Als die Ideologien aufeinanderprallten.

Paul Henderson 1972
Paul Henderson 1972

Hockey ist hier Hockey. Das heisst Hockey ist mehr als nur Hockey. Die Tradition ist lang, Kanada ist das Ursprungsland, seit 1912 gibt es Profis. Den Legenden will denn auch gehuldigt sein. Dem allem entspricht der sofort auffallende grosse gesamtgesellschaftliche Stellenwert. Und Russland beginnt am Ruf zu knabbern.

Was sofort auffiel, damals, 1970 in Vancouver:
Mitten im Sommer werden Stöcke geschwungen. Man hört sie, wie sie auf das Pflaster krachen. Auch die Schreie der Jungs bei den überall in den Seitenstrassen aufgestellten Hockeytoren. Wo es eine Garage gibt, steht eins davor. Und mitten in der Nacht sieht man im Bus kleine Jungs mit riesigen Ausrüstungstaschen. Im Sommer wird das Eis rund um die Uhr genutzt.
Auch in Kanada hält man sich für den Mittelpunkt der Welt.
Und später, Ende Achtziger in Montreal:
Steht ein Spiel an, ist die Metro auch abends überfüllt. Natürlich sind die Eintritte nicht billig, sie sind aber sogar so teuer, dass sie anders als bei uns für die meisten Jugendlichen unerschwinglich sind. Das Stadion als Hockeyhochburg ist eine sprichwörtliche Burg und steht im Stadtzentrum, dient auch als Kongresszentrum, als Konzerthalle und als Zirkusarena.
Zu den Sitzen gelangt man über eine Rolltreppe. Da steht man dann, mit einem Plastikbecher in der Hand. Üblich sind Bier und Whisky. Das Publikum ist sachlich nüchtern, das heisst, vorerst ruhig. Stimmung wird von der Orgel gemacht, schon vor dem Anpfiff.
Aber nichts von Volksfestcharakter, wie man das von Bern her kennt. Auf offene Szenen gibt es wenig Applaus. Keine Kuhglocken! Keine Fahnen! Noch überhaupt keinen Firlefanz mit Kappen und Halstüchern! Männer in Mänteln, viele mit Hut. Und doch spürt man es auf der Stelle: Die Halle ist energiegeladen, explosiv sogar, man befindet sich sofort in einem kollektiven Rausch. Da ist ein Summen, das alle Aktionen auf dem Eis fast musikalisch begleitet, das sich überschlägt und in ein Raunen umschlägt, sobald es vor einem Tor kritisch wird. Und dieses Raunen irrt sich selten, es ist der zu einer Masse geballte Torinstinkt. Wer ein Tor sehen will, muss mitgehen, denn noch bevor ein Tor tatsächlich erzielt wird, schiessen alle von ihren Sitzen und strecken die Arme hoch. Geht man nicht mit, ist die Sicht verwehrt.
Für die hinteren Ränge wird auf riesigen, damals noch schwarz-weissen Videobildschirmen Nähe erzeugt. Bei einem Tor gibt es sofort das Replay. Und die Orgel! Im Triumph, wenn für das Hometeam. Sie begleitet das Spiel ununterbrochen. Eine Melodie für den Anpfiff, eine für die Pause und eine für die Werbung. Denn wenn die Schiedsrichter den Puck plötzlich nicht mehr einwerfen wollen, wenn die Spieler eine halbe Minute oder länger im Leerlauf nur Kreise auf das Eis ziehen, dann wird für die Werbepuse am Fernsehen mit dem Anspiel gewartet. Und das Fernsehen ist immer dabei. Während der Hochsaison die staatliche CBC zweimal die Woche. Das heisst dann: Hockeynight in Canada! Dann laufen in allen Bierparlours, in allen Pubs die Apparate. Dazu kommen die privaten Sender bei besonderen oder regional wichtigen Spielen ein bis zweimal die Woche.
Natülich werden am Schluss die Stars des Abends gewählt – damals waren es drei – so huldigt man der Individualität, wäre sonst ja nicht Nord-Amerika. Auffallend am Starsystem ist auch, dass jedes Team einen grossen Namen braucht. Ein Zweikampf zwischen zwei Klubs ist immer auch das Duell zweier Superstars. Gretzki gegen Lafleur, zum Beispiel. Der Rahmen erlaubt immer wieder Konzentration auf den Einzelnen.
Weil alles so messbar ist, passt Hockey wunderbar zu Kanada und zu den USA. In der Zeitung stehen dann die Namen und ihre Tore, ihre Assists, ihre Strafen.
Hockey ist Hockey. Hockey ist sehr hier sehr zentral.
Als sich 1972 eine Mannschaft von kanadischen Profis zum entscheidenden Schlüsselspiel einer bis dahin unentschieden verlaufenen Serie den Russen stellte, waren Kanadas Strassen leergefegt. Schulen und Büros und Fabriken schlossen die Tore: ¾ aller Kanadier sassen vor dem Fernsehschirm. An Olympischen Spielen durften die kanadischen Profis nie gegen die zweifelhaften Amateure aus dem Osten antreten. Deshalb diese Serie über acht Spiele. Nach sieben Spielen war sie auch im achten bis kurz vor Schluss unentschieden. Noch konnte die Tragödie für das Hockeyursprungsland mit einem glücklichen Treffer abgewendet werden. Der glückliche Torschütze wurde von einer Minute zur andern zum Helden der Nation, doch die tagelang anhaltende Euphorie vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen: Der Mythos von der Unschlagbarkeit der kanadischen Profis war angekratzt worden. Noch während die Fans jubelten, zogen sich die Verantwortlichen mit den Klubbesitzern und ihren Beratern in die Hinterzimmer zurück.
Kanada war wohl mit einem blauen Auge davon gekommen. Es mussten aber neue Strategien entwickelt werden, man wollte den Ruf als Nummer Eins behalten. Andernfalls würde die ganze Nation in einer Identitätskrise landen. Im Hockey absolute Weltspitze zu sein, das gehörte nun einmal zum Selbstverständnis eines jeden Kanadiers. Ab jetzt gab es zwei Ideologien, zwei Weltanschauungen und zwei Arten, Hockey zu spielen.
Es war in den ersten Spielen gegen Russland niemandem entgangen: Während die kanadischen Stürmer auf nord-amerikanische Art der Reihe nach jeder allein mit List und Körperstärke mit der Scheibe am eigenen Stock die gegnerische Verteidigung aufzubrechen versuchten, strebten die Russen den Erfolg mit Mannschaftsspiel an. Kurze, schnelle Pässe zu den Mitspielern, schnelle Positionswechsel an Stelle des unerschütterlichen Bunkerns der Kanadier. Hockey war kollektiviert worden. Davon wollte man lernen. Dass Kanada damals die unbestrittene Weltherrschaft im Hockey endgültig eingebüsst hat, liegt nicht an der Unwilligkeit einzelner Verantwortlicher, sondern an der Unvereinbarkeit von sportlichen und kommerziellen Zielen. Die NHL war ein auf Profit ausgerichtetes Unternehmen, das mit dem Starsystem immer sehr gut gefahren ist.

Montréal 1982