Pioniere, Söldner, Knechte, Zuckerbäcker.
Schweizer und Schweizerinnen als Emigranten.
Ein kleiner historischer Überblick von Beat Sterchi

Auf Spanisch erschienen in: Suiza y la migración. Una mirada desde España, imagine ediciónes, Madrid, 2004

 

Der Onkel in Amerika

Lewis Hine, Ellis Island
Lewis Hine: Immigranten Ellis Island, New York, 1905

Der Onkel in Amerika ist immer reich. Der Onkel in Amerika hat es geschafft. Der Onkel in Amerika ist nicht selten Vorbild und Vorzeigeglied der Familie. Der Onkel in Amerika verkörpert jenen Freiheitsdrang, jene Unternehmungslust, zu welcher man sich selbst auch befähigt fühlen würde. Leider aber noch nicht dazu kam, sie unter Beweise zu stellen. Umso mehr macht der Onkel der ganzen Verwandtschaft Mut für die Zukunft.
Manchmal kommt der Onkel aus Amerika zwar aus Australien, aus Süd-Afrika oder in der exotischen, aber seltenen Variante, aus Brasilien.
Man kennt diesen Onkel in Amerika überall in Europa, also auch in der Schweiz.
Es gab und gibt in der Schweiz kaum eine Familie, die nicht einen Onkel in Amerika vorzuweisen hätte. Ich erinnere mich, dass ich als Kind sofort die Ohren spitzte, wenn die Rede auf den Onkel in Amerika kam. Denn Geschichten vom Onkel in Amerika waren spannend, holten die ganze Welt herein in die Stube und waren oft mit höchst brisanten Details verbunden. Eine meiner Grossmütter redete besonders gerne und oft mit vieldeutigen Untertönen von ihren zahlreichen Verwandten und Bekannten in Übersee.
Manch einer dieser Onkels aus Amerika ist so reich und angesehen zurück nach Hause gekommen, dass der rote Teppich ausgerollt und er mit einem grossen Bahnhof empfangen wurde. Nicht wenige waren aber zu ihrer Zeit buchstäblich abgehauen. Ausgebüchst, sagt man. Bei Nacht und Nebel, oft wusste gar niemand, wohin. Zurückgeblieben ist nicht selten eine unglückliche Mutter und ihr Kind, aber auch andere grössere oder kleinere Vergehen oder ein Schuldenberg, der so hoch war, dass er jegliche Zukunftsperspektive versperrt hätte. Manchmal war da auch ein selbstverschuldeter Konkurs, was vor noch gar nicht so langer Zeit vielerorts in der Schweiz als eine Schande galt.

Die Tante aus Amerika.

Der berühmteste Onkel aus Amerika der Schweiz ist allerdings eine Frau. Und zwar eine, die es nie wirklich gegeben hat. Sie heisst Claire Zachanassian, geborene Wäscher, Multimillionärin (Oil!) und Exprostituierte. Mit Schimpf und Schande wurde sie davongejagt, reich und mächtig kommt sie zurück, um sich an jener Gemeinde zu rächen, die sie verstossen hatte. Sie ist die Titelfigur aus der tragischen Komödie „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. (Verfilmt mit Anthony Quinn und Ingrid Bergmann.) Es ist nicht ohne Bedeutung, dass im Zentrum von diesem vermutlich erfolgreichsten literarischen Exportprodukt der Schweiz eine Emigrantin steht, die ihr Glück notgedrungen im Ausland finden musste. Wenn man es nämlich auch nicht erwarten würde, die Schweizer haben weit über die Landesgrenzen hinaus mitgeholfen, diesen Planeten zu besiedeln und zu bevölkern, der ohnehin schon immer vielfältiger von Menschen verschiedenster Herkunftsländer kreuz und quer durchdrungen ist, als er auf den ersten Blick preisgibt.
Mein persönlicher Onkel in Amerika war ebenfalls eine Frau. Ich hatte eine Patin in Kalifornien. Alljährlich schickte sie mir zu meinem Geburtstag ein Paket. Ich erinnere mich, dass es von der langen Reise meistens zerschlissen war und irgend einen amerikanischen Gegenstand enthielt, mit dem ich nichts anzufangen wusste. Ich weiss aber auch noch, dass ich mich in der Schule mit meiner Tante in Amerika ganz ordentlich brüsten konnte.
Als ich sie später – ich war schon erwachsen – auf der Durchreise von Kanada nach Mexiko besuchte, lernte ich eine Frau kennen, die ihre Emigration aus der Schweiz genau so einschätzte, wie das besonders in Amerika die meisten Emigranten tun: Sie zählen sich zu jenen Menschen, die stark und selbstbewusst genug sind, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, die „vorwärtskommen“ wollen und können.
Diese Emigranten betrachten sich gerne als Pioniere, als Vorreiter und Vorkämpfer, die aus den anderen Menschen herausragen. Sie verinnerlichen dazu die in jungen Ländern vorherrschenden Mythen und nehmen für sich in Anspruch, die beengenden Verhältnisse ihrer Herkunft überwunden und im Land der grenzenlosen Freiheit, für sich und ihre Kinder ein besseres Leben aufgebaut zu haben.
Besonders für die US-Amerikaner besteht kein Zweifel, dass ihr Land vorwiegend von starken, selbstbestimmten und mutigen Menschen besiedelt worden ist. Dass es durch die Jahrhunderte wohl eher mehrheitlich Unterprivilegierte waren, die in ihren Herkunftsländern so an den Rand gedrängt wurden, dass sie oft gar keine andere Wahl hatten, als auszuwandern, passt nicht gut in dieses Bild.

Auswanderungszahlen

Die moderne Auswanderung aus der Schweiz erreichte gemäss der offiziellen Geschichtsschreibung 1882/1883 mit rund 13 500 Personen einen Höhepunkt. Ziele waren die USA (83%) Argentinien (11%) Kanada (4%) Brasilien (2%). Zwischen 1820 und 1860 waren insgesamt bereits rund 37 700 Schweizer ausgewandert, bis 1870 folgten rund 23 300 und bis 1880 nochmals 28 000. Damals gab es in allen grossen Städten Auswanderungsagenturen, die sich später zum Teil in die heutigen Reisebüros verwandelten. Aber auch Behörden kümmerten sich um die Auswanderung.
1819 vermittelten beispielsweise diejenigen von Freiburg die Auswanderung von 2500 Menschen. Anders als die meisten Länder, die sie umringten, hatte die kleine binnenländische Schweiz weder Kolonien, noch wenig oder schwachbesiedelte Gebiete. Aber die Bevölkerung wuchs schneller als die für ein menschliches Leben benötigten Ernährungs- und Erwerbsgrundlagen.
1845 gründeten 118 Auswanderer aus Glarus in Green County, Wisconsin, die Siedlung „New Glarus“. Es gibt in den USA aber auch ein „New Berne“ und eine ganze Reihe kleiner und grösserer Ortschaften, die mit ihrem Namen auf eine Schweizer Gründung verweisen. Dann gibt es Orte, wie zum Beispiel „Stettler“ in der kanadischen Provinz Alberta, die den Namen eines Schweizer Geschlechtes tragen und so ihre Gründer ehren und verewigen.
Viele Auswanderer kamen aus strukturschwachen Gebieten (Tessin, Graubünden, Oberwallis, Berner Oberland). Die Überfahrt nach Amerika mit Segelschiffen dauerte 1760 noch 40-45 Tage, um 1880 mit Dampfschiffen nur noch 8 Tage.
(Historisches Lexikon der Schweiz)

General Sutter

Obschon sich die Zahl der Schweizer in den gewaltigen Auswanderungswellen, die von Europa aus vor allem nach Nord-Amerika schwappten, relativ bescheiden ausnahm, wurde doch einer von ihnen, nämlich Johann A. Sutter, auch General Sutter genannt, zu einem eigentlichen Symbol der Pionierzeit.
Im Alter von 31 Jahren war dieser Bürger von Runenberg bei Basel aufgebrochen auf der Suche nach einer neuen Existenz.
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wandelte sich Sutter vom Kaufmann zum glückhaften Abenteurer und schliesslich innerhalb weniger Jahre zum mexikanischen Generalgouverneur und zum sogenannten „König von Kalifornien“. Dort bei Sacramento gründete er das Fort Neu Helvetien und baute sich ein Reich auf, das nicht nur die Ausmasse etlicher Schweizer Kantone übertraf, sondern auch in der damaligen USA seinesgleichen suchte.
Sutters Aufstieg und sein anschliessender tragischer Fall waren so einzigartig, dass er mehrere literarische Werke inspirierte, wobei diejenigen des Schweizers Blaise Cendrars und des Österreichers Stefan Zweig die herausragendsten sein dürften.
Es war nämlich in einer von Sutters Sägemühlen, dass jenes Gold gefunden worden war, das 1849 den Goldrausch von St. Francisco auslösen sollte. Die Gier nach Gold fegte innert kürzester Zeit weg, was Sutter aufgebaut hatte. Noch kann man heute in Sacramento das von Sutter erbaute Fort bewundern, doch auf seinen ausgedehnten, ehemaligen Ländereien steht heute die Stadt San Francisco mitsamt ihren Vororten und der nach der alten Dame wohl berühmteste und erfolgreichste Auswanderer aus der Schweiz verlor alles, was er sich erarbeitet und aufgebaut hatte. Er soll noch während Jahrzehnten, nur noch ein Schatten seiner selbst, mit seinem hoffnungslosen Anspruch auf Gerechtigkeit in den Vorhallen der Gerichte in Washington herumgeirrt sein. Er starb so arm und unglücklich, wie er die Schweiz verlassen hatte.
Zweig hält in seiner Geschichte über die Entdeckung von El Dorado in „Sternstunden der Menschheit“ nämlich fest, Sutter habe sich bei seiner Auswanderung höchst eilig mit einem betrügerischen Ausweis in Paris etwas Geld beschafft, um sich dann in Le Havre nach New York eingeschifft, um möglichst rasch das Weltmeer zwischen sich und den Europäischen Gerichten zu haben. Bankrotteur, Dieb, Wechselfälscher habe er seine Frau und drei Kinder einfach hinter sich gelassen.

Köchin des Todes

Auch andere Schweizer Auswandererschicksale haben Eingang in die Literatur gefunden. Allen voran die grotesk fürchterliche Geschichte, die der Schriftsteller Jürg Federspiel minuziös recherchierte und unter dem Titel „Die Ballade von Typhoid Mary“ publizierte.
Auf der Überfahrt von Hamburg verliert ein Mädchen aus Graubünden seine Angehörigen. Mit mehr als 100 anderen Passagieren sterben sie an Typhus. Auch an Land in der damaligen Hafenstadt New York sterben zahlreiche Menschen, mit welchen das Waisenkind aus der Schweiz in Kontakt kommt. Die junge Frau wird schliesslich Kindermädchen, Haushälterin, Pflegerin und schliesslich Herrschaftsköchin. Aber wo sie hinkommt, sterben die Leute links und rechts an Typhus und es dauert einige Zeit, bis Mary herausfindet, dass sie es ist, die diese Krankheit verbreitet, selbst aber dagegen immun ist.
Ebenso tragisch endet in einem anderen bekannten Auswandererroman eine Geschichte aus dem 19.Jahrhundrt. Auf einer gewissenhaft recherchierten Basis von Fakten, erzählt die Schriftstellerin Evelyn Hasler in „Ibica oder das Paradies in den Köpfen“ von Schweizer Auswanderern und ihrem Schicksal in Brasilien. Von Agenten, die nicht weniger rücksichtslos vorgingen als die heute tätigen Schlepper werden sie um ihre spärlichen Mittel betrogen und anstatt das versprochene Paradies, erleben sie in ihrer neuen Heimat, die keine ist, nur Ungemach. Wie „Typhoid Mary“ stammen auch diese Auswanderer aus dem dreisprachigen Bergkanton Graubünden.

Ein Volk von Zuckerbäckern

Heute ist Graubünden ein anderer Kanton als vor 200 Jahren. Damals bildeten die Berge noch keine touristische Einnahmenquelle. Sie waren vielmehr ziemlich unfruchtbar, ungastlich und hauptsächlich einfach eine Behinderung für fast alle möglichen Erwerbszweige. Niemand kannte St. Moritz. Niemand wusste von Davos. Bei stagnierendem bis rückläufigem Fremdenverkehrsgeschäft kennt Graubünden gegenwärtig zwar auch gravierende Probleme, damals aber, mussten jährlich Tausende aus seinen Hochtälern auswandern. Und dies, wohlverstanden, bei viel geringerer Bevölkerung als heute.
Auch in anderen Bergkantonen ging es vor allem den auf Heimarbeit angewiesenen Kleinbauern zunehmend schlecht. Weber-, Färber- und Stickerfamilien wurden durch die im Ausland schon voranschreitende Industrialisierung ihrer Lebensgrundlagen beraubt.
Der Ausbau von neuen Passstrassen und vor allem der Bau der grossen Eisenbahntunnel, insbesondere des Gotthards, zwang ganze Talschaften, ihre über Jahrhundert ausgeübten Berufe aufzugeben. Mit den neuen Transportmöglichkeiten verloren nämlich nicht nur die Säumer und Fuhrmänner ihre Arbeit, sondern auch das zudienende Gewerbe der Wagner, dasjenige der Schmiede und das der Sattler, vom Gastgewerbe ganz zu schweigen.
Eigenartigerweise wählten viele der Tausenden von Auswanderer aus Graubünden, Zuckerbäcker als ihren Beruf. Man vermutet, dieser Beruf sei relativ neu gewesen, daher noch nicht durch die traditionellen Zünfte geregelt und deshalb auch Ausländern wie den Bündnern zur Ausübung offen gestanden. Die Bündner Zuckerbäcker fassten zuerst in Norditalien Fuss, sie breiteten sich aber auch in Deutschland, in Russland und in den damals noch schwach besiedelten Randstaaten Osteuropas aus. Da sie mit der Gewissenhaftigkeit und der Ausdauer lebenserprobter Bergler arbeiteten, wurde ihr Berufstand schnell zu einem Begriff.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte das Schicksal auch mehr als einen Zuckerbäcker mit seiner Familie nach Spanien. Andrea Pozzi aus Poschiavo liess sich in Bilbao nieder und gründete dort zusammen mit seinem Landsmann Orenzo Matossi das erste Café Suizo. In der Folge breiteten sich diese Schweizer Kaffeehäuser über ganz Spanien aus und bildeten eine Art Vorläufer moderner Geschäftsketten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es über 50, wovon einige heute noch existieren, wenn auch unter neuen Besitzern. Das berühmteste Café Suizo dürfte jenes von Pamplona sein, das in Hemingways berühmtem Roman „Fiesta“ den jungen Protagonisten wiederholt als Treffpunkt dient.

Spanisch-schweizerische Kuriositäten

Die Welt ist und war schon immer vielfältiger von Menschen verschiedenster Herkunftsländer durchdrungen, als sie auf den ersten Blick preisgibt. Dennoch bildet die Tatsache, dass der FC Barcelona ausgerechnet von einem Schweizer Emigranten gegründet worden ist vielleicht eine erwähnenswerte Kuriosität. Dieser Eidgenosse hiess Hans-Max Joan Gamper Hässig, wurde 1877 in Winterthur im Kanton Zürich geboren und soll ein hervorragender Sportler gewesen sein, als er 1899 den heute grössten Fussballklub der Welt in Leben rief. Heute trainieren die katalanischen Superstars zwar in einem nach ihm benannten Stadion, über die genauen Umstände, die Gamper nach Spanien führten, ist aber leider wenig bekannt. Umso genauer kennt man die ebenfalls kuriose Geschichte des Schweizer Maschinenbauingenieurs Marc Birkit. Er war mitverantwortlich, für das erste in Spanien gebaute Auto, dem allerdings wenig Erfolg beschieden war. Im zweiten Anlauf aber verband sich sein schweizerisches Know how mit spanischem Kapital und Birkit wurde 1906 in Barcelona Mitbegründer der Autofabrik Hispano-Suiza, die bald ein derartiges Prestige besass, dass sie mit Marken wie Rolls-Royce konkurrieren konnte.

Kriegsemigranten

Eine ganze besondere Gruppe von Emigranten bilden die sogenannten Spanienkämpfer, die Schweizer Freiwilligen in den internationalen Brigaden im Bürgerkrieg. Es waren zwar nur rund 700 meist junge Männer, für ein kleines Land wie die Schweiz aber eine grosse Zahl. Den Spanienkämpfern kam nicht nur aus ideologischen Gründen grosse Bedeutung zu, sondern auch weil die Schweiz, ausser einigen innerstaatlichen Scharmützel, seit weit über hundert Jahren keinen Krieg mehr erlebt hatte. Kein Wunder, dass diese Freiwilligen bis heute Projektionsflächen für die verschiedensten Hoffnungen und Träume, aber auch für Ängste und Verunglimpfungen geblieben sind. Natürlich hat sich auch diese schweizerisch-spanische Episode in zahlreichen Büchern niedergeschlagen. Das erwähnenswerteste ist sicher der umfassende Bericht „Spanien im Herzen“ von Hans Hutter, einem späteren Garagebesitzer aus Joan Gampers Heimatstadt Winterthur.
Hans Hutter schildert in seinem Buch sowohl die idealistisch romantische Aura, wie auch die grauenerregende Realität des spanischen Bürgerkrieges. Dazu gelingt es ihm auch noch, etwas von jenem Geheimnis einzufangen, das viele Schweizer jenseits von Sonne Meer und Strand an Spanien, an seiner Geschichte und seinen Menschen immer wieder neu fasziniert und sie bis heute, wenn auch zu friedlichen Zwecken, in dem bekannten Ausmass über die Pyrenäen strömen lässt.
Man könnte in den Schweizern, die freiwillig für die Spanische Republik gegen Francos Truppen in den Krieg zogen, auch geheime Nachfahren der Reisläufer sehen, welche während Jahrhunderten das weitaus wichtigste Kapitel schweizerischer Emigration geschrieben haben.
Es ist schwer, sich das Söldnertum und die Reisläufer als Riesengeschäft von ganzstaatlicher Tragweite zu vergegenwärtigen. Aber so war es.
Lange Zeit gab es hier aus den Bergen nichts zu exportieren als das, was in den machtpolitisch engagierteren Nachbarländern gefragt war: Jugendlichen Kraftübeschuss. Während sich die Jugend in Spanien, Frankreich und England und auch die Jugend der deutschen und italienischen Königsreicher in Eroberungen, Fehdekriegen und Familienstreitereien ihre Hörner abstossen konnte, mussten sich die Schweizer als Legionäre verdingen und unter fremden Fahne ihre Haut ziemlich billig zu Markte tragen.
Die Bedeutung der Reisläuferei war so gross, dass ihre politische Steuerung überall zu den hautsächlichen Regierungsgeschäften gehörte. Sie hatte die ökonomische Bedeutung eines heutigen Industriezweiges. Die Söldner wurden vermittelt, einzeln und in militärischen Verbänden fremden Regierungen gegen Bezahlung ausgeliefert. Alles in allem ein fürchterliches Handwerk und ein schreckliches Exportgut. Als die Schweiz also ihre intensivste Gastarbeitzeit durchmachte, war unser Handwerk der Krieg.
Dass es da allerlei Nebengeschäfte zu verfolgen und jede Menge Betrügereien gab, wissen wir unter anderem aus „Der Arme Mann im Tockenburg“, einem Klassiker der deutschsprachigen Literatur und eine der schönsten Erhebungen in unserer schweizerischen Literaturlandschaft. Darin erzählt Ulrich Bräker seine Lebensgeschichte, insbesondere von seinem Leben unter Söldnern in Preussen. Er war selbst alles andere als ein Held, ist er doch von skrupellosen Agenten überlistet und dann zum Kriegsdienst gezwungen worden. Lediglich das gnadenlos praktizierte Spiessrutenlaufen hielt ihn vom Desertieren ab.
Man sagt, wenn die jungen Männer ins Weite ziehen, so geschehe dies, weil keine schönes Mädchen bei ihnen sei. Es wäre schön, zu glauben, diese zu Tausenden in fremden Kriegsdiensten beschäftigten jungen Männer, wären nicht gezwungen gewesen. Handgeld zu nehmen war oft die einzige Möglichkeit, nicht zu verarmen. Von der Schweizer Reisläuferei ist bis heute die vor allem als Touristenattraktion bekannte päpstliche Schweizergarde in Rom übriggeblieben. Die etwas über Hundert Soldaten werden weiterhin in mehrheitlich katholischen Teilen der Schweiz rekrutiert. Ein weiteres Überbleibsel der schweizerischen Kriegsemigration bildet die legendäre Französische Fremdenlegion. Als die Schweiz 1848 in einer neuen Fassung fremden Kriegsdienst offiziell verboten hatte, wurden in Frankreich verbliebene Schweizer Söldner zu Tausenden in diese neue militärische Einheit übernommen.

Zahlen und Fakten

Dass das Reislaufen als eine Form von Emigration von grosser wirtschaftlicher Bedeutung war, mögen einige Zahlen belegen. Um 1750 herum standen 78 500 Mann in fremden Diensten, davon 22 100 in Frankreich, 20 400 in Holland, 9600 in Neapel, 10 600 in Sardinien-Piemont, 13 500 in Spanien, 350 beim Papst und 100 in Österreich. Aus diesem Soldatenhandwerk floss das Geld über verschiedene Kanäle in unser Land: für die Soldaten und Subalternoffiziere aus Handgeld, Sold und Beuteanteil, für die höheren Offiziere aus Entschädigungen und aus dem Reingewinn, den sie aus der Verwaltung ihrer Einheiten herauswirtschafteten, für die Regierungen zu Hause aus den Pensionen und Gratifikationen der anwerbenden Potentaten.
(aus: Schweizer Geschichte von Peter Dürrenmatt)

Viehzüchter

Noch gilt die Schweiz als reiches, hoch entwickeltes Land. Am Ende des Neunzehnten Jahrhunderts galten die Schweizer jedoch vielerorts als die Dorftrottel Europas. Die Verkehrswege, die Industrie, alles entwickelte sich etwas langsamer als anderswo. Man hatte sich auf die Viehzucht, auf die Produktion von Käse und auf andere, traditionelle Erwerbszweige versteift. Zwar begann die Uhrenindustrie aufzuleben, aber noch waren zum Beispiel Kühe ein wichtiges Exportgut.
Im hohen Norden Deutschlands, in Schleswig-Holstein kam ich in einer Kneipe einmal mit einem Mann ins Gespräch. Ich weiss nicht mehr, wie er aussah. Aber ich erinnere mich, wie er mich plötzlich, wohl mit etwas hochgezogenen Augbrauen anschaute und sagte:
Aber Sie sind nicht von hier.
Nein, antwortete ich, ich bin Schweizer.
Sie sind Schweizer? Er war belustigt. Dann sagte er: Ich auch.
So erfuhr ich etwas, das man mir möglicherweise in der Schule schon gesagt hatte, das ich aber vergessen hatte.
Dass in Norddeutschland „Schweizer“ zu einer Berufsbezeichnung für Melker und Stallknechte wurde, lässt erahnen, in welchen Dimensionen Schweizer auch zu diesem Zweck in alle Welt emigriert haben müssen.

Status

In den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts befand ich mich selbst während mehr 10 Jahren als Emigrant in Kanada. Über meine eigenen Motive zu emigrieren, bin ich mir noch heute nicht ganz im Klaren. Links und rechts sah ich aber andere Emigranten. Mehrheitlich waren wir alle ziemlich brave und normale Menschen mit ihren unterschiedlichsten Geschichten und Problemen, Freuden und Hoffnungen. Etwas schienen viele von uns doch gemeinsam zu haben. Viele von uns begeisterten sich vor allem für die Aussicht, in Kanada im eigenen Haus wohnen zu können, was ihnen zuhause, nach ihrer Einschätzung verwehrt geblieben wäre. Die Schweiz ist noch heute auch bei hohem Lebensstandard ein Volk von Mietern mit einem auch für europäische Verhältnisse sehr tiefen Prozentsatz von Eigenheimbesitzern.
Ich erinnere mich auch noch an endlose Diskussionen über rassendiskriminierende und über illegale Einwanderung. Wir diskutierten über die Probleme der Überfremdung, über die Unvereinbarkeit von Kulturen und Religionsgruppen. Wir stritten uns natürlich auch über die Vorrechte und Privilegien in deren Genuss man kam oder kommen wollte. Eigentlich stritten wir aber über die Zerbrechlichkeit jeder Identität und über die Zufälligkeiten, nach welchen der liebe Gott das Glück unter den Menschen verteilt.

Florida

Summierte man die touristische Teilzeitemigration der Schweizer und Schweizerinnen von heute nach Spanien, käme man auf sehr ansehnliche Zahlen. Spanien gehört heute zur helvetischen Erfahrungswelt. Strandferien und Urlaubsreisen in Spanien sind eine Selbstverständlichkeit. In Anbetracht der vielen Schweizer und Schweizerinnen, die Spanien zu ihrem Zweit- oder Alterswohnsitz gemacht haben, wird manchmal sogar von einer Floridarisierung gesprochen. Früher hiess emigrieren zur falschen Zeit, am falschen Ort in der falschen Familie geboren zu sein. In den vielen, der Mittelmeerküste entlang entstandenen Urbanisationen, wo die Schweiz als Nichtmitglied der EU sehr präsent ist, hat die Emigration längst ein positives Gesicht bekommen. Man emigriert, weil man will, weil man es sich leisten kann. Und Spanien bekommt uns sehr gut, ergänzt es doch sowohl unser Klima wie auch unseren eher zurückhaltenden Nationalcharakter.

Lewis Hine: Immigranten Ellis Island, New York, 1905