1

Warum empfinden wir Landschaft allgemein als etwas Schönes und wie unterscheiden wir in unserer Wahrnehmung eine sehr schöne Landschaft von einer weniger schönen?

 

2

Wir sind unterwegs. Es ist ein herrlicher Tag. Wir gehen durch einen Wald. Wir fühlen uns sehr gut, sogar geborgen, Vögel zwitschern und trällern, wir sehen Bäume, Sträucher, vielleicht sogar Blüten und Blumen, es riecht frisch nach Moos und Farn, es ist eine Freude, tief ein- und auszuatmen. Während wir gehen, sehen wir oben über den Tannenspitzen vielleicht Bruchstücke eines blauen Himmels, aber sonst ist unsere Sicht beschränkt. Dann biegt sich der Weg, die Bäume lichten sich, wir kommen zum Rand des Waldes und stehen plötzlich vor einer weiten, aber in sich geschlossenen Welt. Über Äcker und Wiesen hinweg sehen wir auf einen Hof, auf eine sich davonschlängelnde Landstrasse, auf ein Dorf, vielleicht noch auf ein zweites Dorf mit einem Kirchturm, dann auf einen bewaldeten Hügel und auf eine weitere, leicht höhere Hügelkette und hinter dieser vielleicht sogar auf leuchtende, weisse Berge am Horizont und schon geht es uns freudig durch den Kopf: Wie schön!
Und natürlich ist es kein Zufall, dass sich gerade dort an diesem Waldrand eine Bank befindet. Setzen wir uns, um inne zu halten und uns zu fragen, was hier eigentlich schön ist, bemerken wir, dass es nicht unbedingt unser Kopf war, der die freudige Reaktion auslöste, sondern unsere Gefühle. Denn schauen wir genauer hin, ist nichts Ausserordentliches an diesen maschinengepflügten Äckern, die Wiesen sind vielleicht überdüngt und herbizidgeschädigt, der Hof hat möglicherweise noch ein ausladendes Dach, aber sonst ist er ausgehöhlt, vielleicht sogar verunstaltet, das schön geschwungene Strässchen ist asphaltiert, wird fleissig befahren, womöglich wird dort sogar gerast und solche Hügel wie diese hier gibt es genau betrachtet zu Tausenden und was die beschneiten Berge betrifft, gibt es davon in den Alpen weit schönere und auch höhere. Und dennoch besteht kein Zweifel: Der Ausblick berührt uns, er ist schön!
Wir brauchen eigentlich auch nicht weiter darüber nachzudenken und können im vollen Bewusstsein, uns mitten in einer «schönen» Landschaft zu befinden, unsere Wanderung fortsetzen.

 

3

Wollen wir es aber doch genauer wissen, werden wir uns eingestehen, dass wir diese «schöne» Landschaft schon als solche erkannten, bevor wir sie auf unserem Bänklein genau betrachtet haben. Solche Landschaften wissen wir problemlos einzuordnen. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass uns schon so oft gezeigt, wenn nicht suggeriert worden ist, wie schön diese Art Landschaft doch eigentlich ist. Längst haben wir gelernt, unbewusst Äcker und Wiesen, Höfe und Dörfer, Strässchen, Wälder, Hügel, Berge und Himmel zu einem Bild zusammenzusetzen, das uns anspricht. Wir können sogar einen bestimmten Ausschnitt wählen und diesen vor unserem inneren Auge einrahmen und aufhängen, als wäre es ein Landschaftsbild von Giovanni Giacometti oder von Ferdinand Hodler in einem Museum. Das hat uns die Kunst, aber auch die Werbung vorgemacht und daran ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, das ist das Wesen der Kultur. Weil unser Blick geschult und wir entsprechend kultiviert sind, wissen wir, was schön ist. Entstanden ist dieses Wissen selbstverständlich im Wechselspiel mit unseren Empfindungen. Bei den alten Meistern sehen wir, dass dies früher nicht anders war, denn deren Vorstellungen von schöner Landschaft sehen sich derart ähnlich, dass sich auf ihren Bildern so etwas wie eine Ideallandschaft zu erkennen gibt.
Zwar stand die Landschaft bis ins vorletzte Jahrhundert hinein kaum im Mittelpunkt der Kunst, vorhanden ist sie aber sehr wohl, wenn auch vor allem im Hintergrund von porträtierten Kaisern, Königen, Helden, Heiligen und Jungfrauen. Man sagt, dass sich die ganz grossen Meister diese Hintergründe von ihren Gehilfen haben malen lassen, während sie selbst sich auf das Wesentliche konzentrierten. Sollte dem so gewesen sein, kann man feststellen, dass auch die Gehilfen keine Stümper waren. In den oft poetisch und bis in das kleinste Details hingebungsvoll gemalten idealisierten Landschaften sehen wir genau, was man auch damals gerne sah und deshalb wohl nicht nur in ihren Abbildern, sondern in der Natur selber suchte.
Es sind ziemlich genau jene Eigenschaften, die wir eigentlich mit dem Garten Eden in Verbindung bringen: Überschaubare Weite, harmonisches Gleichgewicht, Schönheit, Frieden und Fruchtbarkeit. Schroffe Eisgebirge mit bedrohlichen Gletschern und unbezwingbaren felsigen Gipfeln gehörten vorerst sicher nicht dazu. Vielmehr liebte man offensichtlich die sanften Hügel, wogende Kornfelder, üppige Weinberge, lichte, von jagdbarem Wild wimmelnde Wälder, friedliche Gewässer und natürlich romantische Schlösser und Burgen, deren Zufahrtswege dieses Paradies nicht selten mit sanften Schleifen durchziehen.
Eigentlich ist es dieser Blick auf Arkadien, der bis zur modernen Tourismusreklame die Bilderwelt in unseren Köpfen, was die Landschaft betrifft, kultiviert und prägt.
Auf den Einwand, man könne aber beispielsweise den Grand Canyon ebenso als überragende Landschaft bewundern, genau so wie den Freiburger Seebezirk, das Emmental oder das Engadin, wäre zu entgegnen, dass es sich hier um einen Irrtum handelt. Der Grand Canyon ist bestimmt spektakulär, aber er ist keine Landschaft, er ist Wüste. Wirklich schöne, uns berührende Landschaften sind bewohnt und belebt, in der schönen Landschaft will man sich ansiedeln und sich heimisch machen wir im Paradies. Es ist auch genau deshalb, dass sie so schnell schrumpft und sogar verschwindet. Da wollen nämlich alle hin. Vielleicht will man die Wüste bestaunen, sicher will dort aber niemand sein Haus hin bauen.
Deshalb ist Landschaft dann besonders schön, wenn sie unserer ureigenen, aber auch unserer kultivierten Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit entspricht.

 

4

Es wäre ja erstaunlich, wenn es zu der gestellten Frage keine theoretischen Abhandlungen gäbe. Es gibt sogar ein Buch und das heisst genau so: Warum ist Landschaft schön? Geschrieben hat es der Schweizer Sozialwissenschaftler Lucius Burckhardt (1925-2003), der sich als Begründer der Spaziergangswissenschaft oder der Promenadologie einen Namen gemacht hat. Natürlich darf man einer solchen Wissenschaft skeptisch begegnen, man darf sich sogar ein Lächeln erlauben, allerdings sollte man ihre Verdienste nicht unterschätzen. Wenn es nämlich um das Verplanen und Gestalten des Raumes geht, kommt dem verlangsamten und vertieften Blick des Fussgängers auf dieses leider sehr begrenzte Gut grosse Bedeutung zu. Die Wahrnehmung der Welt aus der Sicht des Spaziergängers oder der Spaziergängerin ist eine völlig andere als diejenige des oder der Fahrenden, die notgedrungen zeitlich und räumlich viel eingegrenzter ausfällt. Dank der Spaziergangswissenschaft, wurde unser Bewusstsein diesbezüglich zweifellos geschärft.
In Anlehnung an die berühmte Aussage des Dichters Johann Gottfried Seume «Vieles würde besser gehen, wenn man mehr ginge» lässt sich heute sagen: «Vieles würde anders aussehen, wenn die Politiker, die Planer und die Architekten, die es verbrochen haben, mehr zu Fuss gegangen wären».

 

Erschienen in: Naturfreund 2/2017

Text als PDF

© Beat Sterchi, 28. März 2017