Albert Bitzius im Gotthelfjahr 2004
Erschienen in «Der kleine Bund» SAMSTAG, 9. OKTOBER 2004

1. Gotthelfindustrie

Bitzius coloriert
Bitzius coloriert

Man mag es beklagen oder begrüssen: Die Gotthelfindustrie prosperiert. Gotthelf sells. Zweifellos haben dazu die Hörspiele in den Fünfzigerjahren eine solide Basis geschaffen. Wer die Radiozeit noch erlebt hat, erinnert sich. Die Filme haben diese Ausgangslage noch gestärkt. Man braucht nicht viel von Marketing zu verstehen, um in Gotthelf eine hervorragendes Label zu erkennen. Sicher befinden sich da einmal nicht die 20-30 Jährigen in der Hauptzielgruppe, aber für die gesetzteren Generationen signalisiert der Name „Gotthelf“ eine ganze Reihe von sehr geachteten Qualitäten. Und zwar so eindeutig und klar, dass nicht nur das Gewerbe – von Gastwirten bis zu den Produzenten von Käse, Würsten, Bretzeli und anderen Köstlichkeiten – gerne mit ihm wirbt und damit für Tradition, Bodenständigkeit, Ehrlichkeit, Echtheit und Naturverbundenheit zu bürgen hofft.
Auch das Fernsehen braucht den Namen Gotthelf nur auf ein längst andernorts erprobtes Sendungskonzept zu kleben und der Erfolg ist garantiert. Das Label Gotthelf besitzt einen derart phänomenalen Bekanntheitsgrad, dass es längst ein Selbstläufer geworden ist und auch 150 Jahren nach dem Tod seines Urhebers sofort kulturelle und sprachliche Nähe und heimelige Vertrautheit signalisiert.

2. Gotthelfmythos

Weil sich die Gotthelfindustrie aber nicht auf das eigentlich Werk, sondern auf dessen mehr oder weniger treue Verwertungen stützt, hat sie einen Mythos geschaffen. Eine Konsequenz der erfolgreichen Vorabendsendung ist beispielsweise, dass eine neue Generation einen Autoren kennen lernte und sogar Bilder, Ideen und Werte mit diesem assozieren kann, ohne ein Wort von ihm gelesen zu haben.
Anstatt von seinem Werk auf die Wirklichkeit schliessen zu lernen, schliesst ein neues Publikum abermals von der massentauglichen Aufbereitung auf das Werk, welches dann einmal mehr für die harte, aber gute alte Zeit auf dem Land zu stehen hat.
Auch die wieder neu ausgestrahlten Dialekthörspiele werden mehr als einem Hörer das Herz warm machen und mehr als eine Hörerin wird mit einer ungestillten Sehnsucht nach gesunden, frommen und urständigen Glücksgefühlen im Emmentaler Glockengeläut und in den behäbigen Dialogen schwelgen. Etliche werden einmal mehr stolz sein auf unseren grossen Dichter und auf sein schönes Berndeutsch, ahnungslos, dass diese Gotthelfsprache weder diejenige von Meister Bitzius, noch die seiner Bücher, sondern eine ziemlich willkürliche Übersetzung ist.
Das gleiche gilt für die auf zahlreichen Laienbühnen mit grossem Publikumserfolg gespielten Dramatisierungen seiner bekanntesten Romane und Erzählungen. Als 1997 sein 200 Geburtstag gefeiert wurde, entstanden über 100 Produktionen. Vermutlich ist Gotthelf denn auch der am meisten inszenierte Schweizer Autor aller Zeiten. Nicht schlecht für einen Mann, der das Theater verachtete und schon in „Ueli der Knecht“ das Hornussen weit höher einschätzte als das „fratzenhafte Komödienspielen“.

3. Gotthelfleserschaft

Es wäre ein Trugschluss, zu glauben, weil der Buchhandel vermeldet, Gotthelf laufe nicht, er würde nicht gelesen. Es gilt zu bedenken, dass er viel und gut, sogar schön und unverwüstlich gedruckt worden ist. Die soliden Bände der bekannten Ausgaben haben in Antiquariaten nach wie vor einen Preis, der keineswegs auf endgültig schwindendes Interesse schliessen liesse. Auch anders als kolportiert wird, war und ist er sogar in Bauernhäusern, im angeblich ihm feindlichen Emmental, durchaus vorhanden. Antiquare, die Bibliotheksräumungen vornehmen, können dies bestätigen. Gotthelf hat im Rahmen, in welchem überhaupt noch dicke Bücher aus anderen Zeiten gelesen werden, durchaus seine Leserschaft. Wer in Sachen Gotthelf unterwegs ist, trifft immer wieder Leute jeden Alters, die sich nicht nur für den Mythos Gotthelf, sondern auch für das Werk interessieren.

4. Gotthelfangst

Wer in Sachen Gotthelf unterwegs ist, wird aber auch immer wieder Menschen treffen, die bei aller beteuerten Bewunderung zusammenzucken, wenn sie mit jener Schärfe und Derbheit der Sprache und jenem gnadenlosen Blick auf die Welt konfrontiert werden, die besonders seine frühen Werke prägen und die das eigentliche Fundament seines Ruhmes bilden. Sie zucken zusammen, wenn Frau Jowäger zu ihrem, eben erst mit nur noch einem Auge von der Pocken genesenen Sohn sagt, er sei doch „dr dümmscht Hung, wo Brot frisst“. Oder sie sind entsetzt, wenn sie hören, wie ihr braver Gotthelf mit besten Grüssen an die Politiker jeder couleur ausruft „wenn das heisst regieren, dann heisst Furzen musizieren“.
Beim öffentlichen Vorlesen aus seinen Büchern, kann man derart ins Kreuzfeuer böse drohender Blicke geraten, dass man sich genötigt fühlt, zu beteuern, bei den vorgetragenen Worten handle es ich wirklich um solche von Gotthelf. Man liebt den wahren Gotthelf halt doch weit weniger als dieses Abziehbild von einem so herrlichen Bernerpfarrstubenbauernzmorgenreitwägelihaguhanschäsuvrenelibrot-
ueliwurschtruediwaltervorabendfernsehschwyzerprogrammgezöpfeltermisthaufengotthelfdichter.
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liselottepulver-ruediwalter-vorabendfernseh-schwyzerprogramm-gezöpfeltermisthaufen-gotthelfdichter).

5. Gotthelfverharmlosung

Man kann einen Roman wie „Anne Bäbi Jowäger“ oder wie „Die Käserei in der Vehfreude“ sehr wohl zum Anlass nehmen, über die Sorgen des Bauernstandes nachzudenken oder zu diskutieren. Gotthelf eignet sich zur geschichtlichen Aufarbeitung von praktisch jedem Aspekt gesellschaftlichen Zusammenlebens. Darin versteckt sich wohl ein allumfassendes Bewusstsein, das als Verdienst kaum überschätzt werden kann. Gotthelfs Werk ist so breit und so tief, dass in ihm auch für das gesuchteste Stichwort ein Widerhall, wenn nicht eine Geschichte oder wenigstens eine Figur, eine Erkenntnis, eine Beobachtung gefunden werden kann. Diese Fülle bietet sich aber auch an für jede Art von Popularisierung und ist somit gleichzeitig der Keim der Verharmlosung.

6. Gotthelf

Man käme den ursprünglichen, politisch-gesellschaftlichen Absichten des Literaten Gotthelf viel näher, wenn man an Hand seiner Bücher nicht über Themen diskutierte, sondern über die Art und Weise, wie er diese gestaltet, veranschaulicht und mit Hilfe seiner Kunst in Geschichten zum Leben erweckt.
Da könnte man erkennen, wie genau, wie ehrlich, wie schonunglos Menschen und ihre Machenschaften beschrieben werden können, wie durch Schauen, Durchschauen, wie durch Darstellen, Blossstellen entstehen kann. Würde Gotthelfs Meisterschaft nämlich auf heutige Zustände angewendet, es wäre schnell vorbei mit seiner Popularität.

Meine Beiträge zum Gotthelfjahr:
„Erntestolz“ Reportage in „Auf dem Weg zum Original“.Hrsg. Paul Ott, Fritz von Gunten, Hep Verlag.
„Bitzius“ Ein Gotthelfprogramm mit Musik. CD-Buch. Edition Ratatouille.
„Anne Bäbi im Säli“ Theaterstück. Schlachthaus 20. Okt.
„Bitzius“ Biografisches Hörspiel, 13. Okt. 20h DRS 2