Kleine Hommage an einen aussterbenden Beruf.

Früher gab es Hausärzte, die Hausärzte hiessen, weil sie Hausbesuche machten. Einer von ihnen war Herr Dr. Adler.
Dr. Adler war Kinderarzt.

Ich erinnere mich an Krankheitsschübe, die ich als Knabe so schlecht ertrug, dass man Herrn Dr. Adler alarmieren musste.
„Dr Dr. Adler chunnt de. Ig han em Dr. Adler aaglütet“, sagte dann meine Mutter.
Das bestätigte mir, dass man sich um mich sorgte und es versprach Erlösung.
Wenn Dr. Adler kam, kam er hörbar keuchend und schnaubend die Treppe hoch, ich hörte ihn schon im unteren Stockwerk, wo die Mutter ihn begrüsste, bevor sie in zu mir ins obere Stockwerk führte.
Dr. Adler war, wie man sagt, untersetzt, vielleicht sogar leicht übergewichtig. Ich hörte, wie er sich ruckhartig mit einer Hand am Treppengeländer hoch zog. In der anderen Hand trug er sein „Dokterköfferli“, einen jener festen schwarzen Koffer aus Leder.
Seine Ankunft, sein ganzes Kommen war für mich ein Ereignis, das ich ganz eindeutig für die Therapie gehalten haben musste. Wenn Dr. Adler kam, war der Krankheitshöhepunkt erreicht und die Besserung konnte eintreten. Und zwar unmittelbar und rezeptunabhängig. Die Verordnungen, die Ratschläge, die mit dem Handschlag oder dem Tätscheln der Bettdecke verabreichten Wünsche waren nur noch Beiwerk. Wenn Dr. Adler kommt, geht es nachher besser und es ging besser.
Dr. Adler trug den gleichen grauen Anzug mit Krawatte wie unsere Lehrer und sah diesen überhaupt sehr ähnlich, ausser dass sein Auftreten viel selbstbewusster, gelöster, selbstverständlicher und entsprechend ruhiger und gelassener war. Wenn ich mich richtig erinnere, sah Dr. Adler selbst im gängigen Sinn nicht besonders gesund aus, aber die Aufmerksamkeit, die er verschenkte, war nie begleitet von jenem Vorwurf, um diese unberechtigterweise gebeten zu haben. Dafür danke ich Herrn Dr. Adler bei jeder Gelegenheit.

Aus dem Vortrag: Paracelsus Paratext Paradox