Ein Buch, das fehlt.

Man begegnet ihnen selten allein. Offensichtlich mögen sie Geselligkeit. Eine zurückhaltende, fröhliche Höflichkeit ist ihr Markenzeichen. Fest steht auch, dass sie Kinder lieben. Es ist aber noch gar nicht so lange her, da war es ihre Volksgruppe die den dumpfen Teil des öffentlichen Gemütes öfters erregte. Da waren sie es, die ebenso pauschal wie ungerechtfertigt beschuldigt wurden, als Drogenhändler viel Unheil ins Land zu bringen. Dazu machten sich viele von ihnen des Vergehens schuldig, in aller Öffentlichkeit schwarze Lederjacken zu tragen. Und zwar solche in tadellosem Zustand! Noch heute sehen sie sich in Tram und Bus manchmal aus unerklärlichen Gründen missbilligenden Blicken ausgesetzt. Wohl auch deshalb benützen sie mittlerweile lieber ihre eigenen Autos, deren Platzkapazitäten sie jedoch überdurchschnittlich gut auslasten. Ja, ein Tamile kommt selten allein.
Leider weiss ich kaum mehr als dies über ihn.
Ich weiss höchstens noch, dass die Tamilen auch aus einem kleinen, dicht besiedelten, multikulturellen Land stammen. Und ich weiss, dass sie nicht nur hier wohnen, sondern auch, dass ohne sie, fast nichts mehr ginge. Wenn ich in ein Restaurant oder in eine Beiz gehe, wird der am schlechtesten bezahlte Teil der Dienstleistung, die ich dort erstehe, von ihnen erbracht. Ich weiss, dass sie sich in Fabriken notwendige Arbeiten verrichten, die viele andere Menschen als unter ihrer Würde betrachten. Ich weiss, dass sie noch meistens hinter den Kulissen in Krankenhäusern, in Altersheimen, in kleinen und grossen Hotels unersetzlich und nicht mehr wegzudenken sind. Und ich glaube ihnen ansehen zu können, dass sie einer Kultur entstammen müssen, die an Komplexität der meinen in keinster Weise unterzuordnen ist.
Aber ich weiss nichts über ihre Lebenszusammenhänge hier, nichts über ihre Lebensphilosophie, nichts über ihre Religion, nichts über was es auch immer ist, das sie bei derart guter Laune hält. Ich weiss nicht, was sie von uns Bernern und Bernerinnen denken, obschon auch sie zu den Problemen von Stadt und Staat ihre Ideen, wenn nicht Lösungen haben müssen.
Bestimmt haben sie auch ihre Musik und bestimmt haben sie auch ihre Literatur. Dies hoffe ich ganz besonders. Denn bestimmt ist unter ihnen auch ein Mädchen, (es könnte auch ein Junge sein) das nicht nur hier geboren wurde und hier seine Jugend erlebt, das vielleicht als junge Frau am Gymnasium neben anderen nützlichen Dingen von der Notwendigkeit lernen wird, sich an einen Tisch zu setzen, um in einem dicken Buch alles aufzuschreiben.
Sie wird uns erzählen, wie das war, als ihre Eltern in die Kälte kamen, was sie dachten und fühlten, wie sie sich im Alltag zurechtfanden, was sie von den so andersartigen eingesessenen Bernern und Bernerinnen und ihren komischen Bräuchen und Gepflogenheiten dachten, was sie und ihre Familien für Konflikte zu bewältigen, was sie für Träume und Sehnsüchte hatten. Was sie sich für Geschichten und Witze erzählten. Wie Bern aussieht, durch ihre Augen.
Auf dieses Buch freue ich mich.

Berne Littéraire 1995 (PDF)

Erschienen in «Stadtanzeiger Bern»