Suchbilder zum Volksschriftsteller von Beat Sterchi
Erschienen in Passagen/Passages 42 (PDF)

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Was ist das überhaupt, ein Volksschriftsteller? Im Irrgarten schwieriger, teils sogar belasteter Begriffe ist Vorsicht geboten. Unter ‹Volk› kann man sowohl eine gesamtgesellschaftliche Einheit als auch, leicht herablassend, das kulturelle Fussvolk verstehen. Also jene anonyme Masse von Durchschnittsbürgern, denen meistens nur eine beschränkte Bildung zugestanden wird. Und ‹Schriftsteller› ist eine für viele Ohren nicht mehr ganz zeitgemässe Bezeichnung für einen schöpferisch mit Sprache arbeitenden Menschen männlichen Geschlechts. Ob unter den massgebenden Schriftstellern aller Landesteile der Schweiz heute einer zu finden wäre, der sich selbst als Volksschriftsteller bezeichnen würde, muss als sehr fraglich betrachtet werden. Bei einigen regional verwurzelten Mundart-Autoren mag dieser Anspruch zwar bestehen, ihre Bedeutung bleibt jedoch begrenzt.

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Ehemals war ein Volksschriftsteller nicht einfach nur Volksschriftsteller. Ein Volksschriftsteller war beispielsweise Pfarrer und dazu auch noch Volksschriftsteller. Oder er war Lehrer und Volksschriftsteller oder Naturforscher und Volksschriftsteller. Volksschriftsteller hatten des öfteren hauptberuflich mit dem sogenannten Volk zu tun. Der Volksschriftsteller lebte bei und mit dem Volk. Das heisst, er kannte es. Entsprechend vermochte der Volksschriftsteller sein Volk umfassend und treffend darzustellen. Diese Fähigkeit war sein Kapital. Eroberungen literarischen Neulandes wurden vomVolksschriftsteller in der Regel weder erwartet noch gewünscht.

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Der Volksschriftsteller schaute dem Volk auf den Mund und hielt ihm einen Spiegel vor. Manchmal zur reinen Belustigung der Leserschaft, manchmal auch mit mehr oder weniger offensichtlichen pädagogischen Absichten. Bei der Darstellung der Schwächen des Volkes schreckte er oft nicht vor Derb- und Grobheiten zurück, die in der für bürgerliche Salons geschriebenen Literatur der gehobenen Gattungen nicht vorkamen. Es gab auch Volksschriftsteller, die sich zwar nicht für das Leben des Volkes interessierten, wohl aber dessen Geschmack und dessen Bedürfnisse kannten und entsprechend bedienten. Zu dieser Gattung gehörte beispielsweise Karl May.

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Der Volksschriftsteller muss aber keineswegs anspruchslos, trivial oder gefällig sein. Was den wirklich bedeutenden Volksschriftsteller ausmachte und heute ausmachen würde, ist die direkte Klarheit, die nichts voraussetzt. Um einen Volksschriftsteller im Buch oder auf der Bühne zu verstehen, braucht es keinen Code. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht, Klasse oder Generation ist nicht Voraussetzung oder gar Bedingung zum Genuss seinesWerkes. Einer der grössten Volksschriftsteller aller Zeiten ist William Shakespeare. Jedoch nicht, weil er für das sogenannte Volk geschrieben hätte, sondern weil ihn auch dieses verstehen konnte, ohne dass er formale Abstriche machen oder sich gar anbiedern musste. Auch Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf und Johann Peter Hebel, um zwei der wichtigsten aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen, waren grosse Volksschriftsteller, denn sie konnten an sich amüsante, witzige, manchmal auch spannende Geschichten erzählen und gleichzeitig höchsten literarischen Ansprüchen genügen.

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Besonders auffallend ist, dass in der Schweizer Volksliteratur im Vergleich zur populären Gegenwartsliteratur die Arbeit, insbesondere das bäuerische ‹Schaffen›, eine gewichtige Rolle spielte. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass sich in vorindustriellen Zeiten das Tun und Lassen breiter Volksschichten ausschliesslich auf ihr Wirken und Werken von früh bis spät beschränkte. Weil das Volk viel arbeiten musste, wird auch in der Volksliteratur entsprechend viel gearbeitet. Ist bei Gotthelf oder auch bei Simon Gfeller einmal nicht die Arbeit selbst Teil von Stoff und Thema einer Geschichte, so ist der Arbeitsalltag doch jederzeit gegenwärtig und nicht wegzudenken. Eines der wertvollsten Bücher der Schweizer Volksliteratur, ja unserer Literatur überhaupt, das wunderbare Porträt einer kleinen, zwischen Alpweide und Weinberg imTalboden nomadisierenden Walliser Gemeinde, Das Dorf auf dem Berg von C. F. Ramuz, erzählt beinahe ausschliesslich von der Arbeit. Mit der Beschreibung aller anstehenden Verrichtungen im Jahreszyklus gelingt Ramuz nicht nur ein formal bestechend schönes, in jedem Sinn abgerundetes Buch, wie nebenbei liefert und dokumentiert er eine Fülle von historischen, soziologischen und ethnologischen Einsichten auf jene bestechlich einfach zugängliche, jedoch nie volkstümlichen Art, wie das nur ein ganz grosser Volksschriftsteller zu tun vermag.

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Heute ist die Arbeit in der Literatur auf Vorzeigetätigkeiten reduziert. Der Bauernroman wurde durch den Arztroman ersetzt. Lediglich der sozialistische Realismus versuchte, wenn auch vergeblich, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Gegen die Helden der Scholle haben sich Detektive und Spione mitsamt ihren arbeitstechnisch exotischen Wirkungsfeldern durchgesetzt. Die weniger attraktive Arbeit muss zwar auch heute in grossem Umfang geleistet werden, als Thema passt sie aber schlecht in eine Literatur, die bei einem steigenden Anspruch an ihre Unterhaltungsfähigkeit nicht mehr über die Gegenwart aufzuklären, sondern zunehmend von dieser abzulenken hat.

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Etliche Volksschriftsteller waren auch sehr erfolgreich. Mit den meisten heutigen Erfolgsautoren hatten sie aber wenig gemeinsam. Heute fürchten die Schriftsteller und die Schriftstellerinnen das Volk wie der Teufel das Weihwasser. Das sogenannteVolk ist nur mehr selten Gegenstand der Literatur. An Stelle des Volkes gilt ihre Aufmerksamkeit vorwiegend dem Individuum, nicht selten gar ausschliesslich dem Schriftsteller und dem eigenen Ich. Ganze Segmente und Schichten des Volkes kommen in unserer modernen Literatur kaum mehr vor. Auch was dem Volk allgemein wichtig ist, birgt die Gefahr, volkstümlich zu sein, in sich und verträgt sich schlecht mit den ästethischen Ansprüchen, welche die Literatur heute an sich stellt. Gegenwärtig, möglicherweise aber auch nur vorübergehend, vermag das Volksvergnügen Fussball etliche Schriftsteller zu verschiedenen Arten von literarischen Texten zu inspirieren. Fast alles, was sonst des Volkes Herz erfreut, wird als Schreibanlass und zur sprachlichen Erörterung dem Boulevard und den elektronischen Medien überlassen.Vielleicht sind die heutigen Nachfolger des Volksschriftstellers denn auch am ehesten unter den Autoren der Massenmedien zu suchen. Sie sind es, die Geschichten für ein breit gefächertes Publikum erfinden müssen, wenn auch ohne erzieherischen oder moralischen Auftrag.

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Bei den vielen Volksschriftstellern, die auch Dorfprediger, Pfarrherren oder Theologen waren, erstaunt es nicht, dass religiösen Themen in ihren Texten grosses Gewicht beigemessen wurde. Bei aller Zugänglichkeit wurden die grossen Fragen, die in der Literatur immer gestellt wurden, auch in der Volksliteratur nicht ausgeklammert. Auch hier unterscheidet sich die Volksliteratur drastisch von heute populären, mehrheitsfähigen Büchern. Die ewige, aber schwierige und anspruchsvolle literarische Gottessuche wird heute mit an Verantwortungslosigkeit grenzender Augenwischerei betrieben. Vordergründige Sofortheilsbringerliteratur erzielt beim Volk zwar gigantische Auflagen, hat mit der klassischen Volksliteratur, die es nach wie vor verdient, gelesen zu werden, aber wenig bis nichts zu tun.