinsamen Anstrengung. Es sind denn auch diese beiden Stadtteile, die in Bern die markantesten Alternativen bilden zum kleinräumigen, manchmal auch kleinmeierischen privaten Bauen, das nicht nur weite Teile von Berns Umgebung, sondern längst das ganz Mittelland überwuchert und in dem fremden und hässlichen Begriff „Aglo“ eine treffende Bezeichnung gefunden hat.
Ordnung und Übersicht
Im Gegensatz zum Wildwuchs der Agglomerationen sind Bern West und die Altstadt alles andere als austauschbar. Sie sind eindeutig das eindrückliche Resultat von grossem koordinierten Wollen und Können. Die heutige Altstadt von Bern wurde einst nach den damals modernsten Regeln der Städtebaukunst auf dem Reisbrett konzipiert und strukturiert wie später nur noch koloniale Neugründungen in Übersee. Und auch wenn der grosse Friedrich Dürrenmatt, wie er in den „Stoffen“ sagt, auf seinen Gängen durch Berns Gassen und Gässchen das Labyrinth als literarisches Motiv entdeckt haben will, so sei ihm dies unbenommen, aber ein Labyrinth ist die Altstadt von Bern eben gerade nicht.
Wer Bern unübersichtlich oder gar labyrinthisch findet, braucht sich nur eine Minute Zeit zu nehmen, um auf einem Stadtplan zu erkennen, wie wohl geordnet und symmetrisch diese Gassen hier angelegt worden sind.
Bern ist schön
Und Bern ist schön. Sogar so schön, dass kein geringerer als Ferdinand Hodler behauptete, die Schönheit Berns habe ihn zum Künstler gemacht. Manchmal braucht es allerdings einen Touristen aus dem fernen Asien oder eine Touristin aus dem nahen Deutschland, die einen mit dem ihnen deutlich über die Gesichter geschriebenen Staunen wieder neu die Augen öffnen und daran erinnern, in welch einer ausserordentlichen Umgebung man eigentlich das Privileg hat, wohnhaft und zuhause zu sein. Man gewöhnt sich an vieles und nimmt auf Spaziergängen einfach so hin, was andere beim ersten Anblick offensichtlich so beeindruckt und entzückt, dass sie stehen bleiben oder sich immer wieder neu aus verschiedenen Winkeln abfotografieren, sei es vor den schmucken Fronten der Gassen, vor dem Zeitglockenturm, vor dem Gerechtigkeitsbrunnen – in der Tat eine ganz besondere Sehenswürdigkeit – aber auch vor der grünen, aus der Nähe aber glasklaren Aare oder einfach vor dem vielen Grün, den vielen Bäumen so mitten drin in einer richtigen Stadt.
Isn’t this the capital of this country? Hört man andere fragen. Yes, this is the capital of this country.
Diese Besucher stehen dann da wie in irgend einem Freilichtmuseum im mittleren Westen, wundern sich, dass sie keinen Eintritt bezahlen mussten, aber wissen kaum, wohin sie gucken sollen. Oft fotografieren sie , weil man Kirchen eben fotografiert, die relativ neue und kunsthistorisch nebensächliche Kirche Peter und Paul am Rathausplatz, ohne die dort ebenfalls vorhandenen urtypischen Eigenheiten bernischer Baukunst wie die hölzerne Vogeldiele oder die berühmte «Ründe» unter dem Dachvorsprung eines Blickes zu würdigen. Es sind auch diese Reisenden aus Übersee, die sich in ihrem beschränkten Geschichtsbewusstsein fragen, ob Berns Brunnen zur Zierde der Stadt oder gar als Touristenattraktionen gebaut worden sind. Die Vorstellung, dass da einst noch genau von diesen Brunnen in Krügen und Eimern das Wasser für den häuslichen Bedarf gefasst werden musste, ist ihnen völlig fremd.
Und wenn einige auch bald vergessen haben werden, wo genau in welcher Stadt und in welchem Land das nun genau gewesen ist, der Blick von der Münsterplattform auf den über die Schwellen rauschenden Fluss oder der Blick von der Nydeggbrücke wird vielen der Touristen und Touristinnen ebenso unvergesslich bleiben wie der erste Blick auf Eiger Mönch und Jungfrau von der Bundesterasse oder vom Casinoplatz aus.
Sandstein grau und grün
Wie bereits erwähnt ist der Sandstein, aus welchem die Häuser der Altstadt, aber auch das Rathaus und das Münster gebaut worden sind, nicht jedermanns Sache. Grau sei er, heisst es oft. Schrecklich grau und trist! Überhaupt nicht so schön rötlich wie derjenige von Basel! Dieser Sandstein hat sich aber als Baumaterial aufgedrängt. Aus nahe liegenden Gründen. Wobei auch die Steinbrüche in Ostermundigen für die Ochsenkarren und Pferdefuhrwerke noch entfernt genug waren. Es braucht wenig Fantasie, um das Knallen der Geiseln, das Quietschen und Ächzen der Naben zu hören oder den Schweiss zu riechen, der hier von den Bauleuten vergossen werden musste. Aber dieser Sandstein war die einzige Alternative zum damals üblichen, jedoch brandgefährdeten Baustoff Holz. Erst Jahrhunderte später erlaubten es die besseren Transportmöglichkeiten, auf Granit und Gneis aus dem Oberland zurückzugreifen, wie zum Beispiel in der Mitte des neunzehnten Jahrhundert beim Bau der Nydeggbrücke..
Obschon sich der Berner Sandstein über die Jahrhunderte genau genommen nicht schlecht gehalten hat, so erweist er sich heute bei veränderten Witterungsverhältnissen doch als zu weich und nicht zu letzt am Münster als so anfällig für die in der Luft vorhandenen Schad- und Giftstoffe, dass er mit härteren, nicht mehr aus der Umgebung stammenden Sorten ersetzt werden muss. Bewundernswert bleibt aber die Handwerkskunst, mit welcher aus einem nur suboptimalen Baumaterial sehr viel Bleibendes geschaffen worden ist.
Leben in den Lauben
Besonders berühmt sind natürlich Berns „Lauben“. Von Nichtbernern werden sie auch Arkaden oder Laubengänge genannt. Bei Regen dienten sie sehr wohl als überdachte Bürgersteige, anders als heute waren sie aber Teil von Läden und Werkstätten. Schon nur wegen der besseren Lichtverhältnisse wurde wann immer möglich, in den Lauben oder sogar auf der Gasse gearbeitet und den verschiedensten geschäftlichen und häuslichen Verrichtungen nachgegangen. Überhaupt war die Berner Altstadt bis vor wenigen Jahrzehnten eine der grössten Gewerbezonen der Stadt und sowohl die Lauben wie die Gassen waren erfüllt von vielfältigster Geschäftigkeit. Während die mechanischen Werkstätten wegen der ehemals notwendigen Wasserkraft vor allem unten in der Matte angesiedelt waren, wurde in den Gassen geschreinert und gepolstert, aber auch gewoben, geseilert und gesattlert. Und wie die ehemaligen Namen von Münster- und Rathausgasse verraten, auch gekesslert und gemetzget. Da sich hier auch das älteste Gewerbe angesiedelt hatte, genoss die „Metzgergasse“ überregionalen Ruhm. Es gab in der Altstadt aber auch Buchdruckereien, Kupferschmieden, Spenglereien und Glaserwerkstätten; in Kellereien wurde Wein in Flaschen gezapft, die noch an den öffentlichen Brunnen gespült worden waren. Es gab Schneider, Modistinnen, Spielzeugmacher und noch bis in die Sechzigerjahre an der Kramgasse einen richtigen Kunstmaler mit einem weissen Bart und Farbtupfern auf dem weissen Berufsmantel, der auf Auftrag das passende Motiv für die gute Stube und auch Porträts seiner Kunden malte.
Freistatt an der Gerechtigkeitsgasse
Die von Gewerbe und Handel geprägte, durchgehende Ladenfront wird in den Lauben, wird in den Hauptgassen übrigens nur zweimal gebrochen. Einmal beim „Konsi“ und dann beim Zunfthaus zum Distelzwang, oben an der Gerechtigkeitsgasse, wo sich als Kuriosum im Erdgschoss hinter einem schmiedeisernen Gitterzaun eine für Bern einzigartge Eingangshalle befindet.
Diese Halle diente nicht nur den Gerichtsorganen als Tagungsort, sondern galt auch als Zufluchtsort für flüchtige Totschläger, um diese vor der Blutrache zu schützen.
Gassen und Fassaden
Von Albrecht von Haller, von Einstein und anderen Geistesgrössen bewohnt und von Goethe besucht und bewundert, dürften die Kramgasse und die Junkerngasse vielleicht die berühmtesten sein. Aber auch die Badgasse hat es Dank Meister Casanova in die Weltliteratur geschafft.
Ausserordentlich an Berns Gassen ist vor allem die Eleganz, mit welcher sich besonders in den Hauptgassen einzelne Häuser in einem sanft geschwungenen Bogen über die gesamte Aarehalbinsel hinweg aneinanderreihen und mit dieser wie organisch gewachsenen Krümmung jedem wachen Auge schmeicheln. Aber auch das Nebeneinander von schlichten Bürgerhäusern unterschiedlicher Breite mit Zunft- und Patrizierhäusern von zurückhaltender Pracht, ist mehr als beachtenswert und zeugt von einem früh vorhandenen Bewusstsein für das Gemeinwohl, wenn nicht gar von einem frühen Verständnis von den Vorzügen demokratischer Gleichheit und Einigkeit. Da wird weder geprotzt, noch aufgetrumpft und erst mit dem zweiten Blick, geben sich mitten in den Häuserreihen eigentliche Schlösser zu erkennen. Von der Matte aus gesehen, stehen an der Junkerngasse bei genauem Hinschauen sogar ein ganzes Dutzend Paläste diskret Schulter an Schulter, wobei sich einer noch heute nicht ohne Berechtigung Hof nennt – der Erlacherhof – und auch andere für sich genommen irgendwo als Landsitze in einer edlen französischen Landschaft stehen könnten.
Erbe und Pflicht
Im Irrtum befindet sich übrigens, wer den Häusern der Altstadt heute vorwirft, sie seien der Auszeichnung, zum Weltkulturerbe der Unesco zu gehören, eigentlich unwürdig, weil sie innen ausgehöhlt und auf schöne Fassaden reduziert worden seien. Was für viele Geschäftshäuser oberhalb des Zeitglockenturms zutreffen mag, gilt nicht für die Altstadt. Dank einem oft auch als einengend beklagten rigorosen Denkmalschutz, bewahrt sich in den meisten Liegenscdhaften die ursprüngliche Innenstruktur mitsamt den kunstvollen Einrichtungen. Da gibt es mit Marmor ausgelegte und mit Stuck verzierte Edeltreppenhäuser, mit Nussbaum getäfelte Zunft- und Wohnstuben noch und noch und insgesamt überhaupt einen seit Jahrhunderten bestehenden künstlerischen Formenreichtum, der immer wieder neu das gerade Angesagte, das Moderne oder Schicke überlebt und überdauert.
Dass die Pflege und der Umgang mit diesem Erbe für die betroffenen Besitzer, seien es private, die Burgergemeinde oder die Stadt, nicht unproblematisch und auch sehr aufwendig ist, bringen die zum Teil happigen Preise und Mieten zum Ausdruck. Die
Altstadt ist zunehmend ein sehr teueres Pflaster. Alternative Konzepte zum schonenden und bewahrenden Umgang mit der Substanz, gibt es jedoch kaum. Als in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit den so genannten Ischihäusern an der Gerechtigkeitsgasse eine ganze Reihe von Liegenschaften abgebrochen und durch ein grosses, modernes und vereinheitlichtes Geschäftshaus ersetzt werden sollten, regte sich sofort Widerstand. Beim entscheidenden Urnengang gewannen die Gegner des Projektes mit einem Mehr von ein paar wenigen hundert Stimmen. Wäre das Gesamtbild erst einmal gebrochen worden, hätte es möglicherweise an allen Ecken und Enden zu bröckeln begonnen, was aus heutiger Sicht zweifellos zu bedauern gewesen wäre.
Persönliche Verbundenheit
Wie stark man sich der Altstadt verbunden fühlen kann und auch warum, wurde mir persönlich in der Ferne bewusst. Während Jahren versuchte ich in zwei kanadischen Metropolen, mein Leben ebenso zu Fuss zu bewältigen, wie ich es von Bern her gewohnt war. Erst in Vancouver, dann auch in Montreal erfuhr ich beim Begehen der „streets“ und „avenues“, dass diese grösstenteils überhaupt nicht zu diesem Zweck bestimmt waren und dass die berühmten „blocks“ in ihrer rechtwinkligen Geradlinigkeit ganz schön langweilig werden, wenn nicht sogar aufs Gemüt drücken können. Wie ein Cowboy ohne Pferd kam ich mir in diesen schon völlig auf das Fahren umgerüsteten Städten vor. Der Fussgänger, überhaupt der sich autonom bewegende Mensch, hatte hier weniger zu suchen als ein Dreirad auf dem Freeway.
Schon kurze Distanzen wie der Weg zur Bushaltestelle oder zur Metrostation lösten mit ihrer bedrückenden Monotonie mehr als einmal eine besondere Art Heimweh aus: Das Heimweh nach einer durchgestalteten, nicht für Autos, aber für Menschen gebauten Stadt, in welcher die Zeit, die man unterwegs zur Arbeit oder zum Einkaufen verbringt, nicht verdrängt, sondern aufrecht und wachen Sinnes als Spaziergang und als Erholung genossen werden kann.
Es ist auch in der Ferne, dass mir bewusst wurde, in der Berner Altstadt, am Leben teilgehabt zu haben.
Kollision der Zeitalter
Aber auch die Berner Altstadt leidet am Widerspruch zwischen ihrer ehrwürdigen, mittelalterlichen Anlage und unserem heutigen Bedürfnis nach möglichst unbeschränkter Mobilität. Während Jahrzehnten wurden ihre Gassen zweckentfremdet und als denkmalgeschütztes Parkhaus missbraucht. Noch heute wird zwar der Leerlauf des nie abrechenden Suchverkehrs mit Lebendigkeit oder gar mit Leben an sich verwechselt, doch langsam aber sicher hält wieder ein anderes, den baulichen Gegebenheiten angemessenes Verhältnis zur Zeit Einzug. Möglichst schnell durch die Altstadt zu rasen, als wären die Gassen eine neu gebaute Verbindungstrasse und nicht ein Kulturdenkmal der internationalen Spitzenklasse, wird zunehmend als das erkannt, was es ist: Eine barbarische Kulturlosigkeit.
Ausser aesthetischen, gibt es aber auch heute noch andere gute Gründe, in der Altstadt zu wohnen. Da ist die einst selbstverständliche Einheit von Wohn- und Arbeitsort, aber auch die Nähe zu sämtlichen Ämtern und Institutionen. In der Altstadt liegen sowohl die besten Einkaufsmöglichkeiten als auch die wichtigsten Dienstleistungen direkt vor der Tür. Dazu kommt ein dichtes Angebot an Restaurants, Beizen und Cafés.
Aber auch Gallerien, Kinos , Theater und sogar der Bahnhof sind leicht zu Fuss zu erreichen.
Dass man dabei noch je nach dem in Gedanken versunkenen oder munter um sich grüssenden Bundesräten, Bundesrätinnen und anderen Magistraten aus der ganzen Schweiz begegnet, ist ein zusätzliches Privileg, das auch noch das Gefühl vermittelt, an einem ganz besonderen und in jeder Beziehung bedeutenden Ort zuhause zu sein, denn das Privileg, in den Gassen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln Stadtpräsidenten, und Gemeinderätinnen und Minister zum Anfassen volksnah zu wissen, ist nur in guten Zeiten zu unterschätzen.
Möglicherweise ist hier auch einer der wesentlichen Unterschiede zu Bern West zu orten: Während die grossangelegten, von Menschen verschiedenster Nationalitäten bewohnten Überbauungen in die Zukunft und in die Welt hinaus greifen, verweist die Altstadt auf die wechselvolle Geschichte und auch auf die ganz besondere Art von Politik und Demokratie in unserem Land und in unserer schönen Stadt.
Erschienen in Bern West
50 Jahre Hochhausleben