Das Emmental ist eine Hügellandschaft. Seine Erhebungen sind zahme Bergzüge. Es gibt Alpweiden, Eggen, Chäpfe, Chnubel und Hubel. Oder einfach Höger. Einer dieser unzähligen Höger war mein Ziel.
Ich bestieg einen Hoger auf der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Luzern. Dort wo der Weg genau der Grenze entlang führte, ging ich also auch der Konfessionsgrenze entlang. Mit dem linken Schuh auf katholischem, mit dem rechten Schuh auf protestantischem Boden.

Da es mehrere Tage lang geregnet hatte genoss ich die vereinzelten Sonnenstrahlen, liess meinen Gedanken freien Lauf und meinen Blick in die Ferne schweifen. Links von mir sah ich den Kranz der Berneralpen, ihnen vorgelagert und noch schneebedeckt den Sigriswylergrat, die Sieben Hengste und den Hohgant. Rechts sah ich die sanften, zahmen Höger, Reihe hinter Reihe, bewaldet, gelichtet, grün und schön. Das Emmental! Eine tadellos aufgeräumte Landschaft.
Es war ein Wochentag, daran erinnere ich mich genau, und ich war deshalb überrascht oben auf dem Hoger eine Frau in einem hellen Regenmantel und mit einem Feldstecher anzutreffen. Sie schaute auf die Luzernerseite hinunter, in der Richtung eines am steilen Hang liegenden Hofes.
Daran, wie es zu einem Gespräch kam, erinnere ich mich nicht mehr. Grüsste ich zuerst? Grüsste sie? Sagte ich ein paar unverbindliche Worte? Ich weiss aber noch, dass sie einen deplazierten Eindruck machte. Sie war um die Vierzig, bleich, trug für die regenfeuchte Bergweide ungeeignete Halbschuhe, die wie ihre Strümpfe von der aufgeweichten Erde verschmutzt worden waren. Auch ihr Mantel hatte einige Lehmspritzer abbekommen. Mit der Tasche aus schwarz lackiertem Leder, die an ihrer Schulter hing, hätte sie auch an einer Tramhaltestelle in einer Stadt stehen können.
Als sie erfuhr, dass ich ein paar Tage Lese-Urlaub in einem nicht mehr bewirtschafteten kleinen Bauernhof verbringen würde, der nur noch zur Sömmerung von Rindern diente, ungefähr eine Stunde entfernt, kannte sie den Ort sehr genau, kannte auch die ehemaligen Besitzer und wusste etliches zu berichten über die Alpgenossenschaft, die den Hof vor einigen Jahren gekauft hatte.
Ich sagte darauf, sie sei sicher aus der Gegend, dass sie so gut Bescheid wisse. Sie hielt sich ihren Feldstecher wieder vor die Augen und antwortete plötzlich grob und böse:
Klar, ich chrampfe als Putzfrau und Küchenmagd auf diesem scheissigen Heimetli da unten! Aber, heute habe sie frei genommen, fuhr sie fort, was sie einen anstrengenden Streit mit dem Bauern gekostet habe, denn auch das Kindermädchen und die Waschfrau, ebenso wie die Glätterin und die Näherin und die Feld-, Wald- und Gemüsegartenmägde hätten heute endlich wieder mal auf ein paar freien Stunden bestanden.
Ich wunderte mich über die zahlreichen Bedienten. Wie zu Gotthelfs Zeiten, dachte ich und sagte, das müsse aber ein reicher Bauer sein, wo sie arbeite.
Ha, lachte sie schrill und höhnisch. Hier ist niemand reich. Wie auch? Bei diesem stotzigen Land auf dem sie das Gras immer viel zu früh schneiden müssen, weil sie den Kühen nichts mehr zu fressen haben. Hier in diesen Häuschen da unten ist niemand reich. Deshalb müsse sie auch krüppeln und chrampfen und siechen und klotzen und immer auch noch zwei Häuser putzen. Nein, fuhr sie fort, den Feldstecher vor den Augen, hier gibt es keine Reichen, nur grobe Chnubeln, sture Affen, Holzgrinde und Brüällicheibe, also Schreihälse, wovon besonders ihr Bauer der allergrösste sei. Als ob sie ihn gerade jetzt im Blickfeld des Feldstecherers hätte, sagte sie: Der! Reich! Reich? Mit so vielen Kindern! Und dann wieder mir zugewandt: Heute macht man doch nicht mehr alle Jahre ein Kind. Frauen sind doch keine Mutterschweine. Mir si doch keni Fährlimoore! sagte sie.
Kein Wunder, dass ihm die Seine davongelaufen ist. Geschieht ihm recht. Die hat sich in Langnau längst einen Freund genommen. Das kann ich gut verstehen. Wer das nicht verstehen könne, habe keine Ahnung vom Leben auf einem dieser kleinen Heimetli auf diesem stotzigen Land mit diesen chnubligen Holzgrinden von Luzernerbauern.
Ein paar Tage später führte mich auf einem Spaziergang der eingeschlagene Weg an diesem Heimetli des bösen Bauers vorbei. Ich sah niemanden, keine Kinder, keine Dienstmädchen, Küchenmägde oder Wäscherinnen, doch plötzlich schoss eine kläffender Hund um die Ecke und unter der Küchentür stand die Frau, die ich auf dem Hoger im weissen Regenmantel angetroffen hatte. Sie trug eine rotes Kopftuch, auf einem Arm ein Kind unter dem andern ein Wäschekorb. Sie hatte eine Schürze umgebunden und ihre Füsse steckten in grünen, kniehohen Gummistiefeln.
So geht es, sagte sie, ohne mich zu grüssen, der Bauer hat noch einmal Glück gehabt. Heute sind wieder sämtliche Angestellten im Dienst. Und die Bäuerin ist auch wieder zu Hause!
Darauf kicherte sie vieldeutig, hob die Schultern, seufzte und erkundigte sich freundlich nach meinem Wohlergehen und dem Verlauf meines Spazierganges.

Erschienen in «Reformatio» 47/3 Juni 1998