Horacio Ferrer Detail Exodo
Horacio Ferrer Detail Exodo

1936 brach er aus, 1939 ging der Spanische Bürgerkrieg zu Ende.

Die gebrechliche Wirtin eines kleinen valencianischen Bergdorfes erzählt immer wieder unaufgefordert von Armut, Not und Krieg.
Ihr Onkel sei der Hufschmied des Dorfes gewesen. Nach Mitternacht habe man an seine Haustür gepoltert. Er habe aufgemacht. Der erste Schuss habe ihn aus nächster Nähe in die Brust getroffen. A bocajarra, heisst das auf Spanisch. Da er sich sofort an die Wunde gefasst habe, sei der zweite Schuss mitten durch die Hand gegangen.

Auf die Frage, warum ihr Onkel damals in den Jahren nach dem Bürgerkrieg von den Partisanen erschossen worden sei, gibt die gebrechliche, alte Wirtin aber keine Antwort. Sie wisse es noch heute nicht, behauptet sie.
Einen andern Todesfall betreffend, weiss sie nur noch, dass es sich um die Hinrichtung eines „Roten“ gehandelt habe. Von der Polizei erschossen. Aber an gewisse Einzelheiten erinnert sie sich noch mit böser Lust. Zum Beispiel daran, dass der arme Teufel vor Angst die Hosen voll hatte. Trotz ihrer Gebrechlichkeit bückt sie sich sogar, greift sich an den Knöchel. Hier sei die Kacke rausgelaufen, sagt sie. Wer sie in ihrem Erzähleifer sieht, muss annehmen, dass die gute Frau damals vor Schadenfreude wohl gejauchzt haben muss.
Andere Leute im Dorf wissen jedoch mehr. Ganz so zufällig haben die Partisanen ihre Opfer nicht ausgewählt. Der Schmied sei nicht nur ein standhaft antirepublikanischer
Rechter, sondern auch Ortsvorsteher der Falange, der franquistischen Einheitspartei gewesen. Auch die Kadetten habe er unter sich gehabt. Sonntags habe er an alle Knaben Uniformen und Gewehrattrappen aus Holz verteilt und sie dann vor der Messe durchs Dorf paradieren lassen. Nach dem Gottesdienst habe er alles wieder eingesammelt.
Die Hinrichtung des „Roten“ dagegen hat vermutlich kurz bevor der franquistische Dorfschmied erschossen worden ist stattgefunden. Eine als Partisanentrupp verkleidete Streife der Guardia Civil hat ihn auf einem steinigen, abgelegenen Acker beim Pflügen unterbrochen und über die politischen Verhältnisse im Dorf ausgefragt. Auch wollte man von ihm wissen, wer sich seit Kriegsende unrechtmässig bereichert habe und wessen Gesellschaft das Dorf sonst noch ganz gut entbehren könnte. Nichtsahnend fasste der arme Bauer bald Vertrauen, bekundete den falschen Partisanen seine Sympathie und proklamierte sich selbst als Anhänger der Linken. Er nannte unter anderem Name und Adresse des Schmiedes. Darauf wurde er festgenommen, eine Nacht lang in einem Stall eingesperrt und hingerichtet.
Möglicherweise war aber auch alles ganz anders. Es gibt kaum eine Aussage über jene Zeit, der nicht eine andere widerspricht. Vielleicht – auch diese Version ist im Dorf zu hören – war der Bauer lediglich eins von vielen Sühneopfern der Polizei. Vielleicht ist er auch nicht eingesperrt und hingerichtet, sondern gleich an Ort und Stelle nach dem Fluchtgesetz umgebracht worden. Das Fluchtgesetz, ley de la fuga genannt, bestand darin, dass die Polizei jemandem sagte, er könne gehen, um ihm darauf kurzerhand in den Rücken zu schiessen. Auf der Flucht erschossen, hiess es in solchen Fällen nachher im Rapport.
Auch nicht auszuschliessen ist die Möglichkeit, dass der Dorfschmied gar nicht von den Partisanen, sondern von einem franquistischen Todesschwadron ermordet worden ist, weil er in den Kriegswirren einen Klosterschatz hat verschwinden lassen oder nicht vereinbarungsgemäss mit andern geteilt hatte. Auch dies eine als Gerücht im Dorf existierende Veriante.
Fest steht jedoch, dass besonders in armen, ländlichen Gegenden, wo Analphabetismus die Regel war, der Legendenbildung keine Grenzen gesetzt sind. Das kollektive Gedächtnis kann unter solchen Umständen ebenfalls kaum unterschätzt werden. Oft ist es nicht einmal mehr ein Löcherbecken, sondern einfach ein einziges, grosses, schwarzes Loch.
Fest steht auch dies: Als der Krieg zu Ende war, ging er weiter. Erst folgten für die Verlierer zwar Agonie, Flucht oder Gefangenschaft, dann die allgemeine Schreckensherrschaft der Sieger. Es wurde gerächt und „gesäubert“, mit unvorstellbarer und für den spanischen Krieg bezeichnender Erbarmungslosigkeit. Die Entwicklung des zweiten Weltkrieges gab den antifaschistischen Kräften jedoch bald wieder Auftrieb und Grund zur Hoffnung. Die Repression im Lande war aber mittlerweile so effizient, dass bewaffneter Widerstand nur noch in den dünnbesiedelten Gebirgsketten möglich war. Dort existierten seit dem offiziellen Kriegsende denn auch vereinzelte Guerillazellen. Es waren kleine, sporadisch in der Ausweglosigkeit entstandene Kommandos, die äusserst schlecht ausgebildet und kümmerlich bewaffnet wohl ein paar Sprenganschläge auf Stromleitungen und Eisenbahngeleise schafften, aber anfänglich nur wenig bis kein politisches Gewicht hatten und während Jahren für den franquistischen Staat kaum ein Gefahrenpotential darstellten.
Die lose organisierten und improvisierten Kommandos rekrutierten sich aus Untergetauchten, militanten Gwerkschaftern und vor allem aus Sozialisten und Kommunisten. Sie bildeten auch eine willkommene Auffangsorganisation für jene politisch Verfolgten, denen es gelang, aus den zahlreichen Konzentrationslagern auszubrechen. 70 000 Spanier und Spanierinnen, so lautet eine Schätzung, sollen Anfang Vierzigerjahre hinter Stacheldraht gelebt haben.
Auch für die Spanier und Spanierinnen im Französischen Exil war der Krieg 1939 nicht zu Ende. Mehr als 6000 von ihnen schlossen sich der Resistance an und stellten ihre Kriegserfahrung im Untergrund den französischen Partisanen, dem maquis zur Verfügung. Diesen selbstlosen Kämpfern, die von einem Freiheitskrieg in den nächsten taumelten, wird nachgesagt, dass sie innerhalb des Rahmens des Möglichen in den belasteten und spannungsreichen französisch-spanischen Beziehungen, zwar für ihre Taten geschätzt, jedoch von den Franzosen nie geliebt worden waren. Vielleicht war einer der Gründe, dass sie schon während dem Kampf gegen den deutschen, die Fortsetzung ihres eigenen Kampfes gegen den spanischen Faschismus vorbereiteten. Erbeuteten sie bei ihren Aktionen von den Besetzern Waffen und Munition, überliessen sie nämlich nicht einfach alles den Franzosen, sondern unterschlugen möglichst grosse Teile davon, um sie im Hinblick auf die Wiederaufnahme des Kampfes gegen Franco in Pyrenäennähe zu verstecken und zu horten. Die Rückeroberung Spaniens war ihr eigentliches Ziel. Sie verloren es nie aus den Augen.
Schon 1944 gab es unter der Führung Spanischer Kommunisten in den Pyrenäen einen Invasionsversuch. Vom 16. bis zum 18. Oktober überquerten an mehr als zwölf verschiedenen Punkten gegen 10 000 Mann die spanische Grenze und besetzten ohne auf sehr massiven Widerstand zu stossen, das Valle d’Aran, ein katalanisches Hochtal. Man hoffte mit der Hilfe des bevorstehenden Winters das isolierte Tal lange genug halten, um dort auf Spanischem Boden eine Regierung ausrufen zu können, die von den Allierten anerkannt würde. Auch spekulierte die Parteiführung auf dadurch ausgelöste Aufstände der unterdrückten Arbeitermassen in den grossen Zentren Madrid, Valencia, Bilbao und Barcelona.
Man hoffte vergebens. Die ganze Operation endete kläglich. Von Anfang an war sie von Sachkundigen nur belächelt worden. Auch von De Gaulle, der aber gehofft hatte, durch die selbstmörderische Aktion möglichst viele verdiente Kommunisten der Resistance wieder loszuwerden. Die Allierten beschäftigten sich zu diesem Zeitpunkt auch gerade mit andern dringenden Geschäften. Schuld am Versagen hatte aber auch das Wetter. Der erwartete Schnee war ausgeblieben, Francos Armeeführung konnte Truppen in der Grössenordung von 40 000 Soldaten zusammenziehen. Den Invasoren blieb nur der Rückzug. Vielen wurde dieser aber verwehrt. Sie schlugen sich durch den nun doch gnadenlos hereinbrechenden Winter zurück über die Pyrenäen nach Frankreich oder sie wandten sich gegen Süden, um sich dort den ihnen bekannten Guerillakommandos anzuschliessen. Sie waren es, die auch für die bewaffneten spanischen Widerstandskämpfer den französischen Begriff maquis importierten.
Eine eigentliche Herausforderung für das franquistische Spanien wurden diese maquis jedoch erst nach dem endgültigen Zusammenbruch Nazideutschlands, als sie auf verstärkte Unterstützung von aussen zählen konnten.
Die Guerilla besetzte nun vorübergehend ganze Dörfer, überfiel Banken, entführte und erpresste Grossgrundbesitzer und kämpfte immer öfter gegen massiv auftretende Sonderkommandos der Guardia Civil.
Man muss diese einsamen Berglandschaften, wo sich die eigentlichen Operationsgebiete der spanischen maquis befanden, unter den eigenen Füssen gehabt haben, um sich ein Bild von ihrem Leben machen zu können. Zwar gibt es in den zerklüfteten Felsen uneinnehmbare natürliche Festungen und in den Schluchten Höhlen und andere willkommene Verstecke, aber es gibt auch ein mörderisches Klima mit extremen Temperaturunterschieden und vor allem gibt es kaum etwas zu beissen. Wer hier nicht selber sät, der erntet nicht.
Auch diese Guerilla war folglich auf die Unterstützung der lokalen Bauernschaft angewiesen, welche jegliche Hilfsbereitschaft jedoch sehr teuer bezahlte. In den Sierras von Castellon und Teruel, in Valencia, respektive in Aragon, beispielsweise, geriet auch die mit dem Widerstand sympatisierende Bevölkerung schnell in barbarische Zwickmühlen. Es gab zwar lediglich vereinzelte lokale Rekrutierungen, jedoch eine grosse Bereitschaft zur Unterstützung der maquis. Auch die polizeilich verordnete Pflicht, jegliche die Guerilla betreffende Beobachtung sofort zu melden, wurde zwar eingehalten, jedoch oft auch zu Gunsten der Guerilla verzögert. Als die Guardia Civil ihre Gegenoffensive verstärkte und den Kriegszustand ausrief, gerieten etliche Bauern zwischen die Fronten. Sie mussten die Nächte im Schutz der Polizei hinter Stadtmauern und in den Dörfern verbringen. Jede Hilfeleistung stand unter Todesstrafe. Die maquis waren jedoch so auf die Bauern angewiesen, dass sie ihrerseits bereit waren, Gewalt anzuwenden. Dass der amtierende General Pizarro der Guardia Civil nicht davor zurückschreckte, für jeden gefallenen Polizisten zehn Angehörige der Zivilbevölkerung erschiessen zu lassen, war symptomatisch für die vorherrschende Situation.
Fragt man heute ältere Leute nach ihrer Meinung zu jener Zeit, bekommt man oft lediglich ausweichende Antworten. Gerne werden auch Namen von andern Leuten genannt, die dazu angeblich mehr zu sagen hätten. Mit der Zeit vernimmt man die Geschichten aber trotzdem. Dann hört man sie immer wieder neu und immer wieder anders. Aus traurig tragischen Ereignissen entstehen dann jene Legenden und Heldensagen, die die Menschen brauchen, um sich vor ihrer Vergangenheit zu schützen oder um sie überhaupt erträglich zu machen.
Damals wurden die maquis nur von den Schulkindern idealisiert. Die Knaben schauten aus den miefigen Zimmern der franquistisch-katholischen Schule, bei der man darüber streiten könnte, ob es überhaupt eine Schule war, in die unendliche leere Weite der Sierra und sahen Freiheitskämpfer in Kakifarbenen Uniformen mit roten Streifen an den Mützen. Sie erzählten sich gegenseitig abenteuerliche Geschichten, in welchen aus den Kämpfern der Hoffnungslosigkeit Robin Hoods und andere edle Helden wurden.
Spricht heute jemand von der berühmten pastora, einer Hirtin, die sich dem bewaffneten Widerstand angeschlossen hatte, kommt es vor, dass dem einen oder anderen alten Bauern die Augen wässerig werden, er sich aufrichtet, stumm oder andächtig versucht, sich selbst etwas Würde zu verleihen. Denn den Namen der pastora erwähnt niemand einfach so. Sie ist eine von vielen stark mystifizierten Figuren. Allein das Aussprechen ihres Namens genügt, um alle Anwesenden in den Glauben zu versetzen, es sei soeben sehr viel Wahres und Gutes und Schönes gesagt worden.
Wie die pastora ,über die es mittlerweile verschiedene Bücher gibt, hat ein anderer maquis unter dem Namen Oronal Heldenstatus und ebenfalls Eingang in die Literatur gefunden. Noch heute bewundert man seinen Mut, seine Kraft, seine Grosszügigkeit. Immer wieder erzählt man sich die Geschichten, wie er die Guardias genarrt hatte, wie er einen Gemüsehandel aufzog, um dadurch beschränkte Bewegungsfreiheit zu erlangen, die es ihm erlaubte, den Partisanen als Verbindungsmann und Zulieferer von Post, Medikamenten und Lebensmitteln zu dienen. Man erzählt sich, wie er untertauchen musste, nachts als Frau verkleidet seinen Acker bestellte. Man erzählt sich, wie er gefangen wurde und mit List und Tücke wieder entkam in unzähligen, bunten, detaillierten Versionen.
Am 13. 4. 48 wurde el oronal mit bürgerlichem Namen Victoriano Prades Pitarch 36 jährig in Morella erschossen. Seine ist eine von 4714 Hinrichtungen, die in der Nachrkriegszeit in Valencia registriert worden sind. (Vicent Gabarda: Els Afusilaments al Pais Valencia (1938-1956)

Erschienen in WOZ Nr. 45/1996