Kommt her und seht an die Werke Gottes

Erschienen in der Kulturzeitschrift Eigenart «Am Berg» 2002

Matterhorn
Matterhorn

Am nächsten Tag machte ich mich auf nach Zermatt. In der roten Zermattbahn sass schon ein Gruppe von Frauen vermutlich aus Thun oder Umgebung, die sich gemeinsam nach Zermatt in den Skiurlaub begaben. Sie benützten eine ziemlich ordinäre Sprache, die nicht zu ihren bunten modischen Skiausrüstungen und ihren modischen Frisuren passte. Wie nä Morä! hörte ich immer wieder. Ich richtete mich mit meinem Buch auf die knapp zweistündige Fahrt ein, las Michels Brautschau fertig und schaute zwischendurch zum Fenster hinaus in das enge Tal. Ich erinnerte mich an eine andere grossartige Zugfahrt durch ein enges Tal. Eine Fahrt, die weltweit wohl ähnlich viel Ansehen geniesst oder eine vergleichbare Berühmtheit erlangt hat. Das ist die Fahrt auf den Machu Pichu, respektive zu der Talsstation der eigentlichen Bergbahn. Und ich begann Ausschau nach dem Matterhorn zu halten. Das Matterhorn hatte ich nämlich noch nie mit eigenen Augen gesehen, was mit ein Grund war, mir diesen Ausflug zu gönnen.

Das Tal verengte sich und in starken Schüben, in welchen die Zahnräder hörbar dazugeschaltet wurden, überwand die Bahn die beträchtlichen Höhenunterschiede.
Die Landschaft wurde immer karger, wilder, an einer Stelle war der ganze Talboden von einem riesigen Schuttkegel zugeschüttet. Als sollte hier der Gewalt, die in den Bergen steckt, gedacht werden. Strasse und Schienen machten einen Umweg. Der Bergsturz muss von ausserordentlichem Ausmass gewesen sein, ein halber Berg war runtergerutscht und ich wunderte mich darüber, dass ich keine Erinnerung daran hatte. Der Bergsturz von….? Lange konnte es nicht her sein, denn die Steinmassen waren noch von keinerlei Vegetation gezeichnet.
Ich sah auch Verschandelungen, vieles, das man schöner in dieses Tal hinein hätte stellen können, aber eigentlich weniger schlimm als erwartet. Es gab die Schober und Speicher, die schwarz-braunen, aufstockbaren Walliserhäuser, es gab die Spuren der Viehzucht, die Wege, Weiden, Zäune, Gatter, Gehege und die berühmtn als Tränke dienenden alten Badewannen in der Landschaft wie im Emmental oder im Berneroberland. Und es gab Talstationen, kleine und grosse.
In Täsch dann die Parkplätze, immer mehr Leute im Zug, die Skis dabei hatten. Und dann Zermatt. Ein grosser Bahnhof, ein grosser Bahnhofplatz, ein Gewimmel von Elektrofahrzeugen, auch einen altertümlichen Pferdewagen mit der Aufschrift “Hotel Krebs”.
Die Idee gleich noch auf den Gornergrat hinauf weiterzufahren, verwarf ich zu Gunsten einer ersten Besichtigung des berühmten Ortes zu Fuss und bald war ich schon wieder zum Dorf hinaus, sah das Matterhorn, nicht sehr nahe, aber klar. Ich ging einfach weiter, befand mich plötzlich auf einem schneefreien Spazierweg an der Sonne. Auf dem Rücken trug ich meinen Rucksack mit den Gotthelfbüchern und bald hatte ich Jacke und Pullover auf dem Arm. Auch andere Leute waren unterwegs, sogar eine Frau mit einem Kinderwagen. Als ich sie überholte, hatte sie sich gerade auf eine Bank am Wegrand gesetzt. Ich atmete durch, liess meinen Blick zu den Schneehängen und zum Spitz des Matterhorns vorauswandern, genoss es, draussen zu sein, umgeben von unförmigen Bäumen, sperriger, steiniger Natur, wieder mal weit weg von der Welt aus Rechten Winkeln, horizontalen und vertikalen Linien, weg von den langweilig geraden Flächen und Fluchten. Nicht unpassend war da an einem Felsbrocken eine Tafel mit einem Spruch: Kommt her und sehet an die Werke Gottes. (Psalm 50), Ich war froh gekommen zu sein, notierte den Psalm auf eine Quittung, die noch in meiner Hemdtasche steckte und staunte dann einmal mehr, wie schnell man eigentlich ein ordentliches Stück Weg hinter sich lassen konnte. Von Zermatt war längst nichts mehr zu sehen. Ich war in den Bergen.
Und bald sah ich eine Schweizerfahne an einem Mast flattern, wusste, da kommt schon die erste Bergwirtschaft.
Auf der kleinen Sonnenterasse sass ein junges italienisches und ein älteres Paar aus der Westschweiz. Die letzteren sassen vor einer Walliserplatte und einem Schoppen. Vom Matterhorn war hier kaum mehr als die Spitze zu sehen. Ein paar hundert Meter weiter befand sich der Weiler Zmutt.
Die Bedienung besorgte eine bejahrte Frau, wie ich hier keine erwartet hätte. Sie sah aus wie eine Walliserbäuerin auf einem alten Foto, anstatt schwarz, war sie jedoch mit einem bunten Hausrock gekleidet. Sie trug auch ein buntes Kopftuch. Sie hatte dünne, weisse Gesichtshaare, ein richtiges Ho Chi Minh-Bärtchen, dazu eine steile, starke Hakennase, die mich wiederum an die Nähe Italiens erinnerte. Im Emmental gibt es diese Art Nase sicher nicht. Die Frau hatte aber auch herrlich leuchtende Augen und die charmante Freundlichkeit eines Mädchens. Sie brachte mir mit dem Hinweis auf eine Wolke vor der Sonne eine Decke und ich wagte sie auf den Bergsturz anzusprechen. Das sei der Bergsturz von Randen, passiert im Jahr 1991. Bis hierherauf sei der Staub gekommen. Tagelang habe man Masken vor dem Gesicht tragen müssen. Sie holte auch gleich eine Zeitung, die welsche Illustré. Erstaunlicherweise seien keine Menschen verschüttet worden. Wohl aber ein Weiler, mehrere Ställe und einiges Vieh. Sie zeigte mir auf einem Bild, wie das Tal vorher ausgesehen habe.
Sie verwies mich auf das ungefähr eine Stunde weiter oben liegende Berghotel Staffelalp, das sich direkt unter dem Matterhorn befinde. Nur eine Stunde? fragte ich zurück. Ja, es kommt darauf an, wie gut Ihr zu Fuss seid, es kommt darauf an. Da ich Lust hatte, mehr vom Matterhorn zu sehen, machte ich mich auf. Es war erst kurz nach zwölf.
Bald stapfte ich aber auf der Nordseite des Tales durch den Schnee, musste mich anstrengen, aus dem Spaziergang war nun wirklich ein Aufstieg geworden. Schon bald sah ich aber das Matterhorn wieder ganz, diesmal viel näher und in seiner vollen Pracht. Die Spitze ist tatsächlich ein Horn, gefährlich steil und wuchtig erhebt sie sich aus der Pyramide des Berges gegen den Himmel. Auf der einen Seite hingen Wolken wie eine Fahne im Wind an der Spitze und ich versuchte mit bescheidenem Erfolg eine Zeichnung zu machen. Aber angeschaut habe ich diesen Berg sehr genau, sah den Grat, über welchen die einfachste Rute hinaufführt, sah wie steil und wild diese Felserhebung, diese Burg eines Berges wirklich ist. Und wie stattlich.
Auf der Staffelalp erwies sich mein Traum vom gemütlichen Bergrestaurant vor dem Schoppen Wein an der Sonne dann als falsch. Vom stillen, anstrengenden Aufstieg landete ich mitten in der bunten Schar der Skifahrer. Der Wanderer und der Fahrenden. Der Wanderer mit seinen Strassenkleidern, mit seiner Lederjacke auf dem Arm, mit seinem Rucksack, mit seiner schwarzen Matrosenmütze, die Fahrenden in bunten, schreienden, aufgebauschten Klamotten, mit klobigen Schuhen aus ebenfalls buntestem Plastik, alle mit gebräunten Gesichtern, alle hier Zuhause. Ich hatte keine Lust mich zu ihnen auf einen der wenigen, freien Stühle auf die Terasse zu setzen. Das leichte Brennen meiner Gesichtshaut war ein zusätzlicher Grund, mich drinnen an einen der leeren Tische zu begeben.
Bei einer ausserordentlich freundlichen und kompetenten Serviererin bestellt ich einen Walliserteller und einen Dreier Dôle. Schmeckte alles sehr gut, ich kriegte von der Bedienung sogar noch etwas Sonnencrème geschenkt.
Auf dem Weg zurück wurde ich von einer Gruppe von Skifahrern eingeholt. Ich dachte, die sind von der Piste abgekommen. Ich wunderte mich aber über ihre Rucksäcke. Erst als einer bei einem Wegtunnel, wo sie sich der Skis entledigen mussten, sagte: Bienvenue en Suisse! wurde mir klar, das dies französische Tourenfahrer waren, die wohl von der italienischen Seite her über die Alpen gekommen sind.
Die Rückreise nach Bern verlief ereignislos. Anders als bei der Herfahrt sass ich in einem konventionellen Zug. Im Pendolino, in welchem man sitzt wie in einem Flugzeug, ist mir leicht schlecht geworden. Ich las noch eine Gotthelfgeschichte. Die Erbbase. Eine Geschichte, die in Sigeriswil spielt und von der es im Kommentar unverstädnlicherweise heisst, sie leide an einem “geschmacklosen” Schluss. Empfand ich überhaupt nicht.