„MEITSCHI,
WAS
IST DORT
DRÜBEN
LOS-
GEWESEN?“
ODER
„HOCH LEBE
DER FRIDU!“

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FRIEDRICH
DÜRRENMATT,
WELTAUTOR
UND
BERNER

 

Er sei kein Kommunist, sondern Berner. Friedrich Dürrenmatt, GrossSchriftsteller, Maler, Weltautor, geboren in Konolfingen im Emmental, Bürger von Guggisberg. Ich bin gerne Berner, sagt er an einer anderen Stelle. Und der Berner Friedrich Dürrenmatt liebte es, über das All und das Nichts zu reden. Auch über die Sterne, über die Verlorenheit des Menschen im Universum. In seinem Arbeitsraum gewährte er Besuchern und Gästen einen ehrfürchtigen Blick durchs Teleskop. Man kam von weit her, um ihm zuzuhören, um sein grenzenloses Wissen ebenso wie seinen endlos langen Schreibtisch zu bewundern. Friedrich Dürrenmatt kannte sich aus in den entferntesten, unbekanntesten Konstellationen. Seine Besucher erzählten und schrieben auch unermüdlich von dem grossen Dichter, der eigentlich kein Dichter sein wollte, der dieses Wort sogar hasste, der sich Stückeschreiber und Schriftsteller nannte, eigentlich aber ein Denker und ein eifriger Maler war, ein grosser Geist und unter den Sternen zu Hause. Jedoch nicht alle Dürrenmattschen Bilder und Gleich nisse fielen vom Himmel. Manchmal inspirierte ihn die Milchstrasse, manchmal die Milchwirtschaft. Siehe Güllen, siehe Herkules und der Stall des Augias. Nennt er nicht Kühe beim Namen und hat eine Ahnung von der Mühe mit dem Mist? Später, viel später, genügt ihm in Durcheinandertal zum Bild sogar verschüttete Milch auf der Strasse. Von seinem Arbeitszimmer aus sah er die Sterne, doch betrachtete er die Alpen und ihre Vorberge, so vermochte er auch den Kirchturm von Guggisberg zu sehen, berichtet er. Ob es stimmt? Erwiesen ist: Friedrich Dürrenmatt sah weit hinaus ins All, tief hinein in die Geschichte unseres Planeten, aber den Kirchturm von Guggisberg, den verlor er nie aus den Augen.

„Seien Sie einmal Konolfinger.“ Wenn er den Mund auftat, dann sagte er etwas. Eine ländliche, auch eine bernische Eigenart. Friedrich Dürrenmatt redete nie um des Redens willen. Auch als er zu einer Art „Landes-Sender Dürrenmatt“ avancierte, füllte er keine Sendegefässe, absolvierte keine Sendeminuten, er sagte einfach, was er zu sagen hatte. Das weiss man inzwischen. Er redete ohne Floskeln, ohne modischen Begleitmüll, ohne sich mit Unausgesprochenem einzunebeln. Er setzte nichts voraus. Im Alter sagte Dürrenmatt manchmal in wenigen Worten unerträglich viel. Damit auch Zürcher und andere Nicht-Berner seinen Gedanken folgen konnten, sprach er nicht nur langsam, er pflegte auch währschafte Pausen einzulegen. „Ich rede langsam, ich bin auf dem Land aufgewachsen, und die Bauern reden auch langsam.“ (Persönliches über Sprache)
Um seine späte Prosa zu verstehen, muss man Dürrenmatts Stimme und ihren Tonfall im Ohr haben. Es war eine gemächliche, besonnene Art, sich auszudrücken. In dem monotonen Auf und Ab verbargen sich feine Untertöne, eine Prise Schalk war immer dabei. Da war eine ruhige Ernsthaftigkeit, auch ein Grad an Kontrolle, der sich wunderbar mit der eindrücklichen Blockschrift der jetzt einsehbaren Briefe und Textbücher deckt. Wie der Satzspiegel seiner letzten Bücher zeigt, machte er kaum mehr einen Absatz, denn Dürrenmatt sprach und schrieb, als wäre jedes Wort ein Satz und jeder Satz ein Aufsatz. Der Bezug zum unerschütterlich Bäuerisch-Bernischen ist unverkennbar. So zählen die Bauern auf den Viehmärkten im Emmental nach einem Handel ihr Geld: unbeirrbar. Rede und Schrift haben auch etwas Handwerkliches, sie sind nachvollziehbar. Ganz am Anfang der Stoffe bezeichnet sich Dürrenmatt selbst als Gedankenschlosser. Die Sprache war ihm nie Zweck, sie war seine Werkstatt, Worte sein Werkzeug. Seine Sätze sind oft einfach und perfekt wie ein Hammer, manchmal praktisch und bedrohlich wie eine Beisszange. Auch scharf wie eine Sichel konnten sie sein. „Der Verfasser ist kein Kommunist, sondern Berner.“ (Zehn Paragraphen zu Romulus der Grosse)
Dürrenmatt musste beschwichtigen. Seine Gedankenschlosserei kam zwar im bernischen Kriechgang daher, aber so zwingend, man fürchtete sich vor ihr. Nicht selten lief man weg. Journalisten wechselten in ihren Interviews vorschnell das Thema, wichen aus in kosmologisch Unverbindliche oder redeten über die Ausmasse von Dürrenmatts Schreibtisch. Dabei hätten sie mit den gesellschaftspolitischen Einsichten des Meisters spielend ihre Blätter füllen können.

Und mit grossen Worten wurde er auf Distanz gehalten. „Das Dürrenmattsche Weltverständnis“. „Der Koloss von Neuenburg in seinem Universum“. „Der Kosmos des Nobelpreiskandidaten“. Und immer wieder klassische Philosophie und Mythologie. Um seinen Figuren und Geschichten Leben einhauchen zu können, braucht aber auch ein Gedankenschlosser eine Erfahrungswelt. Die Welt, in der Friedrich Dürrenmatt von Kindsbeinen an verwurzelt ist, beschränkt sich geographisch auf ein erstaunlich überschaubares Gebiet. Von Natur aus kein Tourist, ohne Hang zum Abenteurer, in den entscheidenten Jahren auch durch den Krieg am Reisen gehindert, wird er früh sesshaft und tätig. In den Stoffen kreist er sie ein, seine damalige Erfahrungswelt. Vorwiegend gab es das Land, und das war Bern. „Ich emigrierte nicht, als ich diese Stadt verliess, ich nahm Bern mit mir als den Stoff, aus dem sich eine Welt formen liess, meine durch mich verwandelte Welt.“ (Rede zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Bern)

Stadt und Land. Bern und Konolfingen. Das Emmental in einem Text des jungen Friedrich Dürrenmatt: „Er ging die Hügel hinauf und über die langgewellten Berkämme den Hochebenen entlang, die sich vor dem fernen Gebirge mit verschneiten Tannenwäldern und verlassenen Dörfern lagerten.“ (Die Falle) Die vertraute Landschaft zwar, doch ist sie austauschbar, ihre Geschichgten und ihre Eigenart sind nebensächlich. Der eigentliche Ort der frühen Prosa ist die Stadt.

Als Vierzehnjähriger kommt Dürrenmatt mit seinen Eltern von Konolfingen nach Bern. Er kommt in jene Stadt, die in seinem Bewusstsein schon früh eine zentrale Rolle gespielt haben muss. Von Konolfingen aus führen alle Wege nach Rom über Bern. Bern war die Stadt des Kindes auf dem Lande, in Bern war mehr Leben als in Konolfingen, nach Bern fuhr man mit dem Velo, wenn etwas los war, beispielsweise um den Zeppelin zu bewundern. Der Gymnasiast Dürrenmatt wurde in Bern jedoch weder heimisch noch glücklich. In den Stoffen beklagt er eine Jugend schmerzhaftester Art: Erniedrigungen, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit. „Ich kam mit der Stadt nie zurecht, wir stiessen einander ab, ich tappte in ihr herum wie Minotaurus in den ersten Jahren im Labyrinth.“ (Labyrinth) Dem Studenten Dürrenmatt geht es nicht besser. Früh hat er sich entschieden, Schriftsteller zu werden, doch in den letzten Kriegsjahren fühlt er sich in dieser Stadt nicht nur vom Weltgeschehen ausgeschlossen, auch zu seinen eigentlichen Geschichten – zu seinen Stoffen, wie er sie später benennt – und damit auch zu sich selber, kann er nicht finden. Er irrt durch die verdunkelte Berner Altstadt, hört das Dröhnen der Bomber, sieht von der Katastrophe, die die Welt erschüttert, nichts als „die Schatten an der Wand“. (Turmbau) Der Umstand, nicht direkt betroffen, nicht beteiligt sein zu können, weist ihm zwar den zum Erfolg führenden Weg, als Schriftsteller die Welt in Gleichnissen darzustellen, vorerst tappt und irrt er, seiner Berufung doch noch nicht so sicher, weiter durch die Nacht. „Ich sehe mich mit meinen Freunden im „Klötzlikeller“ in der Gerechtigkeitsgasse zusammensitzen, hinten im schmalen Raum am langen Tisch, bei Weisswein, Brot und einem „Landjäger“, einer, harten, schmalen, salamiartigen Wurst, ich sehe mich nachts durch die verdunkelte Stadt nach Hause gehen, auf Umwegen, oft der Aare entlang, stundenlang, mit mir unzufrieden,
ohnmächtig auf eine Handvoll Erde verbannt, die von der Geschichte vergessen worden war (…).“ (Turmbau)

„Wenn die langen Nächte heransteigen, in denen die Winde beschworen werden, dass sie heulend über die Erde irren, sehe ich wieder die Stadt vor mir, wie an jenem Morgen, da ich sie zum ersten Male in der Wintersonne ausgebreitet am Fluss erblickte, der nahen Eisbergen entspringt und sie lautlos tief unter den Häusern umgleitet, indem er eine seltsame Schleife bildet, die nur gegen Westen offen bleibt und so die Form der Stadt bestimmt: Die Berge aber lagen damals wie in weiten Fernen im Dunst als leichte Wolken hinter den Hügeln von wo sie den Menschen nicht zu bedrohen vermochten. Sie war von wunderbarer Schönheit und oft durchbrach i der Dämmerung das Licht die Mauern wie warmes Gold, doch denke ich mit Grauen an sie zurück, denn ihr Glanz zer-brach, als ich mich ihr näherte, und wie sie mich umfing, tauchte ich in ein Meer von Angst hinab.“ (Die Stadt)

Die Stadt der frühen Prosa. Ein unbenannter Fluss mit seinen Brücken ist allgegenwärtig. Schritte in Lauben, Begegnungen unter Laubenbogen. Und das Haus in „einer Gasse (…) die nur von den reichsten der Stadt bewohnt wurde“ (Der Hund), kann nur an der Junkerngasse stehen. In dieser Stadt prallen die verlorenen und suchenden Gestalten in Dürrenmatts ersten Geschichten aufeinander und gegen sich selbst. Die Züge Berns sind erkennbar, doch ist es ein expressionistisch gestaltetes, düsteres Bern: Nebel, Regen, Betrunkene brüllen, Dirnen überall. Es ist die Stadt schlechthin, die Stadt als Falle, die Stadt als Labyrinth. Berns Eigenart ist Hintergrund, bestenfalls Staffage. Bern prägt auch die Sprache nur beschränkt. Ausser „Lauben“ findet sich kaum ein lokaler Begriff. „Mein Deutsch hatte ich aus der Literatur übernommen, es war eine Fremdsprache, untereinander sprachen wir nur Dialekt.“ (Labyrinth) In späteren Texten verwendet Dürrenmatt zwar statt „Lauben“ öfters auch „Arkaden“, aber nie wieder schrieb er eine Prosa so losgelöst von lokalem Bezug, so fern von bernischen Farben, Klängen und Rhythmen. Jahrzehnte später sollte er sogar des Schweizers, damit auch des Berners mangelnden Mut beklagen, vermehrt so zu schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: „Er verdrängt die Spannung zwischen seiner Mundart und der Schriftsprache, statt sie auszunutzen, statt die Sprache, die er schreibt, durch die Evidenz zu bereichern, die er unmittelbar empfindet, weil sie seinem Mittelhochdeutsch entstammt. Diesem Irrtum war auch ich verfallen, es brauchte Jahre, ihn zu überwinden.“ (Turmbau)

Bern. Berner. Bären. Bärlach. Kommissär (mit „ä“) der Kantonspolizei, Held der ersten Kriminalromane. Bärlach hat eine Adresse, er wohnt im Altenberg. Das heisst, nicht überraschend, er wohnt an jenem Fluss, der jetzt die Aare ist. Auch Bärlachs Bern ist äusserst düster, doch es gibt Lichtblicke: „Der Regen hatte nachgelassen, ja, plötzlich am Muristalden wurde Bärlach für Augenblicke in ein blendendes Licht getaucht: die Sonne brach durch die Wolken, verschwand wieder, kam aufs neue im jagenden Spiel der Nebel und der Wolkenberge, Ungetüme, die vom Westen herbeirasten, sich gegen die Berge stauten, wilde Schatten über die Stadt werfend, die am Flusse lag, ein willenloser Leib, zwischen die Wälder und Hügel gebreitet. Bärlachs müde Hand fuhr über den nassen Mantel, seine Augenschlitze funkelten, gierig sog er das Schauspiel in sich auf: die Erde war schön.“ (Der Richter und sein Henker) Noch klingt das Beschwörende der frühen Prosa nach, doch lichtet sich in den Kriminalromanen allmählich auch der expressionistische Nebel. Aber nicht um durch Realismus ersetzt zu werden, das berühmte Groteske hält Einzug. Gestörte Krankenschwestern, Mörder, Kriegsverbrecher tauchen auf. Da kommt das schwarzbefrackte Dienerpaar in Der Richter und sein Henker , da kommen der Zwerg und der riesige Jude Gulliver in Der Verdacht. Die Welt nimmt echt dürrenmattsche Züge an, nichts ist, was es scheint, aber mitten im Chaos sitzt ein bodenständiger Berner und zieht langsam und sicher seine Fäden, legt dem einen eine Schlinge, knüpft dem andern einen Strick. Wohl darf der ebenfalls groteske Kleinverleger Fortschig in Der Verdacht herzhaft über die Biederkeit „in diesem Nest von einer Hauptstadt“ herziehen, an einer andern Stelle sind die Berner „unwirklich in ihrer Biederkeit“, aber der Berner Bärlach, todkrank und todesmutig, hat jederzeit des Lesers Sympathie. Stur ist dieser Bärlach, echt bernisch hartköpfig, ein „Stieregring“, aber auch freundlich und zuvorkommend, rechtschaffen und wortkarg, Friedrich Glausers Wachtmeister Studer nicht unverwandt. Wie dieser ist Bärlach zwar „ein unerschütterliches Bild der Ruhe“, aber auch leicht bauernschlau, dennoch lebenskundig und auf zurückhaltende Art auch lebensfreudig. Bärlach kenn sich aus mit Wein, trinkt roten Neuenburger und verkehrt im „Du Théâtre“ und in der „Schmiedstube“. Noch heute gibt es in Bern diesen Typus, doch findet man ihn eher im „Della Casa“ oder in der „Harmonie“. Man sitzt dort länger und breiter auf seinem Hintern als in Zürich, auch nicht nach vorne gebeugt, sondern zurückgelehnt wie nur in Bern. „Mächtig und gelassen“ beschreibt Dürrenmatt seinen Bärlach. Eine Charakterisierung, die sich die besseren Herren, die in jenen Beizen mit „Bund“ oder „NZZ“ hinter ihren Zweiern und Dreiern sitzen, gerne gefallen lassen würden. Mächtig sind zwar weniger Berner, gelassen auch nicht, aber gelassen zu wirken gilt in Bern nach wie vor als tugendhaft.

Als ich ihn zum ersten Mal sah, kam mir Friedrich Dürrenmatt selbst so vor, wie er seinen Kommissär beschreibt. Der Meister stand auf der Bühne des Stadttheaters Bern und füllte diese, mächtig und gelassen, restlos aus. Er hielt eine Rede über Kulturpolitik. Er machte auch solche, als Auslandberner, wie er sich in seiner Rede nannte, indem er den eben empfangenen Literaturpreis an drei staatlich nicht geförderte Kulturschaffende weitergab. Einer von ihnen war Sergius Golowin. Liest man die gehaltene Rede heute. Leuchtet sie ein, wirkt sogar eher brav. Damals war sie ein Skandal, den sich Dürrenmatt auf der Höhe seines Ruhmes leistete. Dürrenmatt war damals mächtig, und er war so gelassen, wie ich noch nie jemand gesehen hatte, schon gar nicht einen Berner. Dort auf der Bühne stand jener grosse, massige und wuchtige Dürrenmatt, den der Maler Varlin porträtiert hatte. Ich sass oben, bestimmt im zweiten oder sogar dritten Rand, aber ich erinnere mich genau, dass ich, den räumlichen Verhältnissen zum Trotz, zu diesem Mann aufschaute, der so bedacht und so präzise seine Worte setzte. Wenige Jahre vorher war Der Meteor uraufgeführt worden. Unser Deutschlehrer an der Knabensekundarschule Viktoria hatte uns zwar neben andern eindrücklichen Texten von Andersch, Borcher und Johnson auch den Tunnel von Friedrich Dürrenmatt vorgelesen, er rühmte den Prosaisten Dürrenmatt, sogar den Kriminalautor, warnte uns aber eindringlich vor dem irregeleiteten Dramatiker. Ich empfand später selbst etliche Szenen in Dürrenmatts Bühnenstücken als verfehlt. Beispielsweise das ewig wiederkehrende Motiv der makaberen Geliebten, der Kebsweiber, Dirnen und Huren fand ich meistens nur effektvoll vorgeschoben, nie ausgeführt, es berührte mich deshalb als billig und kitschig. Was jedoch unseren Deutschlehrer und mit ihm viele andere damals störte, war etwas anderes. Man empörte sich weder über gewagte Sprache noch über sexuelle Freizügigkeit, es war auch nicht die angeblich im Meteor enthaltene Blasphemie, es war vielmehr Dürrenmatts Kühnheit, schweizerische und damit auch bernische Enge zu sprengen, was die Gemüter erhitzte. Dürrenmatts Hang zum grotesk Grandiosen, seine Wahl der Stoffe und Figuren und der darin enthaltene Griff nach den Sternen wirkten bei gängiger Selbstbeschränkung vermessen. Was der Koloss von Neuenburg tat, mochte die ganze Welt beeindrucken, in Bern wirkte es unbescheiden, deshalb unbernisch, also gefährlich.

Den Besuch der alten Dame sah ich zuerst im Kino. Der Film hiess The Visit. Eine viel zu edle Ingrid Bergmann als Ex-Prostituierte und reichste Frau der Welt erpresste darin mit unzimperlichen Methoden einen bulligen, schnaubenden, wiederkäuenden Anthony Quinn als Dorfgrösse mit Dreck am Stecken. Vielleicht weil ich Anthon Quinn kurz vorher als Sorbas gesehen hatte, kam mir die ganze Geschichte ziemlich griechisch vor. Mit Bern oder mit mir als Berner hatte das nichts zu tun. Und doch hatte auch diese Geschichte ihre Wurzeln, wie Dürrenmatt in Mondfinsternis nachweist, im kleinen Kosmos zwischen Konolfingen, Kiental und Neuenburg. Und Die Physiker? Da träumt Schwester Monika Stettler von einem Posten als Gemeindeschwester in Blumenstein, dem Geburtsort von Dürrenmatts Mutter. Und Frau Möbius erzählt, wie sie, als ihr Physiker-Gatte krank geworden sei, in einer Schokoladefabrik gearbeitet habe, um die Familie durchzubringen: bei Tobler. Die Anspielung auf Bern ist vielleicht witzig, für das Drama als solches aber nebensächlich. Viel präsenter in Bildern und Sprache ist Bern in der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet. Diese Endzeitvision ist ein eher unförmiges, übergeladenes Gebilde, eine sehr merkwürdige Form innerhalb Dürrenmatts Werk, doch hier greift er aus literarischen Gründen zu jenen farbigen Details, die ihm vertraut sind, er kommt zurück zu jenen Örtlichkeiten, denen er sich seit Kindsbeinen verbunden fühlt. Blümlisalp und Schrattenfluh, das jüngste Gericht am Berner Münster, Berner Trachten und Berner Platten und Berner Gassen noch und noch. Und wieder, diesmal in wehmütigem Ton, eine Gesamtansicht der Stadt mitten in einer zerstörten Welt: „In der Abendsonne sah ich dann die Altstadt vor mir. Sie lag scheinbar unberührt auf dem Felsrücken über dem Fluss. Das Licht durchbrah die Mauern wie warmes Gold. Die Stadt schien von einer wunderbaren Schönheit, dass in der Erinnerung an sie sogar der Anblick des Makalu und des Chomo-Lungma verblasst.“ (Labyrinth) Ein gewisses „Heimkommen“ gab es jedoch schon in einem früher entstandenen Prosatext, in dem unveröffentlichten Fragment eines Krimis, den Dürrenmatt weit weg von Bern, nämlich in der Karibik begonnen hatte. „In San Juan angekommen, schrieb ich am nächsten Tage (…) im Garten des Hotels Sheraton an einem neuen Roman, Der Pensionierte.“ (Sätze aus Amerika) Der Kommissär (noch immer mit „ä“) der Kantonspolizei heisst jetzt Höchstettler, und er geht nicht mehr durch die längst umbenannten Kessler- oder Metzgergassen, auch nicht wie Kommissär Bärlach den Nydeggstalen hinunter über die Aare in den Altenberg. Kommissär Höchstettler geht durch ein geliftetes Bern, dessen Zentrum sich verlagert hat. Er geht westwärts über die Passerelle am neuen Bahnhof in die Länggasse, wo er, siebenmal geschieden, alleine wohnt. Dürrenmatt war mit Berns baulichen Veränderungen sehr wohl vertraut. Auch andere Entwicklungen finden in dem Roman ihren Niederschlag: An Berns Aare badet man jetzt oben ohne, und gegessen wird nicht mehr in der „Schmiedstube“, sondern im „Café Commerce“, das in den sechziger Jahren vom Künstler- und Intellektuellentreffpunkt zu einem der beliebtesten Restaurants der Stadt mutiert hatte.

Friedrich Dürrenmatt privat. Kurz vor der Uraufführung von Achterloo lernte ich ihn in Neuenburg persönlich kennen. Ich war gefasst, an einem endlos langen Schreibtisch, umgeben von Staffelei und Teleskop, einen mächtigen, massigen und reservierten berühmten Mann anzutreffen. Ich begegnete einem leicht gebückten, ebenso freundlichen wie witzigen älteren Herrn. Und ich begegnete, einfach und direkt, einem Berner. Dürrenmatts Natürlichkeit beeindruckte mich auf der Stelle. Da war nicht die leiseste Spur von Prominentendünkel, auch nicht die geringste fremde Manieriertheit. Aus Dürrenmatts Art, zu sein und zu reden, sprach nichts als währschaftes Emmental. Er stand am Herd, bereitete Kalbshaxen zu, machte Witze. Er nannte sich einen unbeweglichen Menschen, demonstrierte gleichzeitig eine unglaubliche geistige Lebendigkeit. Dort in der Küche stehend, sah ich nicht mehr kolossal wie auf der Bühne des Berner Stadttheaters, ich sah ihn auch überhaupt nicht so, wie ihn Varlin porträtiert hatte. Liebenswürdig, gelassen und in sich ruhend kam er mir vor. Betrachtete er es in einer Welt der Vermassung nicht als die Hauptpflicht eines Schriftstellers, extrem sich selbst zu sein? (Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold) Mit den Worten, die er Xanthippe über ihren Mann Sokrates sagen lässt, hat sich Dürrenmatt auch selbst beschrieben: „Sokrates blieb Sokrates, eine Fähigkeit, welche die wenigsten Männer besitzen, zuerst sind sie Kinder, dann werden sie Männer, und wenn sie Männer geworden sind, werden sie Politiker, Feldherren, Dichter, Helden oder sonst etwas, nur nicht sich selber. Sie sind keine Männer mehr, sie spielen Männer (…).“ (Turmbau)

Dürrenmatt war Dürrenmatt. Ein eigenes Gesicht zu haben und es zu zeigen, seine eigene Sprache zu sprechen, sich selbst zu sein, diese bäuerisch-bernische Qualität wurde zunehmend Teil seines Wesens. Um dies zu erkennen, braucht es möglicherweise wenn nicht einen Berner, so doch einen Menschen von ähnlichem Schlag. Wenn beispielsweise der einst von ihm geförderte Sergius Golowin von Dürrenmatt spricht, entsteht auf der Stelle das Bild einer vollkommen eigenständigen, tief im Bernischen verwurzelten, unverwechselbaren Persönlichkeit. Ohne Zugang zu dieser Seite des grossen Dürrenmatt zu finden, wird es den Kritikern, Germanisten und Spezialisten, die sich jetzt mit ihm befassen, nie gelingen, seinem Leben und Werk wirklich gerecht zu werden.

Mit zunehmendem Alter konnte sich Dürrenmatt sehr wohl auch öffentlich als Berner geben. Seine bernfreundlichsten Aeusserungen finden sich in der Rede zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Bern. Nachdem er 1969 mit der Umverteilung des Preises des Kantons schockiert hatte, fand er 1979 verbindliche Töne. Offensichtlich war er wirklich gerne Berner. Er redete klug, nicht harmlos, machte aber keine Kulturpolitik, obschon er seinem Schalk freien Lauf liess. Das Geld schenkte er diesmal seiner Gattin. Liebenswürdig und plastisch erzählt er nebenbei, wie er schon 25 Jahre früher von der Stadt einen Literaturpreis verliehen bekommen hat.

„Der Literaturpreis der Stadt Bern, der mir heute verliehen wird, stellt ein Jubiläum dar: hatte doch die Stadt Bern mir schon einmal, im Jahre 1954, vor 25 Jahren also, einen Literaturpreis von 750 Franken vorliegen. Ich wurde damals in den Keller des „Erlacher Hofes“ gebeten, auch um halb sechs nachmittags, wie ich mich zu erinnern glaube. Ein neunköpfiger Gemeinderat und die Kulturkommission empfingen mich. Im weiteren fielen mir ein festlich gedeckter Tisch auf und links und rechts vom Eingang des Kellers je ein Tisch: auf dem einen türmten sich die Getränke, auf dem anderen die Zigarrenkisten. Der Stadtpräsident hielt eine kurze Ansprache, er bedaure, dass er nicht imstande sei, mir einen finanziell gewichtigeren Preis zu verleihen, aber das Parlament sei nun einmal so geizig, dafür hätte sich der Gemeinderat überlegt, was denn eigentlich in seiner Kompetenz liege, da hätte er herausgefunden, dass er das Recht habe, mich nach meinem Stande zu bewirten, und weil es heisse, der Geist sei das Wichtigste, sei der Gemeinderat den Statuten gemäss in der Lage, mich zu einem Nachtessen einzuladen, das er sonst nur den Staatsoberhäuptern anbieten dürfe. Meine Damen und Herren, es war nicht nur das beste, sondern auch das gewaltigste Abendmahl, das man mir darauf servierte, und um Mitternacht wurde vom „Bellevue“ eine immense Käseplatte herbeigeschafft, dazu die besten Havannas, eine mächtige Upmann ist mir noch in Erinnerung, trotzdem ich seit 71 Nichtraucher bin. Auch stellte sich gegen Morgen heraus, dass von den neun Gemeinderäten, die sich alle duzten, nur sieben solche waren: die zwei anderen waren der Hauswart und der Chauffeur. Kurz und gut, es war die schönste Preisübergabe, die ich je erlebt habe, und nicht einmal eine Rede musste ich halten.“

Dürrenmatts verbindliche Töne gegenüber Bern und gegenüber der Schweiz, seine Annäherung an seine Sprache und an seine Herkunft, wie er sie in Labyrinth betreibt, bleiben nicht unerwidert. Der Staat gibt sich die Ehre, zur Feier des 60. Geburtstages im Schauspielhaus Zürich erscheint der Bundespräsident persönlich. Es handelt sich um jenen Bundesrat, dessen Departement Dürrenmatt jahrelang überwachte. Ausgerechnet den Eigenständigsten der Eigenständigen hielt man für fähig, Hochverrat an der Eidgenossenschaft zu begehen. Absurde, groteske, dürrenmattsche Schweiz. Und auch in seiner engeren Heimat wurde mit einer ortsüblichen Verzögerung von rund zwanzig Jahren plötzlich sein Meisterwerk zur Kenntnis genommen. Die Emmentaler Liebhaberbühne inszenierte 1973 eine Dialektversion von Der Besuch der alten Dame.
Der Aufführung war viel Erfolg beschieden, bereits zweimal wurde sie vom Fernsehen ausgestrahlt. Dürrenmatt war populär geworden. Paul Born, der Schauspieler, der in der Rolle des Bürgermeisters auftrat, weiss treffend zu berichten, wie sich Friedrich Dürrenmatt mit Familie zu einer Vorstellung angemeldet habe. Seine Schwester habe ihm geraten, diese Aufführung keinesfalls zu verpassen. Die Alte Dame wurde damals in unzähligen Produktionen in aller Herren Ländern in allen möglichen und unmöglichen Sprachen gespielt, aber der Weltautor fuhr ins Emmental. Gesellig sei er gewesen, um ins Gespräch zu kommen, brauchte es keine griechische Mythologie. Dürrenmatt fühlte sich offensichtlich zu Hause. Er erzählte den staunenden Schauspielern, dass er seine Stücke am liebsten in Dialekt geschrieben hätte. Den Regisseur sprach er auf eine übersprungene Szene an, als dieser sagte, er habe bei der Uebersetzung dafür keine befriedigende Lösung gefunden, meinte Dürrenmatt, dann sei die Szene vermutlich von Anfang an schlecht gewesen und zu Recht gestrichen worden. Köstlich habe er sich an jenem Abend amüsiert, er habe fast nicht mehr gehen wollen, und als man ihm gesagt habe, eigentlich sei geplant gewesen, anstatt „Hoch lebe der Frieden!“ im Schlusschor des Stückes zu singen: „Hoch lebe der Fridu!“, da habe es Dürrenmatt „schier vertätscht“ vor lachen.

„Ich liebe Berndeutsch.“ (Persönliches über Sprache) In Durcheinandertal liefert Dürrenmatt einen späten Beweis. Vielleicht ist dieses Buch deswegen bei Nichtbernern auf gemischte Reaktionen gestossen. In Durcheinandertal macht Dürrenmatt ausgiebigen Gebrauch von jener Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache, deren Wert er erst spät erkannt hat. Noch nie verwendete Ausdrücke fallen ihm ein: „Lappi“, „Glünggi“, „Gottverdeckel“, getrunken wird jetzt der Kräuterschnaps aus der „Guttere“, die Anzeige der Polizei geht nicht verloren, sie wird „vernuschet“. Und Mani, der Milchbännenhund, verbeisst sich im „Füdle“ des Nachtwächters Wanzenried. Dann gelingt Dürrenmatt auch noch ein Satz von gotthelfschen Dimensionen:“Meitschi, was ist dort drüben los gewesen?“ fragt der Vater seine Tochter. Dürrenmatt muss erkannt haben, dass rund um eine Röstiplatte wohl langsam und wenig geredet wird, dass aber, was über die Hemmschwelle aus den Mündern rutscht wie der dicke Rahm auf der Milch über den Rand des Kruges, eine karge Prägnanz besitzt, der sich ein schreibender Konolfinger auf die Dauer nicht oder nur schwer entziehen kann. Es mag in Durcheinandertal um Höheres gehen, doch enthält dieser theologische Traktat in der Berner Bauernsprache verankerte Dialogsequenzen und wortwitzige Charakterisierungen von bodenständiger Bildhaftigkeit, die zum Schönsten gehören, was Dürrenmatt geschrieben hat. Die Passage, in welcher drei Polizisten mit „Liegestützen“ um die Gunst des Mädchens Elsi wetteifern, weil dieses nur mit dem Stärksten „hinauf“ will, erinnert in ihrer klassischen Derbheit sogar an Boccaccio und Chaucer. Auch Durcheinandertal ist eine Groteske echt Dürrenmattscher Art, aber sie ist sprachlich, topografisch und geschichtlich so nahe und nachvollziehbar, dass sie nicht nur philosophisch-literarisch beeindrucken, sondern auch schmerzen kann. Denn Durcheinandertal spielt nicht in Athen und nicht in Rom, sondern hier in der Schweiz.

Und zum Schluss Gotthelf. Brücken zum andern grossen Berner Autor aus dem andern Jahrhundert sind leicht zu schlagen. Niemand kann im Pfarrhaus von Konolfingen ohne die Geschichten des Pfarrers von Lützelflüh aufwachsen. Fest steht aber auch, dass Friedrich Dürrenmatt den Gotthelf bewunderte. Aus Zürich schreibt der zweiundzwanzigjährige Fritz seinen Eltern einen kunsttheoretischen Brief von hohem Niveau, in welchem er sich gleichzeitig von Gotthelf absetzt: „Ich ringe um die Form. Die Ideen habe ich schon lange. Gotthelf besitzt eigentlich keine Form, darum ist er kein Künstler im eigenen Sinn. Er ist ein Naturgenie, das die Kunst noch nicht besitzt und auch nicht braucht.“ Gewaltig unterschätzt der junge Dürrenmatt hier zwar den Formwillen Gotthelfs, doch der grenzenlose Respekt ist da. Dürrenmatt sollte Gotthelf auch sein Leben lang schätzen, lesen und auch verschenken. In Durcheinandertal schickte er mit seinem Elsi auch noch einen Gruss an Gotthelfs Elsi, die seltsame Magd. Aber sonst? Es liesse sich vielleicht argumentieren, es bestünde eine Kontinuität, Der Besuch der alten Dame sei schliesslich nichts anderes als eine neue Version von Geld und Geist, doch in Wirklichkeit eint die beiden grossen Berner wenig. Es eint sie ihre Herkunft und ihr Verhältnis zur Sprache, es eint sie das Handfeste, und es eint sie ihre Kraft. Es unterscheidet sie aber das eigentliche Grundmotiv ihres Schreibens. Wollte der Moralist Gotthelf den Menschen einen untrügerischen Spiegel vor die Nase halten, so war Friedrich Dürrenmatt – und das hebt ihn weit über Gotthelf, auch weit über den bernischen Zusammenhang hinaus – bekanntlich damit beschäftigt, mit seinem Werk einem vermeintlichen Gott selbst die Irrungen der Schöpfung vorzuführen.