Wendeltreppe
Photo: Lynne MacMath auf Unsplash

Eine lange Zimmerflucht. Nachts. Perspektive: von unten, damit Zimmer höher scheinen. Hinten ein leicht erhelltes, angelehntes Fenster. Ein wallender, durch-sichtiger Vorhang. Ein Arbeitstisch, ein Schreibtisch, mit einem prominenten Drehstuhl. Eine Lampe an einem langen Arm, schattenhaft gegen das etwas hellere Fenster zu erkennen. Vorne in einem Lehnstuhl oder auf einem Sofa liest ein Mann in einer Zeitschrift, eventuell ist sein Gesicht verdeckt. Er hat den Rücken zum Hinter-grund. Am Fenster ist ein Geräusch zu hören. Der Lesende hört nicht. Noch ein Geräusch. Dann ein Schatten. Beim nächsten Geräusch hebt der Lesende horchend den Kopf, spitzt die Ohren, hört nichts und liest. weiter.

Am Fenster ist die Silhouette zu sehen. Ein gelenkiger Mann in Tennisschuhen, Pullover, mit einer um den Hals geknoteten Jacke, steigt leichtfüssig ein. Typische Einsteigerpose. Beim nächsten Geräusch steht der Leser auf, geht durch die Wohnung nach hinten. Der Einbrecher drückt sich in die Dunkelheit. Plötzlich ist er voll vor dem anderen. Der schreit: You fucking bastard! Der kleinere Einbrecher zuckt zusammen, wendet sich ab und springt zum Fenster hinaus auf die Terrasse. Es ist unklar, wer zuerst reagiert, die Flucht und der Fluch müssen praktisch gleichzeitig passieren. Der Lesende stürzt sich auf die Flüchtenden, erwischt ihn um die Taille, bleibt aber selbst im Fensterrahmen festgeklemmt.
Der Film bewegt sich dann rückwärts, etwas schneller als vorwärts, bis der Bewohner der Wohnung wieder im Sessel liest. Die Wohnung wird aufgeleuchtet, verfremdet, um einen Unterschied klarzumachen. Der gleiche Ablauf wie vorher, doch beim Erblicken des Eindringlings bleibt der Lesende stehen und fragt: What are you doing here?
Seine Stimme klingt nicht überzeugend. Er ist überrascht, ratlos, ängstlich. Der Eindringling springt auf den Leser, ein Gewühl entsteht, der Einbrecher springt wie vorhin aus dem Fenster, rennt ein paar Schritte zu einer Wendeltreppe, zu einer Feuerleiter. Es wird wieder zurückgespult. Der Leser sitzt im Stuhl, genau wie am Anfang, nachdem er aber die Ohren gespitzt hat, steht er leise auf, drückt sich auch an die Wand, greift bei langsamem Vordringen im dunklen, unerleuchteten Teil der Wohnung nach einem Gegenstand. Messer, Schirm, Stock, Blumenvase. Beim Anblick des Eindringlings schlägt er zu, im Dunkeln ist nur der Aufschlag zu hören, ein Schrei, der Eindringling entkommt aber diesmal schon weiter die Treppe hinunter, er rennt, als ob er verwundet wäre die Windungen hinunter, dreht mehrere Runden, die mit einem Schwindeleffekt verbunden werden. Wieder schnelles zurückspulen, mitten drin plötzlich eine weitere Fluchtsequenz, der Eindringling rennt die letzten Stufen der Wendeltreppen hinunter, setzt über eine Mauer, verschwindet, an der Mauer bleibt eine Blutspur, zurückspulen geht weiter bis der Leser wieder im Sessel sitzt. Wieder das Geräusch, der Leser geht hin, beim Anblick sagt er: Look at that, who is here? Er klingt überlegen. Der Eindringling springt zum Fenster. Der Leser ist schneller. Schiebt es zu. Sagt: Wait! Why the hurry? Der Eindringling drückt sich an die Wand. Der Leser: So that’s what a burgler looks like? Macht Licht, die Lampe richtet sie auf ihn. Sein Gesicht ist nicht beleuchtet. Es ist ein Junge. 16-17 Jahre alt, trotzig, aber nicht verbrecherisch. Der Leser: Have a seat! Der Junge wird auf den Stuhl geschoben oder gezogen. Der Leser geht um ihn herum. Dreht den Stuhl, aber nicht sadistisch. Eher klinisch interessiert, sogar menschlich. Der Junge ist verängstigt bleich, grosse Augen. Well, we need something to fix you up. Would you like a beer?
Can I get you something, a beer? A drink? Wait I’ll get you some beer. Er dreht sich ab, kommt gegen die Kamera, in diesem Augenblick macht der Junge anstalten abzuhauen, er öffnet geräuschlos das Fenster, wie der Leser mit einer Flasche in der Hand zurückkommt steigt er aus, rennt die Wendeltreppe hinunter, der andere hinten nach, gleich wie vorher, springt der Junge über die Mauer, der Verfolger nach, sie rennen durch einen Hof, über ein Parkplatz, hinten sind Lichter zu sehen, eine Strasse, Neonreklamen, Verkehr, der Verfolger holt auf, der Junge rennt und rennt, schaut zurück, rennt auf die Strasse, wird überfahren, der Verfolger steht mit der Flasche in der Hand am Strassenrand, dreht sich, so wie der Junge auf dem Drehstuhl, oder auf der Wendeltreppe zur Kamera und sagt: Any questions?

© BPS Montreal, Juni 1982