Flug Nordirland

Bushmills und Guiness

Schon der Anflug. Die Twinotter sackt immer von neuem und jedes Mal tiefer ab in die Nacht. Von Glasgow her schraubt sie sich über dem Kanal durch eine Wolkensuppe, die feucht durch die Luftdüsen in die Kabine stäubt. Es ist eine Feuchtigkeit, die mich berührt, die mir unter den Mantel kriecht, die während meines Aufenthalts nicht mehr von mir lassen wird. Nord-Irland? Um Gottes Willen! Was wollen Sie da? Hat man mich so oft gefragt.

IRA Belfast
IRA Belfast

Massendemonstrationen, Stacheldraht, Panzerwagen, Strassenschlachten. Unglückliche Gesichter empörter Regenmantelmenschen. Ian Paisley und Bernadette Devlin. Protestanten, Katholiken, Sozialisten, Kämpfer, Märtyrer noch und noch. Korrespondenten und Kamerateams sind im Land:
Seht her, sehr her, auch hier geht es nicht ohne Gewalt!

Aber hier auf dem Pflaster von Belfast, hier, wo Benzin gallonenweise aus gekippten Fahrzeugen schwabte, um quer über die Bildschirme der Welt in Flammen aufzuschiessen, hier müsste doch etwas zu spüren sein. Blut und Tränen habe ich hier fliessen sehen und doch weiss ich so gut wie nichts.

In die abgesicherte Fussgängerzone von Belfast gelange ich durch eine Öffnung im Drahtverhau. In den Unterständen langweilen sich die Posten, gucken ab und zu in eine Einkaufstasche, wiegen ihre Maschinenpistolen. Gleich dahinter schreit ein Strassenprediger göttliche Bomben der Vergeltung vom Himmel herab. Er wippt dazu auf seinen Schuhspitzen, als wollte der selbst endlich abheben von dieser verdorbenen Welt. Laut muss er schreien, denn gleich um die Ecke steht der nächste Teilzeitprophet, und der, der verbellt seine Wahrheit durch ein Megaphon.
Im Zeitungsladen gegenüber gibt es vor allem ganze Wände voller Glückwunschkarten und der evangelische Buchladen nebenan beschränkt seine Auslage auf Kalenderbilder von Bernhardinerhunden. Mit und ohne Erst-Hilfe-Fässchen. Family Bookstore nennt sich der laden, dessen Tür nur von innen geöffnet werden kann. Und diese Passanten hier, die sich festklammern an ihren Tüten und Taschen, das sind sie also, die bürgerkriegenden Iren, die Hinterhaltsschützen, die Bombenwerfer und Brandstifter.

The Crown Bar
The Crown Bar

In der stolzen Crown Bar, einem Liquor Saloon aus viktorianischen Zeiten, erhalte ich eine erste Einführung: Geschichtliches, Statistiken, Tote, zerrissene Familien, Arbeitslosigkeit, Emigration. Ich sitze mit einem Bekannten bei ortsüblichem Bushmills-Whisky, den man mit Guiness runterspühlt. Unser Tisch steht in einem zugabteilähnlichen Séparée. Über die schulterhohen Holzwände gerade noch sichtbar, der Fernseher. England spielt Rugby gegen Australien. Ursprünglich sollen in diesen Nischen dir Frauen ihr Guiness genossen haben. Weil sie ihre Gesichter möglichst nicht rumzeigen wollten, hätten sich hier auch IRA-Leute getroffen. Und schon zum dritten Mal bekundet mein Bekannter seine eigene Neutralität. Nein, Lösung sei keine in sicht, denn der Anschluss an die Republik sei für die Protestanten nicht akzeptabel. Den Katholiken bleibe immerhin eine Hoffnung: Dank ihrer kinderreichen Familien werden sie eines Tages eine Mehrheit bilden.
Und ich schreibe in mein Notizbuch: Sie durften weder Arzt noch Rechtsanwalt werden, es war ihnen verboten, ein Pferd zu besitzen, das mehr als fünf Pfund wert war. Auf dem Kopf jedes Priesters stand eine Belohnung, und wer sich in die Messe verirrte, starb auf dem Scheiterhaufen.

Im Zug von Belfast nach Derry bleiche Farben im Nebel. Der Blick in die backyards leicht schief stehender Mietshäuser mit angebauten Bädern, mit Billiggaragen, Hundehütten und Grillplätzen. Vorbei an den hoch subventionierten Ruinen von Deloreans Luxusautofabirk. Wie konnten sie nur! Dann durch zumeist verlassen wirkende Industrieareale hinaus in eine strukturlose Ebene. Krähenartige Monster heben von verkommenen Zäunen ab, hin und wieder eine Herde glotzender Kühe, ärmliche Haltestellen, Schafe nehmen schwarzköpfig Reissaus, ein Pferd galoppiert mit fliegenden Mähne dem Zug entlang, dann kantig in der Landschaft stehend, eine Milchverarbeitungsfabrik. Zwei bleichgesichtige Kleinkinder mit schwarzen Ringen unter den Augen drücken neben mir ihre Nasen an der verregneten Scheibe platt. Hinter Cleraine endlich, schäumend, weiss sich aufbäumend und über einen breiten Sandstreifen daherlechzend, der eigentliche Herr dieser Insel: Der Atlantik.

Londonderry, jene leidgeprüfte Stadt am River Foyle, die doch einfach nur Derry sein möchte. Ta me, tat tu, ta se. Gälisch für ich bin, du bist, er ist. Aber Derry darf nicht einfach Derry sein. Überall Panzerfahrzeuge, Ketten von Sichtkontakt haltenden Soldaten. In der Boogside, dem militanten Katholikenviertel, hält man mich vom Aussteigen ab. Angeblich viel zu gefährlich. Und im Buchladen, wo ich Zeitungen kaufe, halbleere Regale und ein Muffel an der Kasse. Im Café nebenan lacht die Bedienung, aber dünn, dünn ist der Kaffee.

The Belfast Telegraph schmückt seine Titelseite mit den Blondinen Debbie Harry und Farrah Fawcett in Farbe, vermeldet in fetten Lettern: Landesweiter Krieg der Aidsbedrohung, aber das Derry Journal macht klar, welcher Krieg den Menschen hier am nächsten ist. Es publiziert reihenweise Prozessberichte. Entführung, IRA-Mitgliedschaft, Mord und Totschlag. Plus Mörserfeuer auf Polizeistation und Evakuierung wegen Bombenschlag.

IRA
IRA

Vote Sinn Fein und Jane loves Mark steht an der Stadtmauer. Das hohe Gericht sei auch gleich da, hat lachende Bedienung gesagt. Aber das Gebäude ist verschlossen, schwarz uniformierte Polizisten in kugelsicheren Westen verschränken ihre Arme auf den Maschinenpistolen vor ihren Bäuchen, schielen herüber zu mir. Ein Schild, auf dessen Rand eine fette Krähe sitzt, verweist auf Bishops Gate. Diese Stadtmauer dient wieder ihrem ursprünglichen Zweck. Video-Kameras, Drahtgitter, ein zerfetzter Unionjack im Wind. Und Graffiti überall. Ich ziehe mein Notizbuch hervor. Ein Schrei. Stay where you are! Ein Polizist kommt gelaufen. Ausweis, Adresse, was wollen Sie hier und was schreiben Sie da? Grenzenloses Misstauen komme herüber, er lässt nicht locker. Endlich kann ich mich den katholischen Buchladen verdrücken. Gewarnt hat er mich, wovor verstand ich nicht. Jetzt will ich mich informieren, was empfehlen Sie mir? Ich notiere wichtige Titel, die leider, leider nicht mehr lieferbar sind. Das dritte buch sein über Derrys Boogside, Eammon McCann ist der Autor, und …. plötzlich verstummt der beflissene Buchhändler. Ich folge seinem Blick über meine Schultern: Vor dem Laden sind zwei Panzerwagen und ein Dutzend Soldaten in Stellung gegangen. Ich sehe, zahle und gehe.

Wieder im Zug. Die Abteile füllen sich. Studenten. Eine junge Frau erwähnt, dass gemäss einer kirchlichen Umfrage die Boogside eine Arbeitslosenraten von 70% aufweise. Sie selbst sei Lehrerin, studiere aber weiter, etwas müsse sie ja tun. Ich erzähle ihr von meinen Erfahrungen. Ach, sagt sie wenig erstaunt, das gehöre alles zur gegenwärtig praktizierten Belästigungstaktik. Je besser sie einen kennen, desto öfter verlangen sie noch Papieren. Aber die Leute von Derry seien gute Leute. It’s a nice place to live. Und sie vervollständigt meine Leseliste. Das buch von Eamonn McCann heisst War in an Irish Town.

Was? Sie waren gerade in Londonderry? Der Mann an der Theke ist entsetzt. Niemand geht nach Londonderry. Von dort geht man höchstens weg. Ich trinke abermals Bushmills mit Guiness, das so dickschaumig daherkommt, dass man seinen Namen draufschreiben kann. Aber ich schreibe in mein Notizbuch. Ich schreibe auf, dass nicht weit von hier, in der Werft von Harland & Wolff, ausser anderen berühmten Dampfern, einst auch die Titanic von Stapel lief. Und der Mann an der Theke, der sich als Schotte entpuppt, witzelt weiter. You went to the worst places. Er finde es unverzeihlich, dass ich The Giant’s Causeway nicht besucht hätte. Die schönste Küste der britischen Inseln. Eines der sieben Weltwunder, sagt er. Ein anderes Weltwunder sei Margaret Thatcher. Weil niemand wisse, wie sie da hinkam, wo sie ist. Er lacht und ich lache mit. Oh, yes, Guiness is good for you.

Ach Nord-Irland! Meine Nachbarn verstehen sich auch nicht, sagt mir eine Bekannte. Seit Jahren schon müsse sie die Eskalation des Ehestreits auf dem Dreizimmerschlachtfeld nebenan mitverfolgen. Was sie von dem Geschrei mitbekomme, sei auch da absolut hirnlos. Mit umfallenden Stühlen fange es an, dann würden Vasen oder Schüsseln wie Bomben an den Wänden zerschellen oder einer verbarrikadiere sich in der Küche. Einmal sei der Fernseher auf den Balkon geflogen. Durch die geschlossene Glastür. Oh, sie habe auch schon eingegriffen, auch schon die Polizei alarmiert. Alles zwecklos. Schlimm daran sei aber, dass sie sich manchmal weise fühle, in Anbetracht von dieser Unvernunft. Dumm sei das.

Zündschrift
Erschienen in der Zeitschrift «zündschrift» von Franco Supino 1987
RMS Titanic
RMS Titanic, gebaut in Belfast sank am 15. April 1912