Meine Bibliothek

Meine BibliothekMeine Bibliothek ist ein gebundener Freundeskreis. Meine Bibliothek ist ein Netz, ein Geflecht von Geschichten. Meine Bibliothek ist ein Bild meiner Bekannten und Freunde, meiner Freundinnen. Sie drehen mir zwar am liebsten den Rücken zu, wenn ich sie aber brauche, sind sie da, auf der Stelle. Mit allen habe ich Zeit verbracht, mit einigen von ihnen sogar sehr viel Zeit. Ich habe sie dabei so gut kennengelernt, dass ich ihr Äusseres kaum mehr beachte. Kleider machen Leute, aber wer sich auf seine Freunde und Bekannten einlässt, wer ihnen zuhört, zugehört hat und weiter zuhört, der misst ihrer äusseren Aufmachung immer weniger Wichtigkeit zu. Eine grosse Liebe darf auch mal schlecht gekleidet, also zum Beispiel im Taschenbuch daherkommen.

Ohne eine gewisse Ordnung geht es im wachsenden Kreis natürlich nicht. Aber niemals würde ich meine Bibliothek alphabetisch ordnen. Niemals! Das hiesse, die Bekanntschaften nicht von den Freundschaften zu unterscheiden können, es hiesse, sich der Zufallsordnung von Anfangsbuchstaben zu überlassen. Nein, Bücher müssen gewogen und ihrem Gewicht entsprechend angeordnet werden. Das ihnen von der literarisch interessierten Öffentlichkeit zugemessene Gewicht spielt dabei keine entscheidende Rolle. Ihr Gewicht in meiner Hand ist das einzige, das wirklich zählt. Ich weiss wohl, wann sie mir was bedeuteten, welche Wege sie mir zeigten, mit welchen andern Büchern sie mich erst bekannt machten, hinter diesen später vielleicht sogar zurücktreten mussten, aber doch eine Rolle gespielt haben, die ich ihnen ewig danke. Respekt verdienen auch jene Freunde, deren eigentlicher Welt man mittlerweile entwachsen ist.
Meine engsten Freunde will ich aber natürlich in greifbarster Nähe haben, möglichst anstrengungslos verfügbar. Deshalb überlasse ich die oberen Regale, also die feinsten Plätze jenen feinen Herren und feinen Damen, denen man Ehrfurcht entgegenbringt, die man äusserst höflich grüsst, achtet, anhört, die auch berühmt und erfolgreich sind oder waren. Ganz unten sind jene Bücher, die eher jenen leidigen Bekannten gleichen, jenen Klötzen die jeder am Bein hat, vor deren Anruf man sich fürchtet. Vielleicht weil ihre Ausdrucksart mühsam oder einfach unangemessen, sogar ärgerlich sein kann, weil man sich nicht mehr oder noch nicht mit ihnen versteht, mit ihnen aber auch schon wichtige Stunden in einer andern Zeit durchlebt hat, oder durchleben wird, denn für einige besteht noch Hoffnung, so duldet man sie, denn zu einem offenen Streit ist es nie gekommen, ihre Fälle sind noch nicht abgehakt. Es gilt aber hart zu sein: Eine unbegrenzte Zahl von Bekannten oder gar Freunden, mit denen man regelmässig auf bedeutende Art verkehrt, mit denen zusammen man lebt, kann aus praktischen Gründen niemand um sich scharen. Je mehr Menschen im Umfeld, desto oberflächlicher der Umgang. Man sei deshalb streng in der Auswahl seiner Freunde, ebenso wie achtungsvoll gegenüber den Ahnen und Vorfahren oben auf den Ehrenplätzen. Und natürlich sind da auch ein paar Aussenseiter, Käuze könnte man sagen, Einzelgänger, deren Gunst man lieber im kleinen Kreis oder ganz alleine geniesst, die man als nicht sehr verträglich mit allen andern einstuft, sie deshalb nicht in den Mittelpunkt rückt. Oder noch nicht. Ich versäume es aber nie, gerade diesen Aussenseitern besondere Ehrenplätze neben einem besonders einflussreichen oder berühmten, vielleicht sogar überschätzten Bekannten einzuräumen.

Nov. 1996