Der Winter ist gekommen, sagte ein Tankwart kurz vor der Grenze.
– Wird es da oben schneien?
– Hombre! Das nicht.
– Auch nicht auf 2500 Meter?
– Und wenn! Diese Pässe werden nie geschlossen.
Andorra/ Chiva de Morella
Auf der Anfahrt durch Katalonien hatte es nie aufgehört zu regnen. Und mit der Nacht war Kälte hereingebrochen. Es war ungemütlich, so in die Berge hinaufzufahren. Aber plötzlich war ich mitten drin in diesem Land, wo sich oberhalb der Baumgrenze immer noch Supermärkte und Einkaufszentren aneinanderreihen. Als ich in dem Ort Encamp im Hotel Progres ein Zimmer buchen wollte, fragte der Wirt, warum ich mich nicht nach dem Preis erkundige. Ich hatte nicht gefragt, weil es erstens spät war und weil zweitens dieses Hotel alle Welt nicht kosten konnte. Aber davon lebt Andorra: Von der ganzjährig geöffneten Strasse und von der Frage nach dem Preis der Dinge. Nach Andorra fahren Spanier und Franzosen gerne ein paar Hundert Kilometer, um dort eine Kamera oder einen Computer für ein paar „Dollar“ weniger zu erstehen.
Das Zimmer kostet 2900 Pts. Weil die Küche schon geschlossen war, stellte mir der Wirt einen Kalten Teller mit Wein und Brot auf einen Tisch. Auch ein kleines Gespräch gab es dazu.
– Nein, sagte der Wirt, hier spricht man nicht französisch. Die Amtsprache ist Katalanisch, doch weil viele von uns Immigranten aus dem Süden sind, spricht die Mehrheit Spanisch. Ich bin aus Cordoba in Andalusien.
– Und wieviele Einwohner hat Andorra?
– Vor zwanzig Jahren waren es noch 10 000. heute sind es 50 000.
Wie ich am nächsten Tag der Zeitung Diari d`Andorra entnehme, pflegen diese 50 000 Einwohner aufwendige internationale Beziehungen. Demnächst sollen Botschafter aus Dänemark, Grossbrittannien, Bulgarien und China akkredidiert werden. Da wird auch der Bischof aus dem katalanischen La Seu d’Urgell dabei sein, ein französischer Würdenträger wird ebenfalls nicht fehlen, denn so ganz und gar unabhängig und souverän ist das selbstbewusste Andorra offenbar doch nicht.
Aber schön ist es. Auch im Regen. Auch den wild und aggressiv wuchernden Neubauten zum Trotz. Läden, Shops, Bars und Hotels schmiegen sich brav an den Strassenrand, gleich dahinter, erstaunlich unberührt, führen alte Steinbrücken über rauschende Wildbäche in die steilen Hänge einer zeitlosen Bergwelt hinauf. Zwischen Kartoffeläckern, Tabackpflanzungen und Vieweiden stehen jene für die Pyrenäen typischen kleinen, romanischen Kirchen. Jede für sich ein Kleinod, jede perfekt in die Landschaft gestellt, jede ohne Mörtel, simpel und einfach wie aus dem Baukasten, und doch unimitierbar aufgebaut.
Von den Haarnadelkurven, die zum Pas de la Casa-Pass hinaufführen, sah ich mehrmals zu der besonders sehenswerten Kapelle von Canillo hinunter. Oben auf der 2400 Meter hohen Passhöhe, liess ich nicht nur die Iberische Halbinsel, nicht nur Spanien, sondern endgültig einen langen, ausserordentlichen Sommer hinter mir zurück. Es war ein harter Sommer gewesen.
Noch nie hat die Sonne so viele Touristen angelockt, aber auch noch nie so viel Schaden angerichtet. Brandschatzend ist sie gnadenlos über das ausgedörrte Land hergefallen und hat für Mitteleuropäer kaum vorstellbare Flächen in Wüste verwandelt. In der valencianischen Provinz Castellón hinterliess ein vom Wind vorwärtsgepeitschter Waldbrand eine gespenstische Mondlandschaft. Vierzig Kilometer Autofahrt durch Tod und Asche.
Als das Feuer das kleine Nachbardorf Ortells umringte, flüchteten die mehrheitlich älteren Bewohner und Bewohnerinnen hinter die dicken Mauern der Kirche. Damit sie dort nicht erstickten, musste die Feuerwehr später den grössten Teil des Wasservorrats auf das Kirchendach spritzen. Währendessen flüchteten aus den umliegenden brennenden Äckern und Wäldern die Schlangen, Echsen, alles, was kreucht und fleucht, in die leeren Häuser.
Ein Mann ist verschollen, bis jetzt gibt es keine Spur von ihm. Der Rest von Ortells kam mit dem Schrecken davon und fragte sich, wie sich das Feuer über den zwar augetrockneten, aber doch immerhin gegen die hundert Meter breiten, steinigen Fluss hinwegsetzen konnte?
Ein anderes kleines Dorf, weiter unten am gleichen Flussbett, blieb nur verschont, weil flink mit allen verfügbaren Traktoren und Pumpen und Tankwagen ein breiter Gürtel aus Schweinejauche rund um die Häusergelegt worden war.
Chiva de Morella dagegen wurde vorzeitig evakuiert. Die rund vierzig Männer und Frauen nahmen es gelassen , schauten zum geröteten Himmel hinauf und folgten den Anweisungen der Guardia Civil. Als sie aber ausserhalb des Dorfes, von einer Anhöhe aus, die in Flammen stehenden Felder und Wälder sahen, knieten einige nieder und beteten.
In der folgenden Nacht drehte der Wind. Chiva de Morella hat Glück gehabt.
Viele der Brände wurden durch Trockengewitter ausgelöst. Blitze schlagen ein, aber es folgt kein Regen. Andere durch naive Städter, die im Schatten eines Waldrandes oder zwischen Bäumen selbst Feuer machen, um zu grillen oder um Paellas zuzubereiten. Und sogar der König hat einen jener Autofahrer gesehen, die, dumm wir Stroh, ihre brennenden Kippen nach wie vor zum Fenster hinaus in den Strassengraben werfen. Natürlich sind auch echte Pyromanen am Werk. Einige wurden ertappt und verhaftet.
Verhaftet wurden in Sabadell bei Barcelona auch vier junge Männer zwischen achtzehn und zwanzig . Sie hatten wiederholt Feuer gelegt, weil sie, vermutlich vom Fernsehen sirenensüchtig und actiongeil, den dramatischen Einsatz von Lösch- und Rettungsfahrzeugen und den darüber kreisenden Hubschraubern und Flugzeugen über alles liebten und immer wieder neu miterleben wollten.
Aber weder die anhaltenden Feuerkatastrophen noch irgendeine andere Katastrophe draussen in der weiten Welt hat die Spanier je davon abhalten können, gründlich und ausgiebig ihre Feste zu feiern.
Im Städtchen Morella war es eine alle sechs Jahre zelebrierte Novena – eine neuntägige Andacht – zu Ehren jener Jungfrau, die ehemals einem Hirten erschien und vor 300 Jahren gegen die wütende Pest Wunder gewirkt haben soll.
Am ersten Tag des Festes zogen rund 2000 Leute unter Glockengebimmel 22 Kilometer den Berg hinunter, um diese Mutter Gottes für die Dauer des Festes von ihrem Sanktuarium nach Morella zu holen.
Es war eine herrliche Wallfahrt. Die Weinbeutel waren prall gefüllt, Schnapsflaschen wanderten mit, es wurde auch immer wieder andächtig gesungen, und doch war es ein wandernder Jahrmarkt, an welchem auch nicht praktizierende Christen ihren Spass hatten.
Für einmal gehörte die Strasse den Fussgängern. Die Polizei liess die Autos unerbittlich zu endlosen Schlangen auffahren. Es war eine Freude. Ging es aber querfeldein, kam richtige Pilgerstimmung auf. Der lange Zug folgte einer weissen und einer grünen Fahne. Zwischen den schwarzen Hüten sah man immer wieder das hölzerne Kreuz, dahinter den Priester mit der Jungfrau in einem goldenen Kasten vor dem Bauch. Die Luft war würzig. Es roch nach Lavendel, Thymian und Sadurilla. Jemand pflückte von Letzterer einen Stengel mit weissen Blüten und sagte, während er daran roch: Damit macht man Oliven ein. Dann steckte er den Halm an seinen schwarzen Hut. Und links und rechts strömten Kinder aus, naschten Brombeeren und suchten mögliche Abkürzungen. Geredet wurde auch von den Bränden, waren doch in der Ferne verkohlte, eingeäscherte Hänge zu sehen. Als das Dorf Ortells erwähnt wurde, fragte man sich abermals, wie das Feuer bloss über das breite Flussbett habe gelangen können. Inzwischen wollte jemand ein Wildschwein gesehen haben. Brennend, lechzende Flammen am Leib, sei das Tier panikerfüllt auf die andere Seite gerast und habe sich dort im ausgedörrten Gras gewälzt. Von Busch zu Busch habe es das Unheil weiter ausgebreitet.
Vorerst vergass man in Morella aber das Feuer von Ortells, auch den Hunger in Afrika, man vergass überhaupt die ganze Welt. Der Wallfahrt folgte einen Prozession und dieser eine Messe und der Messe folgte ein Festmahl, dem folgte ein Konzert mit Tanz bis in den frühen Morgen hinein. So ging es täglich weiter. Ein Festakt folgte dem anderen, dem Konzert einer Rockgruppe folgte Joan Manuel Serrat, es gab Ausstellungen, Sportveranstaltungen und Stierkämpfe fehlten nicht, denn ein spanisches Fest ist ein spanisches Fest.
Ein Kulturbrief, erschienen in der Zeitschrift Literatur und Kritik Heft 289/90 November 1994