Das Kellertheater Die Rampe befand sich an der Kramgasse In Bern. An der Kramgasse, an der tagsüber noch ein Milchmann mit Ross und Wagen von Haus zu Haus ging und mit seiner Milch auch jeden Tag ein wenig Landluft in die Stadt brachte. An der Kramgasse, an der abends die Herren in grauen Mänteln und grauen Filzhüten mit ebenso grauen Damen am Arm durch die Lauben spazierten.
In der Rampe wurden damals fleissig moderne Stücke vorgestellt und diskutiert. Es gab auch literarische Abende mit Einheimischen. Lesungen und Diskussionen.
An diesem Abend hatte eben der schon damals weit herum bekannte Kurt Marti politische Gedichte vorgelesen, als ein ziemlich erboster junger Mann aus dem Publikum das Wort ergriff. Die Rampe war voll bis auf den letzten Platz. Der forsche junge Mann stand auf der Kellertreppe. Er gab sich aufmüpfig und schaute, während er redete, unbeiirt geradeaus. Möglicherweise war er auffallend bunt, vielleicht sogar im Stil der damaligen Blumenkinder gekleidet.
Ob er schon einmal Haschisch oder LSD konsumiert habe? wollte er von Kurt Marti wissen.
Kurt Marti sagte „Nein“ und der junge Mann sprach ihm deshalb aufgebracht das Recht ab, darüber zu schreiben.
„Darf über ein Spiegelei geschrieben werden, wenn die Erfahrung fehlt, ein Spiegelei zu sein“? Jemand sagte, dass er sehr wohl das Recht habe, mit seiner Fantasie über ein Spiegelei schreiben zu dürfen, ohne selbst auf dem Rücken liegend in einer heissen Pfanne gebraten worden zu sein.
Später stellte sich heraus, dass der junge Mann Rolf Geissbühler hiess und selbst bereits erfolgreich Texte veröffentlich hatte. Er insistierte vorwurfsvoll, dass Kurt Marti niemals Bilder aus der Welt des Drogenkonsums übernehmen dürfe, ohne sie selbst überprüft zu haben. Die Verwendung von Bildern, die nicht durch das eigene Bewusstsein entstanden wären, sei Kolportage, also Wiedergekautes, also Neuaufbereitetes, also Verfälschtes, also Kitsch.
„Literatur kommt nur von Literatur rief jemand“! und „Nichts Neues unter der Sonne“! wurde gerufen. Und ein schon damals von oben bis unten schwarz angezogener Mann spottete: „Ist sowieso alles Kitsch!“
Die andern Bernerautoren, die von der plötzlich aufbrausenden Diskussion überrascht, ziemlich hilflos auf der kleinen Rampenbühne sassen, gingen in die Defensive. „Jeder kann schreiben, wie er will und was er will“, sagte einer von ihnen. Möglicherweise war es Walter Vogt, der sich als erster wieder erholte und die literarische Freiheit zu lobpreisen begann. Im Gegensatz zu jeder anderen Freiheit, sei diese nun wirklich unbeschränkt und es wäre ja noch schöner, wenn da einer nicht über alles, also auch über ein Spiegelei schreiben dürfte, obschon er selbst nie ein Spiegelei gewesen sei.
„Höret mr doch uf„ protestierte der erboste Geissbühler.„Göt mir doch wäg!“ hörte man aus dem Publikum, das sonst mehrheitlich staunend mitverfolgte, wie ungewohnt direkt, offen und streitbar diese Leute miteinenander umgingen. Da wurde tatsächlich öffentlich um aesthetische Grundsätze und über den Wahrheitsgehalt von Literatur gestritten.
Irgendwo hier ergriff Mani Matter das Wort und sagte, wer recht habe sei vielleicht gar nicht so wichtig, aber dass man über so etwas streiten könne, das zeuge zwar von Kultur, aber auch von einem Wohlstand, der solchen Luxus erst möglich mache.
Er hatte auch keinen Sitzplatz mehr gefunden und auf der Treppe an die Kellermauer gelehnt der Diskussion beigewohnt. Seine Stimme war ruhig und die Spannung im der Rampe versachlichte sich sofort wieder. Man könne sich wirklich auch fragen, fuhr Mani Matter fort, ob es tatsächldich die Aufgabe der Literatur sei, immer neue Welten und neue Geschichten zu erfinden? Ob nicht viel mehr die Aufgabe von Kunst im Allgemeinen und von Literatur im Besondern darin bestünde, unsere Welt genauer anzusehen. Das bedinge aber auch eine kompromisslose Genauigkeit der dazu verwendeten Sprache.
Vielleicht sagte er es aber auch leicht anders, vielleicht sagte er es sogar ganz anders, aber das Auffallendste dran war sein Ton: Mani Matter redete nicht als blosser Zuhörer, aber auch nicht als Beteiligter, auch nicht als Literat, auch nicht als wäre er sonstwie direkt von der Diskussion betroffen. Er redete eher wie ein Zaungast: Hier und doch nicht ganz hier, dabei und doch nicht ganz.
Erschienen in Der Bund 2002