Mazedonien
Mazedonien

Ein Reisebericht aus der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien

Bücher

Als ich in den beiden bernischen Bücherwarenhäusern nichts zu Mazedonien gefunden hatte, fragte ich noch im Riesebuchladen nach. Die Verkäuferin an der Kasse tippte auf ihrer Tastatur herum, blickte ungeduldig auf den Bildschirm und schüttelte den Kopf. Sie sah dabei irgendwie unglücklich aus.
”Machen Sie sich keine Gedanken”,sagte ich, ”Ihre Konkurrenten mit den grossen Läden haben auch nichts”.
”Es gibt aber auch nichts”, sagte sie leicht frustriert.
Nicht einmal die ehemals berüchtigte Osteuropabibliothek hatte viel zu bieten. Jedenfalls nichts Aktuelles. Und nicht auf Deutsch und auch nicht auf Französisch oder Englisch. Dafür war der Bibliothekar, der sich als Pole ausgab, äusserst hilfsbereit. Er brachte mir eine für kapitalstarke Geschäftsleute gedachte Beilage der Fankfurter Allgemeinen Zeitung, auch ein Handbuch Jugoslawien für Autofahrer und Rucksackreisende aus dem Jahr 1987, das zumindest Pläne von Skopie und wertvolle kunsthistorische Hinweise enthielt. Die FAZ-Beilage dagegen bestand ausschliesslich aus Artikeln, die versuchten, investitionstechni¬sche Vorbehalte gegenüber dem jungen Land zu widerlegen.
Lachend sagte der polnische Bibliothekar zum Abschied: ”Sie fahren in ein neues Land, über das Sie nichts wissen, das ist doch aufregend, als ob Sie mit der Lektüre eines Romans beginnen würden”

Fruchtsalat

Gelesen hatte ich zwar Zeitungsartikel, die direkt oder indirekt mit dem Land Mazedonien und seinem Umfeld, das heisst mit seinen Nachbarstaaten zu tun hatten. Ich informierte mich auch täglich über die Entwicklungen in der Provinz Kosovo, speicherte dazu allerlei balkanesische Informationssplitter. Ich wusste zum Beispiel, dass in Albanien seit Anfang Oktober mit Pandeli Maiko der jüngste Ministerpräsident Europas regiert oder dass Bulgarien die Menschenrechte nur mangelhaft respektiert, sich wirtschaftlich und touristisch dagegen im Aufwind befindet.
Zugleich verfolgte ich die in Mazedonien selbst erst zum zweiten Mal stattfindenden Parlamentswahlen, doch kommt man durch Wahlanalysen nur beschränkt zu Bildern, zu keinem Gefühl für die betroffenen Menschen.
Ich erinnerte mich auch daran, dass ich vor 3o Jahren auf einer Autostopreise nach Griechenland zusammen mit einem Freund schon einmal in Mazedonien übernachtet hatte. Von dieser Reise besitze ich sogar noch in ein Schulheft geklebte Bilder von Venedig, Dubrovnik und Skopie. Auch eine Autobuska karta von Pec nach Pristina ist dabei. Offensichtlich hatte es in Jugoslawien mit dem Autostop nicht ganz so reibungslos geklappt, wie wir uns das vorgestellt hatten.
Auf einem der Fotos stehe ich dünn und jung an einer Hauswand. Die Bildlegende lautet: Jugendheim Skopie.
Auf einem andern Bild lasse ich mir von einem ländlich gekleideten Mann mit einer Schiebermütze gerade die Schuhe putzen. Er sitzt auf einem Stuhl mit abgesägten Beinen am Rand des Trottoirs einer breiten, grosszügig angelegten Strasse. Verkehr ist keiner zu sehen, jedoch sehr viele Fussgänger und auf beiden Seiten des Boulevards grosse, noch eingerüstete Wohnblöcke. Ich glaube mich erinnern zu können, dass uns damals, nur etwa 5 Jahre nach dem Erdbeben von 1963 ganz Skopie als eine einzige Baustelle erschien.
Genau erinnere ich mich daran, dass in dem Jugendheim auch bulgarische Bauarbeiter einquartiert waren, die zum Aufbau des ”Bruderlandes” hergekommen waren. Es waren herzliche Männer mit braungebrannten Gesichtern und schwieligen, grossen Händen, deren Sprache wir zwar nicht verstehen konnten, die aber gerne mit uns beiden Jungs aus dem Westen scherzten und lachten. Sie boten uns zuerst von ihrem Essen, dann aus einer grossen Flasche von ihrem Schnaps an. Ich glaube mich auch erinnern zu können, dass sie bald fröhlich zu singen begannen, während ich mich mit dem ersten schweren Rausch meines Lebens auf die mir zugewiesene Pritsche legen musste.
Dass mir die politische Situation des damaligen Jugoslawiens nicht völlig unbewusst war, beweist das Bild eines antiamerikanischen auf den Vietnamkrieg bezogenen Slogans auf einer Bretterwand: MR. JOHNSON STOP WITH KILLING.
Vermutlich genoss ich es, hinter dem eisernen Vorhang eine Welt mit umgekehrten Vorzeichen zu sehen.
Aber in Wirklichkeit wusste ich sowohl damals wie heute eigentlich nichts.
Umso mehr freute ich mich auf die zweite Chance, ”Weltanschauung” vor Ort betreiben zu können.
Auch die Tatsache, dass rund 30 000 Männer und Frauen aus Mazedonien in der Schweiz leben und an unseren nördlichen und südlichen Grenzen weiterhin Tausende von Flüchtlingen aus dieser Balkanregion um Asyl nachsuchen, schürte meine Neugier auf ein Land, das bis anhin in meinem Bewusstsein keinen erwähnenswerten Raum eingenommen hatte, dessen Name kaum mehr als die Assoziation mit Fruchtsalat auslöste, da dieser in andern euro¬päischen Ländern bekanntlich macedonia oder macédoine genannt wird.

Kosovo

Und den Dichter Oleg habe ich angerufen. Oleg Dementienko ist ein mazedonischer Lyriker, der mir im Frühjahr in Bern zusammen mit einem Band seiner ins Englische übersetzten Gedichte seine Visitenkarte in die Hand gedrückt und später aus Amerika eine Ansichtskarte von New York mit Best Regards from L.A. und Las Vegas geschickt hatte.
”Am 21. Oktober komme ich nach Mazedonien, denkst du, jemand würde mit mir nach Pristina fahren?” fragte ich ihn.
”I will go with you”, sagte Oleg. Jetzt sei dies nicht gefährlich, wohl aber, wenn es zu den angedrohten Luftangriffen auf serbische Stellungen kommen sollte.
Dann fügte Oleg noch hinzu: ”Du musst aber wissen, dass die Albaner gerissene Leute sind. Die wollen einfach ihr Grossalbanien. Mit allen Mitteln. Ich weiss nicht, was man bei Euch in der Zeitung liest, diese Massaker, von welchen man viel hört, das sind zum Teil Vergeltungsschläge der Kosovo-Albaner gegen ihre eigenen Leute. Wer bereit ist, mit den Serben zu kollaborieren, muss daran glauben”.
”Aber das sind Anschuldigungen, die man nur machen kann, wenn man Beweise hat”, sagte ich am Telefon.
”Du wirst schon selber sehen!”

Luftbilder

Die Swissairmaschine war ausgebucht. Einer der Fluggäste war John Lurie, offensichtlich mit seiner Band The Lounge Lizzards unterwegs zum gerade stattfindenden Skopie-Jazzfestival. Kaum verändert seit seinem Auftauchen in dem Film Down by Law, auch nicht wesentlich anders gekleidet, stand er mit einem kleinen schwarzen Instrumentenköfferchen in Kloten im Warteraum.
Ich war mit der Kollegin Gisela Rudolf und mit dem Kollegen Franco Supino unterwegs.
Nachdem im Frühjahr einige mazedonische Autoren und eine Autorin im Rahmen eines sogenannten Kulturaustausches ein paar Tage in Bern geweilt hatten, erwiderten wir nun deren Besuch.
Von Jugoslawien – war es noch Slowenien, Kroatien oder schon Bosnien? – gab es während des Fluges aus dieser Höhe kaum mehr als sich unablässig ineinander hinein und wieder hinausvernestelnde graubräunliche Täler zu sehen. Sie waren sich alle ähnlich und zahllos.
Als sich der Kapitän über die Lautsprecheranlage kurz vorstellte und uns allen einen guten Flug wünschte, erwähnte er auch, dass wir gleich Sarajewo überfliegen würden. Ich sah aber nichts davon, denn inzwischen hatte sich ein lauschig-flauschiger, von einer strahlenden Sonne beleuchteter Wolkenteppich zwischen uns und die verbrannte Erde Ex-Jugoslawiens geschoben.
Erst beim Anflug von Skopie tauchte der Airbus in die weisse Fülle, die sich in Fetzen lüftete und den Blick auf ein halbes Dutzend über einen Hügel verstreute, deutlich durch eine Naturstrasse zu einem Bergdorf zusammengehaltene Häuser freigab.
Von dort schlängelte sich die breiter werdende Strasse hinunter in eine herbstlich braun-grünliche, von geraden, auf dem Reisbrett geplanten noch grösseren, sich netzartig ausbreitenden Strassen durchzogene Ebene, die bald durch eine Autobahn von Norden nach Süden in zwei Teile geschnitten wurde. Das konnte nur der berühmte Autoput sein.
Während des Sinkfluges weitere erste Bilder: Stoppelfelder, eine Kiesgrube, Reben, auf gigantischen, quadratischen Flächen. Dann parzellierte Siedlungen, Häuser, die sich kilometerweit den geraden Strassen entlang aufreihten. Viele hatten auf der von der Strasse abgewandten Seite Ställe und Wirtschaftsgebäude angebaut. Autowracks, Leiterwagen und landwirtschaftliche Maschinen waren zu sehen, auch vereinzelt weidende Ziegen und Schafe. Auf den Strassen wenig Verkehr.

Projekt

Die Landung war sanft, händeklatschend wurde sie verdankt.
Der Airbus hielt vor einem niedrigen, ziemlich unauffälligen Empfangsgebäude. Ausser einem Militärhelikopter und einem alten Transporter war kein anderes Flugzeug zu sehen, aber in einer Baugrube stand ein gelber, stark angerosteter Bagger älterer Bauart. Er wurde umringt von einem halben Dutzend Männern, die sich alle gelangweilt auf eine Schaufel oder sonst auf ein Werkzeug stützten und uns beobachteten, als hätten sie schon lange keine aussteigenden Passagiere mehr gesehen.
Ich beobachtete sie meinerseits. Ihre verwaschenen und geflickten Blaumänner erinnerten mich an Sträflingskleider, aber noch während ich in ihren Gesichtern freundliche Ohnmacht und grenzenlose Geduld und auch in dem offensichtlich in Panne geratenen Bagger etwas Aufschlussreiches meinte erkennen zu müssen, nahm ich mir vor, fortan keine weiteren sozialismuskritischen Osteuropaklischees mehr aus meinem Projektionssack hervorzuzaubern.
Allerdings vergeblich.
Schon gleich nach einer überschwenglich freundlichen Begrüssung in der Empfangshalle des Flughafens durch unsere mazedonischen Kollegen und Kolleginnen, wurden wir mit der Aussicht konfrontiert, für den Rest des Tages irgendwelche, als Sehenswürdigkeit eingestufte religiöse Kunstdenkmäler anschauen zu müssen. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass man uns noch vor wenigen Jahren in eine Fabrik oder auf ein staatliches Wein- oder Tabakgut geführt hätte, was mich alles viel mehr interessiert hätte als verstaubtes Schnitzwerk, Ikonen und schöne Aussichten.

Brücken

Zum Glück wusste ich dank dem Reiseführer aus der Osteuropabibliothek von einer gewissen Türkischen Brücke im Zentrum von Skopie. Ich brachte vor, dass ich mich am liebsten dort vorerst allein und sachte der völlig unvertrauten neuen Welt annähern möchte.
Die Türkische Brücke erwies sich als Brücke jener Art, die Jahrhunderte, ganze Epochen miterlebt und geschichtliche Entwicklungen überhaupt möglich gemacht haben und die im Alter noch immer schöner, eigentlicher werden. In Die Brücke über die Drina hat Ivo Andric die Geschichte einer solchen meisterlich gestaltet.
Auf dieser Brücke hier sitzen Strassenhändler und Marktfrauen. Ein eleganter Herr mit Hut und roter Kravatte preist seine in Flaschen abgefüllte Medizin. Ein Mädchen hält auf einem kleinen Tisch elastische Rheumaverbände feil. Um auf sich aufmerksam zu machen, klopft ein Schuputzer mit einer Bürste an den Kasten, hinter dem er unbeschäftigt kauert. Ein Junge möchte Kugelschreiber mit vier verschiedenfarbigen Minen unter das vorbeiströhmende Volk bringen. Und unter den neun Bögen der Brücke fliesst begradigt und gezähmt, gesäumt von einer grosszügig angelegten Uferprommenade, der Fluss Vardar gegen Süden Richtung griechisches Mittelmeer.
Die jüngeren Passanten scheinen nicht weniger in Eile zu sein als anderswo, die älteren sind familienweise und langsamer unterwegs, sie gehen mit Taschen und Plastiktüten behangen, als weilten sie vom Land zum ausserordentlichen Einkauf in der Stadt. Die Männer tragen Mützen und gestrickte Kappen, viele der Frauen blassfarbene Kopftücher und bodenlange, formlose graue und braune Mäntel. Auch Bettler sind da, verwahrloste Kinder und demütige Greise.
Vermutlich begann mit der Türkischen Brücke die Existenz von Skopie und noch heute bildet sie für Fussgänger die kürzeste Verbindung zwischen dem türkischem Basar und dem neuen Geschäfts- und Einkaufszentrum, zwischen Alt- und Neustadt und ist damit auch Bindeglied zwischen den nebeneinander lebenden Religionen.

Konsum

Der erste Laden, den ich betrat, war ein ziemlich altmodisches Warenhaus, das im Erdgeschoss regalweise billige Plastikspielsachen, Unterwäsche, Geschirr und allerlei Küchengeräte allesamt ziemlich unspektakulärer Machart anbot. Das Licht war bläulich fahl, der grosse Verkaufsraum erinnerte in seinen Farben an die Notfallstation eines Spitals. Auch die zugebundenen weissen Kittel der Verkäuferinnen und die darüber getragenen Schürzen aus durchsichtigem Plastik verstärkten die klinische Athmosphäre.
Hier gab es Mineralwasser für fast nichts und Mäntel für 12.- Franken. Kunden gab es trotzdem nur ganz wenige. Sie standen wartend in der Parfümerieabteilung, wo eine Verkäuferin das gewünschte Parfum aus einer der grossen, wie in einer Bar der Schnaps an der Wand stehenden Flaschen abfüllte.
Wieder auf der Strasse erfuhr ich von der uns begleitenden mazedonischen Kollegin, dass dieser Laden nur aus Griechenland geschmuggelten Ramsch anbieten würde.

Orientierung

Ich kaufte mir dann in einem Laden, der aussah wie eine Mischung zwischen Buchhandlung, Papeterie und Souvenirshop einen Plan von Skopie. Bedient wurde ich von drei Verkäuferinnen. Nachdem ich darauf gezeigt hatte, holte die erste Verkäuferin den Stadtplan aus dem Schaufenster, die zweite steckte ihn in eine Plastiktüte und die dritte wartete an der Kasse geduldig, dass ich bezahlte, denn noch bekundete ich Mühe mit dem neuen Geld, noch überschätzte ich die ungewohnt grossen Münzen. Etliche waren so gross wie ein Fünffrankenstück, waren aber, wie sich herausstellte, nur wenige Rappen wert. Erst als die drei Verkäuferinnen zu kichern begannen und eine von ihnen auf die bunten Scheine in meinem Geldbeutel zeigte, suchte ich einen passenden heraus.
Der Stadtplan war aber viel zu wenig detailliert, um mehr als einen allgemeinen Überblick bieten zu können. Er taugte nicht, um mir eine eher grundsätzliche Orientierungslosigkeit überwinden zu helfen. Man müsste doch gerade in einer fremden Stadt genau wissen, wo sich Norden und wo Süden befindet! Wo wäre das Zentrum Europas und in welcher Richtung hätte ich loszugehen, wenn ich mich zu Fuss nach Griechenland begeben möchte?
Weil man dadurch abermals davon abgehalten wird, sich selbst zu orientieren, verstärkt das Abgeholtwerden am Flughafen diesen Zustand. Man schaut in Bus, Taxi oder Privatwagen zwar angestrengt zum Fenster hinaus, aber während man auf höfliche Bemerkungen ebenso höfliche Bemerkungen zurückzugeben versucht, verliert man jegliche Übersicht. Die Autobahn zum Zentrum oder zum Hotel wird über schwindelerregende Loops erreicht und die Erhebung, die eben noch klar links war ist jetzt rechts, dann wieder links, und während schon die ersten Vorstadtsiedlungen aus Plattenbauten, die man sich auch hässlicher vorstellen könnte, auftauchen, ist man noch immer unfähig, die genaue Himmelsrichtung anzuzeigen, aus welcher man angeflogen kam.

Narben

Was anderswo ein grüner Rasen, ein asphaltierter Autoabstellplatz alles verdeckt, das ist hier in vielen Strassen allgegenwärtig. Stromversorgung, Wasserleitungen, Kanalisation.
Seit Skopie am 26. Juli 1963 von einem der schlimmsten Erdbeben aller Zeiten völlig zerstört wurde, ist es eine ungeschminkte Stadt geblieben.
Es war morgens um 05.16. Die Zeiger an der Uhr am seither stillgelegten alten Bahnhof erinnern heute noch daran.
Auch heute fehlt es nicht an gigantischen Baustellen und die Struktur der Stadt ist für den Neuankömmling so leicht nicht zu durchschauen.
Am Horizont wechseln sich verstreute Türme von Geschäfts- und Verwaltungsbauten ab mit den Minarets der Moscheen. Es wimmelt von unfertigen Gebäuden, in vielen Strassen gibt es Lücken mit brachliegenden Grundstücken. Überdimensionierte Kolossalbauten zeugen von einem schnellen, oft auch grössenwahnsinnigen Wiederaufbau. Das Nationaltheater sieht aus wie eine gigantische Sprungschanze, ein schlicht unvorstellbares Monstrum. Auch die Universität erinnert an das betonierte Hirngespinst eines Architekten, der keine Zeit mehr fand, die Ausführung seiner verspielten Pläne angemessen zu überwachen. Mitten im Zentrum steht ein Einkaufspalast nach holländischem Vorbild von einer Grösse, die sämtliche schweizerischen Massstäbe sprengen würde. Hier gibt es in Passagen und auf Gallerien in schicken Schuh- und Kleiderläden alle bekannten Marken und Moden, auch CD-Shops, trendige Cafés, Eisdielen so weit das Auge reicht, aber von einem Dutzend oder mehr, nur eine einzige Rolltreppe, die sich auch bewegt.

Fussgängerstreifen

Da steht eine Maschine, da stehen noch Farbeimer auf der Strasse, da steht ein Lieferwagen mit geöffneter Hecktür, da steht ein Verkehrssignal, da stehen Männer, in weissen Overalls, rauchen und lassen die Farbe trocknen, bevor sie die Hinweistafeln neu plazieren und die andere Hälfte des Fussgängerstreifens in Angriff nehmen.
Wiederum gebückt mit dem Farbeimer und dem Pinsel in der Hand.

Europa

Auch die kleinen Autos brausen mit grossen Auspufffahnen vorbei. Viele sind unbekannter Machart, viele sind blassrot, blassblau, blassgrau, blassgrün. Es sind nicht nur der vereinzelt auftauchende Wartburg oder der noch vereinzelt herumhustende kleine Trabi, die an die DDR erinnern.
Neben den heruntergekommenen Taxis aus allen Teilen der Welt, kann man sogar in russische Strassenkreuzer aus Chrutschews Zeiten steigen und so tief in durchgesessene Sitze versinken, dass man kaum mehr zu den Fenstern hinaus sieht.
Aber auch Vertrautes gibt es auf der Stadtautobahn: Gängige Mittelklasse und Edelmarken aus Italien, Deutschland und Grossbrittanien stehen glänzend im Frühabendstau.
”Es gäbe noch viel mehr Autos, viele Leute hier haben sogar zwei, jetzt aber bloss kein Geld für Benzin,” sagte der Umweltbeauftragte von Ohrid, mit dem wir später ins Gespräch kamen.
Geparkt sehe ich einen Yugo Korral 55. Rot, 2-türig. Ist es ein Lizenz-Polo? Dann einen 750 Le Zastava. Vermutlich ein Fiat 500, sicher aber beides angerostete Zeugen einer Zeit, in welcher unsere Welt noch geteilt und Ungereimtes noch eine Selbstverständlichkeit war.

Gast sein

Unser Hotel, das ”Kontinental”, glich den ehemals bekannten Devisenbeschaffer östlich der Oder. Teuer, grosszügig konzipiert, schwerfällig und schlecht geführt.
Ein fünfundzwanzigstöckiger Schuppen weit ab vom Schuss.
Mein Zimmer missfiel mir vor allem, weil mir nicht klar war, ob es schon sauber gemacht worden war oder nicht. Im Bad hing zwar ein Handtuch an einer Stange, aber alles sah so aus, als hätte der letzte Gast eben noch geduscht. Nicht schlecht für 15o.- Franken, in einem Land mit einem durchschnittlichen Monatslohn von 300.- DM.
Der letzte Gast war vermutlich ein Journalist aus Österreich gewesen, denn am Boden stapelten sich zwar zerlesene Tageszeitungen aus Zagreb, Belgrad, Lubliana und Mazedonien selbst, aber auch eine Bordzeitschrift der Austrian Airlines sowie etliche fotokopierte A4-Blätter mit der Überschrift: Secretariat of Information. Governement of the Republic od Macedonia. Parliamentary Elections ‘98.
Und die kleinen Missverständnisse, die bürokratischen Behinderungen beim Anmelden werden zu grossen, an Korruption grenzende Unannehmlichkeiten beim Begleichen der Rechnung vor der Abreise. Nein, der eine, ganz kurze Anruf in die Schweiz kann unmöglich 50.- Dollar gekostet haben!

Flucht

Abends beim Essen in einem kleinen Restaurant im Türkischen Basar meldeten wir unseren Gastgebern, dass wir, anstatt nur in der Hauptstadt zu bleiben, am nächsten Tag mit einem Bus ins Land hinaus fahren wollten. Zum Ohridsee.
”Aber doch nicht im Bus!” bekamen wir zur Antwort.
Wir sollten einen Fahrer mit Wagen mieten. Die Reise könne lang werden, mindestens fünf Stunden.
”Das macht nichts”, sagten wir, denn die Aussicht, uns unter den Leuten des Landes zu wissen, auch fünf Stunden lang, war uns nicht unangenehm. Im Gegenteil.
”But do you want to see busstations”?
”Warum nicht? Für uns ist alles interessant”.

Ausgeschafft

Der improvisierte Busterminal befindet sich bis zur baldigen Fertigstellung eines modernen Verkehrszentrums noch mitten im Zentrum neben der Türkischen Brücke. Von hier gibt es Verbindungen nach Pristina, auch nach Belgrad, Sofia und Istanbul. Die Abfahrstszeiten sind jedoch nirgends angeschlagen. Man erfrägt sie bei auskunftswilligen Beamtinnen, die hinter rohgezimmerten Schaltern vor Computerschirmen sitzen und lächelnd alles, was man möchte, Abfahrts- und Ankunftszeiten, Routen und Preise auf kleine Zettel schreiben.
Der Busse nach Ohrid gibt es sieben Mal am Tag.
Weil die Fahrkarten nummeriert waren, die Sessel im Bus aber nicht, zögerten wir, uns einfach zu setzen, bis wir von einem Mann um die 3o mit sicherem Auftreten und äusserst zivilisierten Manieren erst auf Englisch, dann in tadellosem Deutsch dazu aufgefordert wurden.
”Nein”, sagte der Mann, ”ich arbeite nicht für die Busgesellschaft und Deutsch habe ich in Berlin gelernt, bevor ich ausgeschafft worden bin”.
Und als er erfuhr, dass wir aus der Schweiz stammten, erzählte er von einem Bruder, der dort mit einem Touristenvisum als Vorarbeiter auf dem Bau arbeite. Er selbst beabsichtige deshalb auch in unser Land zu fahren. Bis im Januar oder im Februar habe er die rund 4000 DM für den Schlepper zusammen, sagte er stolz.
Und wenn er erwischt und auch aus der Schweiz ausgeschafft wird?
”Das ist mir egal. Ich versuche es einfach, was soll ich hier”!

Arbeit

Der Bus verlässt Skopie durch belebte Vorstädte. Männer und Frauen sind mit Einkaufstaschen, Kinder mit Schulranzen unterwegs. Ladenlokale stehen neben unfertigen oder abbruchreifen, einstöckigen Wohnhäusern. Verwahrloste Vorgärten reihen sich aneinander, von Pfützen übersäte Wege verlieren sich zwischen geschlossenen Fabriken und heruntergekommenen Lagerhäusern; dann wieder braune, vorfabrizierte Elemente, Platten 1o und auch 20 Stockwerke hoch. Im Bau begriffene Tankstellen, neue Grosseinkaufszentren, Parkplätze, Baumärkte, grosse und kleine. Besonders Sanitärartikel wie Toilettenschüsseln und Waschbecken scheinen am Angebot gemessen, sehr gefragt zu sein.
Und abermals Wohnblöcke, meistens grosszügig, selbstbewusst geplant, jedoch nur mangelhaft ausgeführt, zeigen sie einen Graben zwischen Anspruch und Möglichkeit.
Offiziel spricht man von viel weniger, doch soll die Arbeitslosigkeit gegen 50 % betragen.
Dabei gäbe es überall noch so viel zu tun!

Herz

Beim ersten Halt hatte sich eine junge Frau auf den zerschlissenen, fleckigen Sitz neben dem meinen gesetzt. In ihrem schönen Gesicht glaubte ich gewisse Züge zu erkennen, die mir wiederholt aufgefallen waren:
Auf der Mitte der stolzen Stirne ein spitzförmiger Ansatz der dunkeln Haare, eine feine, neugierige Nase, grosse Augen, hohe Backenknochen und eine leicht spitzförmige Mund und Kinnpartie. Und über dem ganzen die Reinheit eines Kindergesichts.
”Möchten Sie lieber am Fenster sitzen?”.
Sie sprach ein bisschen Englisch, für eine eigentliche Unterhaltung reichte es aber nicht. Dafür war sie sehr freundlich, herzlich sogar, zeigte auf der Karte, wo wir uns gerade befanden, sprach kichernd die Namen der Dörfer aus.
Nein, sie ist nicht Studentin.
Als würde dies alles restlos erklären, zeigte sie die Hand mit dem goldenen Ehering.
Beruf: Verheiratet.
Ihr Mann sei in Ohrid Taxifahrer.

Land, albanisch

Auf einem Acker ein Pferdewagen, 3 Männer beim Verteilen von Mist mit der Gabel. Sonst ist minutenlang kein Mensch zu sehen, auch kaum Verkehr, nur Weiden, Wälder, Hügel und eine Abzweigung mit dem Namen eines Dorfes auf einem gelben Schild: Srbica oder Tuin oder Drugovo. Dann hinter den Bäumen am Horizont noch höher als deren sich herbslich verfärbenden Wipfel die bleistiftähnliche Spitze eines Minarets: Das nächste Dorf!
Die Bilder wiederholen sich. Nahe an der Strasse ein Gutshof, ineinander verschachtelte Schuppen, Ställe, Wohnhäuser. Eine Satelitenschüssel. Eine Frau in roten Pluderhosen leert einen Eimer aus oder hantiert mit einem Reisigbesen. Häuser die sich nach innen wenden, ohne Fassaden, ohne Blumenschmuck. Weisssgekleidete Kinder rennen über die Stoppeln eines Maisfeldes, spielen in den aufgerichteten Garben. Schüler und Schülerinnen noch ohne Kopftuch gehen lachend den Strassenrand entlang und neben dem nächsten Gutshof steht ein Wohnhaus aus roten Ziegeln im Rohbau. Möglicherweise sind es Verwandte in Deutschland oder der Schweiz, die hier langsam ihr Heim für später bauen. Ersparnisse aus Gastarbeiterlöhnen gerinnen so zu Verandas, Balkons, Terassen, Giebeldächern. In einigen der überall verstreuten noch unfertigen Behausungen wird vorerst Maisstroh und Heu gelagert. Bei andern hängen schon die überall obligatorischen roten Pfefferschoten neben der Wäsche zum Trocknen vor den Löchern in den Mauern ohne Fenster, Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm stehen vor Eingängen, die noch keine Türen haben.
Die Konturen des Landes sind noch immer hügelig und sanft, nur weiter oben gibt es Berge, im Winter zum Skifahren geeignete Schneeberge sogar.
Der Bus hat die Strasse jetzt streckenweise für sich, vom Preseka-Pass (1082 Meter über Meer) herunter, schneidet er sämtliche Linkskurven.
Er hat Tempo zugelegt.

Land, christlich Orthodox

Der Ohridsee ist ein Gewässer der göttlich erhabenen Sorte. So alt wie der Titicacasee und so klar wie das Wasser im Glas auf dem Tisch, an welchem wir sitzen. Die Sonne ist weiss. Drei Schwäne schauen vorbei, geräuschlos, zu hören sind nur die beiden Fischer, die ufernah von Hand die Netze setzen.
Der See liegt so ruhig und unbewegt da, dass er am dunstigen Horizont stufenlos in den Himmel überzugehen scheint.
Auf der Suche nach einem Restaurant, wo es die berühmten Forellen nach Ohrider Art zu essen gibt, hilft uns ein Mann, der mit einer kleinen Aktentasche unterwegs ist. Er zeigt den Weg gleich selbst. Er kenne das Restaurant gut, er sei nämlich der ”ecological supervisor of Ohrid” und als solcher auch für das Gastgewerbe zuständig.
Er heisst Pande Dajovski und er hat auch noch Zeit für ein Bier und gibt in Englisch fetzenhaft, aber gutmütig Antworten auf Fragen, die wir in ihm ebenso zerfetztem Englisch stellen.
Dalga, der Name des Restaurants bedeute Welle. Es sei äusserst beliebt. Der Wirt sei 12 Jahre in Deutschland gewesen, bevor er es eröffnet habe.
Bevor die Fische dann in die Pfanne kommen, werden sie auf einer Platte vorgezeigt. Funkelnde Forellen von beträchtlicher Grösse.

Sarah Kirsch besingt sie so:
…und Schwärme
Zarter Forellen machten sich auf die Roste. So hebt
doch
Das Bäumchen Gräte heraus! Wir schlangen und
schlangen
Und schlangen: O Fischfleisch! Rosa ist es nur hier
aus diesem See…

”Bratkartoffeln dazu?”
”Ja, Bratkartoffeln”.
”Und Salat”?
”Und Salat. ”
Und was möchten Sie trinken?
Der Kellner bringt kühlen mazedonischen Weissen.
Danach gibt es Rakia, offeriert vom Haus, ein Grappa aus der Gegend, den edlen Marken aus Italien in nichts nachstehend.
Aber wie sagte eine junge Frau im Bus?
Um ein Paar richtige Jeans zu kaufen, müsse sie hier einen Monat arbeiten. Wenn sie einmal im Ausland wäre, käme sie nie mehr zurück nach Mazedonien.
Genau sagte sie: ”Never, never, never” und zwar etwa 10 bis 20 Mal.

Kultur

Später besuchen wir das eigentliche Wahrzeichen von Mazedonien: Die Kirche St. Johannes-Kaneo ist ein Kleinod aus dem Xlll Jahrhundert. Man begegnet ihm in Büchern und Prospekten, auf Plakaten und Postkarten. Sieht man von diesem Land drei Bilder, zeigt mindestens eines davon dieses von Götterhand auf einem Felsvorsprung am Ohridsee plazierte Kirchlein.
Der zehnminütige Weg dahin ist nicht etwa genau ausgemessen und zugepflastert, das Wahrzeichen des Landes ist nicht einbetoniert in Zufahrten und Parkplätze. Man erreicht es per Boot oder dann über Stock und Stein. Licht und Stille sind hier nicht nur idyllisch, sie sind, besonders wenn man von Skopie kommt, paradiesisch schlechthin.
Die fremdenverkehrsmässige Wertschröpfung ist sympathisch bescheiden. Gegen ein Trinkgeld von einem Eintritt gibt es Ikonen, Chorgestühl und Samtvorhang aus verschieden lange verflossenen Jahrhunderten und dazu erklärende Worte auf Französisch, weil von den westlichen Sprache nur die im Angebot stand. Auf die Frage, wo er so gut Französisch gelernt habe, antwortet der leicht angetrunkene Kirchenführer stolz, er habe sein Land noch nie verlassen, holt aus einem kleinen Holzschrank unter einer Ikone eine Flasche hervor und gibt eine Runde Rakia aus.

Feierabend

Abends beim Einnachten flaniert halb Ohrid nach mediteraner Sitte auf der verkehrsfreien Hauptgasse. Jetzt, Ende Oktober ist es bereits kühl, die Gäste haben sich aus den Strassencafes zurückgezogen. Am meisten Betrieb herrscht noch in den Friseursalons.
Im Frizerski Salon President zum Beispiel, sind abends um acht alle acht Stühle besetzt. Eifrige junge Männer schnappern mit Scheren, stellen sich auf Zehnspitzen, und ziehen mit präzis geführten Kämmen und schräg verzogenen Mündern gerade Linien durch glänzendes Haar. Sie seifen Bärte ein, putzen Nacken aus, pusten Haare von Schultern, während sie dazu den Tag bereden.
Die Läden sind alle geöffnet, unterwegs ist man aber einfach so, zweck- und ziellos.
Wir treffen den Kellner aus dem Restaurant, der uns zuwinkt, als wären wir alte Freunde und auch Pande, den Umwelt Inspektor treffen wir wieder.
Und man freut sich sogar.

Tee

Auf dem Marktplatz werden die Stände für den nächsten Tag vorbereitet. Mindestens eine Tonne Kohl wird abgeladen und zu einem Kohlberg aufgeschichtet. Von rotem Paprika gibt es hüfthohe Haufen.
In einem der Cafés am Marktplatz ist derweil noch immer jeder Stuhl besetzt. Männer sitzen gemütlich an der Wärme, trinken Tee, spielen Schach und andere Brettspiele, sitzen eng beieinander, so selbstverständlich, als befänden sie sich hier in ihrer guten Stube
In einem Seitengässchen daneben gibt es orientalische Musikklänge, die uns zu einem fast leeren Lokal führen. An der Theke sitzt eine Frau mit einem Kopftuch.
Bier gibt es nicht. Hier gibt es nur Tee.
Sehr guten Tee aus kleinen türkischen Gläsern mit Hals und Bauch auf kleinen Silbertellern.

New York

An einem Juwelierstand versucht ein Mann Schmuck unter die Leute zu bringen. Vorwiegend Silbersachen, vielleicht aus Indien. Er bietet eine Kette an, die er für jemanden auf Bestellung gemacht habe, ohne dass sie jetzt abgeholt worden wäre.
Es ist eine schöne Kette, vielleicht nicht ganz so einzigartig, wie der Verkäufer behauptet, denn von ihrer Sorte hängen noch viele an der Seitenwand des Verkaufsstandes.
Er spricht so gut Englisch, weil er bei seinem Bruder in Amerika war und da auch bald wieder hinwill. Bei unserem kurzem Gespräch ist mindestens für ihn schnell alles klar.
«Du siehst, hier verdient man 200 im Monat, bei Euch dagegen mindestens 2000 Franken pro Monat aber die Preise sind die gleichen. Nein, hier zu leben ist sinnlos. Keine Arbeit und ein Arbeitslosengeld von 30 bis 50 Franken.

Dunst

In Ohrid kann man auch Kapitän Popescu kennenlernen.
Die eine Hand an der Seeoffiziersmütze, mit der andern einen grossen Apfel essend, nähert er sich freundlich und bietet sein Boot für einen Ausflug an.
”Nach Albanien”? frage ich scherzhaft.
Nein, das nicht, das ist ihm zu gefährlich. Dort trieben gewisse bewaffnete Banden ihr Unwesen. Sie seien auch schon nachts hier herüber gekommen, um Schiffe zu klauen.
Er sagt es betrübt, als missfiele ihm, dass man ihn zwingt, die Begrenztheit seines Paradieses verraten zu müssen.
”But 330 Days of sun” gebe es hier, sagt er, fragt dann, ob wir einen gewissen Geldschein dabei hätten, um mit der darauf abgebildeten und normalerweise irrtümlich als griechisch ausgegebenen Schale zu einem gigantischen kulturhistorischen Exkurs auszuholen.
Mazedonien sei nicht nur die Wiege der slawischen Sprache, hier in Ohrid sei nicht nur die erste slawische Universität gegründet worden, wir befänden uns überhaupt so ziemlich an der eigentlichen Quelle der Kultur.
Risto Popescu, der in Ohrid auch unter dem Namen Don Rico el Capitan bekannt ist, streift quer durch die Jahrhunderte verschiedenste Kriege, auch die Aufteilung des Heiligen Römischen Reiches, dessen Grenze genau hier, hier wo wir stünden durchgehe. Er erwähnt Türken, Engländer und die Donau-Monarchie, spricht einleuchtend, plastisch, amüsant, jedoch unentwegt von Vorgestern, schon was noch gestern war, ist von ebensowenig Interesse wie das Heute.
Es fällt bald auf, immer wieder befindet man sich auch andernorts im Gespräch plötzlich wieder 1000- 2000 10 000 Jahre zurück.
Als ob sich in der Schweiz von heute sehr viel mit der Hochblüte der Pfahlbauer oder mit der Schlacht von Bibrakte erklären liesse.
Ein aus Notwehr vergangenheitsorientiertes Volk?
Die mazedonische Kulturgeschichte ist zwar glorreich und lang, trotzdem lauert im Dunst auf der andern Seite des erhaben schönen Ohrid-Sees, wenn nicht ein Feind, so doch die Ungewissheit der ethnischen und ökonomischen Zukunft, denn noch befindet sich das junge Land mit seinen 6 Jahren im verletzlichen Alter eines nationalstaatlichen Säuglings.

Landflucht

Ein aufrecht davon schreitender Sämann dreht dem Bus den Rücken zu. Bereits sind wieder vermehrt Menschen zu sehen. Fuhrwerke, Ochsenkarren, Traktoren, immer das gleiche Modell. Keine Herde ohne Hirt mit Stock. Und wieder die unfertigen Backsteinhäuser, Maisfelder, Quittenbäume, ein Kohlacker.
Jetzt die aufgerissene Landschaft einer Baustelle. Lastwagen steht an Lastwagen. Eine Autobahnbrücke ist im Entstehen. Und dort drei aneinandergereihte Schuppen. Sind es Ställe? Gartenhäuser? Aus Holzresten zusammengezimmert, mit Blechstücken und Plastikplanen ausgebessert, davor ein alter Autorücksitz als Feierabendbank, auch ein Bäumchen, ein Schaf, ein bisschen Idylle. Dann schon wieder die Vorstadt: Häuser noch nicht oder schlecht verputzt, wuchernde Vorgärten, Kanalisationsprobleme, Müll und Sperrgut, ein schlecht entsorgter Backofen steht schief im Schlamm einer Baugrube. Und dahinter Balkone mit Teppichen, Satellitenschüsseln, Wäsche beim Trocknen, Blumen, Kräutergärten in Saatkästen, dicke Stränge von Paprikaschoten, ein über die Brüstung gehängtes Nachthemd, ein grauer Anzug beim Auslüften, dahinter ein geöffneter Rolladen, ein geschlossener Rolladen, vielmals übereinander, die ganzen Wohntürme hinauf bis der Nacken schmerzt, auf jedem Stockwerk das ähnliche, so menschliche Bild.
Dann Werbeplakate, strahlende Politiker, bekannte Marken, Firmenschilder, Logos und Signete: Pizza Slatki. Reihenweise kleine Läden in vorfabrizierten Fiberglashäuschen, einst wie in ganz Osteuropa identisch von einem Kran hingestellt. Kleinunternehmer. Libraria steht an einem. Schlaglöcher auf der Strasse. Das anarchische, wilde einer Stadt, die um ihren Zustand kämpft? Und die beschädigte Strasse, die klaffende Lücke im Strassenrand? Noch immer Spuren des Erdbebens?

Heimat

Für einmal stellt der Taxifahrer Fragen.
Als Ziel habe ich die Adresse Naroden Front 19 angegeben.
”You want to go to the Swiss Embassy?”
Ich bejahe, obschon ich weiss, dass es in Skopje nur eine konsularische Vertretung der Schweiz und ein Koordinationsbüro des Bundesamtes für Wirtschaft gibt.
Ob ich für eine internationale Organisation arbeiten würde? Ob ich hier sei, wegen dem Konflikt im nahen Kosovo?
”Nein”, antwortet ich, ”aber ich wäre gerne einfach so nach Pristina gefahren, habe es aber leider versäumt, rechtzeitig vor der Abreise ein Visum für Jugoslawien zu beantragen”.
”Und warum haben sie das nicht gemacht?”
”Dumme Nachlässigkeit”, sage ich und bohre mit dem Finger an meiner Stirn.
Als ich dem Taxifahrer dann ein Kompliment für sein Englisch mache, sagt er, Deutsch spreche er noch besser. Er habe nämlich 2o Jahre in Schweden gelebt.
”Dann sprechen Sie auch Schwedisch?”
”Ja, perfekt”.
”Und warum sind Sie nach so vielen Jahren nach Mazedonien zurück gekommen?”
Jetzt bohrt er mit dem Finger an der Stirn. ”Weil ich sie nicht mehr alle hatte,” sagt er und fügte mit der Gelassenheit des Hoffnungslosen ein wenig schmeichelhaftes Schimpfwort über sein Land hinzu.

Schach

Im Basar wechsle ich noch einmal Geld, bei einem Mann in einem barackenhaft eingerichteten Kleinbüro mit Ladenfront.
”Do you speak English”?
Der Kopf verneint.
”Sprechen Sie Deutsch”?
Wieder verneint der Kopf. Es folgen ein paar eindringliche Worte. Die Denar-Scheine, die er mir abzählt, nimmt er aus der Hosentasche. Ich stecke sie ein und sehe einen Friseursalon. Und weiter vorne Blechzeug, Kaminteile, gekrümmte Rohre, Abzugshüte, Eimer, Spenglerarbeiten vor einer Werkstatt. Und das muss eine Schnapsbrennanlage sein. Von einem Moslem, der sie nicht benützen darf, für einen Christen gemacht.
Neben einer Reihe von Gold- und Silberschmieden ein Laden für Brautkleider. Gross und steif stehen ein halbes Dutzend Puppen in Weiss im Schaufenster, gleich anschliessend ein Café. Hier sitzen zwei Herren an einem kleinen Tisch beim Spiel. Der eine mit einer Wollmütze auf dem Kopf und dem uneiteln Gesicht albanischer Landbewohner. Er lacht ganz laut und sagt wie selbstverständlich: ”Schach”!
Wenigstens einmal habe ich ein Wort verstanden.

Babylon

Drei oder vier oder noch mehr Sprachen beherrschen unsere mazedonischen Kollegen und Kolleginnen. Jedoch nicht die unseren.
Russisch, Ungarisch, Tschechisch serbokroatisch müsste man können.
Jüngere Leute sprechen dagegen Englisch oder Deutsch, jedoch selten gut.
Die wirklich interessanten Fragen kann ich kaum stellen. Wer meine Fragen verstehen könnte, versteht meine Sprache nicht und wer meine Sprache versteht, versteht meine Fragen nicht!
Kommen die Wörter gedruckt daher, gibt es noch die zusätzliche Hürde der kyrillischen Schrift (nach dem Slawenapostel Kyrill benannt). Mazedonien wird dann mit einem Buchstaben, der aussieht wie ein K geschrieben. Noch knapp entziffern lassen sich in den Zeitungen Hinweise wie Redovani Avionski und die vielen, auf Englisch abgefassten Inserate.
In den Zeitungen gibt es auch Bilder der Wahlen, die eben stattgefunden haben. Das Volk ist schwarz-weiss beim Urnengang, auf den bunt gedruckten Seite sind aber Gesichter zu erkennen, die auch auf der Strasse von allen Plakatwänden lächlen. Ausgerechnet den schliesslich als Ministerpräsident gewählten ehemaligen Oppositionsführer Ljubco Georgievski habe ich dabei wie selbstverständlich für einen populären Sänger, vom Aussehen her für einen mazedonischen Paverotti gehalten.

Dialog

„American?“
„No“.
„English?“
„No, Swiss“.
„Ah, Switzarsky!“
„And you?“
„Roma. Zigeuner“.

Behauptung

Anfänglich empfand ich die Herzlichkeit, mit der wir empfangen wurden, als beengend und der Mitteleuropäer in mir dachte, unsere Möglichkeiten, uns zu verständigen, seien viel zu begrenzt, um solche Gefühlsäusserungen zu rechtfertigen. Schon in Bern konnten wir kaum einen Satz austauschen, der mehr war als eine gegenseitige Sympathiebezeugung. Ich fand, man rede miteinander, weil keiner derjenige seine wollte, der es nicht wenigstens versuchte, auch ohne Aussicht auf Erfolg, einfach aus Anstand und zu Ehren der Gastfreundschaft. Ihnen fiel es aber leichter, sich als Delegation zu verhalten, und niemand kann ihnen vorwerfen, dass sie darin einfach geübter sind. Sie mussten es gewohnt sein, als Delegation internationale Kontakte zu pflegen, ohne echte Inhalte zu tauschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man sich mit Kollegen und Kolleginnen aus andern Ländern hochoffiziel und unbehindert über Sinn, Zweck und Ziel der gemeinsamen Berufsanstrengungen unterhalten hat.

Dichtertreffen

In den Räumlichkeiten des Mazedonischen Autorenverbandes sassen wir uns im Beisein einer Dolmetscherin und eines Radiojournalisten an einem langen Konferenztisch gegenüber. Wie einst Ost und West oder wie die Gesandten zweier sozialistischer Bruder- und Schwesterrepubliken. Die Herren Kollegen aus Mazedonien trugen grossgeknöpfte, blasse Kravatten und graue Anzüge. Nur einer von ihnen trug einen braunen. Er war ein grosser, freundlicher Mann, der in jüngeren Jahren sogar als Kulturminister geamtet hatte.
Und Gordona Mihailova Bosnakoska war ziemlich diskret geschminkt, sie hatte ihre Haare so kühn frisiert, dass sie viel jünger aussah, als sie auf Grund ihrer Bibliographie sein musste. Obschon als ehemalige Fernsehpräsentatorin von fröhlicher, extrovertierter Natur, hatte sie sich für einen ernsthaften beinahe strengen Gesichtsausdruck entschieden.
Von Gordona hatte ich einige Gedichte gelesen, die mir sehr gefielen, einer vermutlich sorglos angefertigten Übersetzung zum Trotz. Ich wusste auch, dass sie gerade im vergangenen Jahr den berühmten Struga-Preis gewonnen hatte, die höchste literarische Auszeichnung, die Mazedonien zu vergeben hat.
In Dichterkreisen ist das malerische Städtchen Struga am Ohrid-See auch international ein Begriff. Schon in sozialistischen Zeiten wurden alljährlich Lyriker aus der ganzen Welt hierher zu einem Wettlesen eingeladen. Gelesen oder deklamiert wird auf einer Brücke unter freiem Himmel für buchstäblich Tausende von Zuhörern. Allerdings gibt es auch böse Zungen, die behaupten, es sei vor allem die Funktionärslyrik, die man in Struga gefeiert habe.
Die zweite Dame war eine seit kurzem pensionierte Gymnasiallehrerin für Sprache und slawische Literatur, deren Namen ich leider aufzuschreiben vergass. Sie machte einen äusserst gepflegten und klugen Eindruck, strahlte Wärme aus und bezauberte mit ihrem Lächeln.
Sie war elegant in Seide und andere glänzende Stoffe gekleidet. Ihr Schmuck war ungewohnt unauffällig, ihr Makeup weich.
Die dritte war mindestens eine Generation jünger. Sie besass eine stolze Nase und eine schwer zu bändigende Haarpracht auf dem Kopf. Als Verfasserin von Gedichten wurde sie von der Dolmetscherin vorgestellt. Sie hatte ein verschmitztes Gesicht, das einzige, aus dem ich mühelos lesen konnte. Sie lächelte fast mädchenhaft, dabei wurde sie auch als Universitätsdozentin, Übersetzerin und Herausgeberin des ersten mazedonisch-ungarischen Wörterbuches vorgestellt. Sie machte kluge Bemerkungen zu unseren Fragen.
Als ich wissen wollte, ob es beim Übergang vom Sozialismus zur freien Marktwirtschaft in der Organisation der Schriftsteller Spannungen gegeben habe, meinte sie, gute Gedichte, gute Literatur überhaupt, würden unabhängig von Ideologie und Politik funktioinieren und existieren. Darauf fügte der Präsident des Mazedonischen Autorenverbandes hinzu, Auseinandersetzungen hätte es dennoch gegeben, wenn auch nicht solche, die man überschätzen sollte.

Club

Der Raum, in welchem wir unseren Kollegen gegenübersassen war leicht düster, die Vorhänge schwer. Hinter Glastüren reihten sich an der einen Wand Bücher hinter Glas bis unter die Decke. An den Wänden mazedonische Kollegen aus der Gründerzeit in Öl.
Von Zeit zu Zeit ging die gepolsterte Tür auf und eine Kaffeekanne kam herein, gefolgt von einer weisshaarigen, vornübergebeugten älteren Dame mit weisser Schürze. Ihr Gesicht war hager und schmal, ihr Lächeln freundlich, ihr Blick abwesend. Und schon verschwand die Kaffeekanne wieder durch den Schlitz der sich schliessenden, schwer gepolsterten Tür.

Salat

Dann sassen wir freundlich geladen zu Spanferkel und Lammbraten an ihrem Tisch. Üppig, sehr üppig wurde aufgetragen. An den Mazedonischen Roten, den Country Red hatten wir uns längst gewöhnt, tranken ihn gern und ausgiebig. Es gab auch mazedonischen, feingeschnittenen Salat, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er frisch und reichlich bis an den Tellerrand serviert und mit geriebenem Ziegenkäse zugedeckt wird. Es kann vorkommen, dass sich die darin befindenden Pfefferschotten für Überraschungen sorgen. Sie sind nicht einfach scharf: Sie verbrennen die Schleimhäute der Mundhöhle, als hätte man Feuer geschluckt, gleichzeitig treiben sie einem das Blut in Stössen in den Kopf und den Schweiss in Perlen ins Gesicht. Auch der Magen brennt als hätte man darin glühende Kohlen deponiert und mit einem Würgen im Hals beginnt eine Art Schluckauf in Zeitlupe, ein Erbrechen ohne Bruch, ein Ringen nach Luft.
Weil diese roten Dinger aber anfänglich trotzdem gut schmecken, ist nicht auszuschliessen, dass man schon beim nächsten Essen, bei der nächsten Mahlzeit wiederum mazedonischen Salat isst, und wieder leidet, schwitzt, innerlich flucht und während Minuten hilflos verzweifelt.

Worte

Frühstück im Hotel. Die Kellner sind angezogen, als müssten sie gleich mit der Stadtmusik los. Eine Damenhandballmannschaft in bunten Trainingsanzügen aus Rumanien belagert das Buffet. Ich habe eine Omelette bestellt und während ich warte, kaue ich das blasse, schwach gesalzene Brot viel zu lang, ich rühre mit einem Plastiklöffel in einer grossen, blauweissen Tasse, ich rieche türkischen Kaffee und betrachte die Sahnefetzen die darin auftauchen und verschwinden.
Soll denn der Kaffee hier jetzt auch noch so sein wie bei uns?

Koffer

Am Flughafen der Aufruf über Lautsprecher, dass sich Passagiere, die ihr Gepäck noch nicht hätten in Empfang nehmen können, sich am Schalter melden sollten. Wegen Übergewicht würden einige Koffer erst mit der nächsten Maschine kommen. Einer, der ebenfalls auf sein Gepäck wartet, ist ein Mann aus Mazedonien, der seit vielen Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet. Er ist sauer. Da fliege man absichtlich mit der Swissair und dann komme der Koffer doch mit Mazedonien Airlines. Er sei aus Gostivar. Ein bis zweimal im Jahr fliege er zurück. Er besitze dort ein Haus. Ein richtiges Haus! betont er stolz.
Und wie er sein Land jetzt angetroffen habe?
«In Mazedonien gibt es nur ein Problem und das ist die Armut“, sagt er ohne lange zu überlegen.

Bern, den 6. Dezember 1998

Berichtigung

Aus dem Reisebericht, der in einer einzigen, gleichmässigen Bewegung alle meine Eindrücke in dem neuen Land erfassen sollte, ist leider nichts geworden. In einem ruhigen Ton, gleichmässig beobachtend wollte ich reportieren, dadurch auch festhalten, dass ich für lautere Töne, für Stellungnahme und Meinungen entschiedenere Aussagen einfach zu wenig weiss. Aber zu schnell, habe ich zu viel gesehen und nicht verstanden, so ist mein Bericht widersprüchlich, brüchig, lückenhaft, unausgeglichen, provisorisch geworden. Vielleicht ein bisschen wie das junge Land, das ich besuchte.

Kirche des Heiligen Johannes Kaneo in Ohrid Mazedonien
Kirche des Heiligen Johannes Kaneo in Ohrid Mazedonien

Mazedonien. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien. Auch Makedonien genannt. Fläche: 25 713 km*. Einwohner: F 1994 2 093 000 = 81 je km*. Amtssprache: Mazedonisch. Bruttosozialprodukt 1994 je Einw.:790$.
(Fischer Weltalmanach ‘97)

Gesendet 1999 von Radio DRS und erschienen in gekürzter Version in Woz, Die Wochenzeitung 1998