Denken Sie etwa, in der Art und Weise, wie Sie sich ihre Beine verschränken seien keine Romane versteckt? Denken Sie doch nicht, Sie könnten ihr Privatleben vor mir verbergen, bloss dadurch, dass Sie sich hier neutral und korrekt verhalten. Es ist ein Fluch, Ihre Gesten und ihre Gesichter laufend unfreiwillig entlarven zu müssen. Glauben Sie denn, die Verkrampftheit, die Sie hier zur Schau stellen, sage nichts über Sie aus. Sie denken doch nicht, ich wüsste nichts über Verkrampfungen in der Hals und Schulterpartie?
Ich bin nicht Melania Meiler!
Eine Lesung
Personen:
Tonia Töpfer, Schriftstellerin von einiger Erfahrung
Ort der Handlung:
Eine gediegene, mittelgrosse, mitteleuropäische Buchhandlung.
Ein kleiner Lesetisch. Lampe, Wasserflasche, Glas. Melania Meiler ist mit der Steigerung ihrer Konzentration beschäftigt. Auf einem andern Tisch stapeln sich ihre Werke. An den Wänden Poster mit ihrem Bild. Autorinnenporträts in liegender Stellung auf einer Couch. In der ersten Stuhlreihe ein Mann, der Melania Meiler verliebt und unverfroren anstarrt. In der zweiten Reihe eine Dame vom Lesezirkel Simone de Beauvoir. Links, in der fünften Reihe, unruhig, schwitzend der Buchhändler. Neben ihm, die Lehrfrau, welcher nach Ladenschluss die Aufgabe zugefallen war, den Büchertisch aufzubauen und die sechzig Klappstühle aus dem Keller zu holen, auf welchen jetzt insgesamt vier Personen sitzen. Dem Buchhändler war es schmerzhaft peinlich gewesen, Melania Meiler vorzustellen. Möglicherweise hatte er Erfolg und Talent der Schriftstellerin zu wenig ausführlich gewürdigt. Bevor die Schriftstellerin endlich mit einer körperlosen, erregten Stimme zu sprechen beginnt, trinkt sie Wasser und entnimmt ihrer Handtasche eine Sonnenbrille, die sie sich mit einer schnellen Bewegung aufsetzt.
Auszüge:
Tonia Töpfer:
Ja, meine Damen und Herren! Hier sitze ich nun also vor ihnen. Ich sitze hier vor Ihnen und wir sitzen zusammen in dieser Buchhandlung. Es muss Ihnen ja wohl klar sein, dass wir zusammen in dieser Buchhandlung sitzen, weil ich dies möglich gemacht habe. Nur ich! Ich, meine Damen und Herren, ich habe dieses Zusammensein möglich gemacht. Ich habe meinen Koffer gepackt, ich habe die für meine Abwesenheit notwendigen Vorkehrungen getroffen, ich habe mein Haus verlassen und den schrecklichen Zug bestiegen, der sich Schnellzug nennt und den ich zu besteigen gezwungen war, weil Sie und Ihre Stadt unfähig sind, einen anständigen Flughafen zu bauen, wie es einer Region, die bestimmt einige Sehenswürdigkeiten vorzu¬weisen hat, – die ich aber nicht besuchen werde, darauf können Sie Gift nehmen! – auch anstehen würde. Ich habe in diesem lächerlichen Schnellzug in einem Abteil mit schnarchenden Rentnerinnen und einem ununterbrochen telefonierenden Wichtigtuer aufhalten müssen. Sogar eine unerträglich lange Tunneldurchfahrt haben Sie mir auf meinem Weg zu Ihnen zugemutet! Nachdem mitten durch mich hindurch telefoniert worden war, musste ich mitten durch einen Berg hin¬durch, obschon mein Hang zu claustrophobischen Anfällen im Innern der Erde medizinisch zweifelsfrei diagnostiziert worden ist. Ich komme also über Hunderte von Kilometern, unter Millionen von Gesteinstonnen hindurch zu Ihnen in die Provinz, wo ich angehalten werde, meinen Koffer in einem Hotel auszupacken, in welchem ich eine voraussichtlich schlaflose Nacht in einem Bett vor mir habe, bei dem niemand weiss, ob nicht noch gestern ein Handelsreisender für Kettensägen oder ein Käsemacher auf dem Weg zurück auf die Alm darin seine Glieder ausgestreckt hat. Und Sie? Und Sie? Meine Damen und Herren? Was tun Sie? Welche Gegenleistung wird von Ihnen erbracht? Keine! Nichts! Gar nichts! Sie sitzen einfach da, zu viert! Auch noch schön verteilt, wie gefühlvoll, meine Damen und Herren, damit es mir weniger auffällt, nicht? Jeder in einer Reihe, Sie eher links und Sie eher rechts und Sie nicht ganz in der Mitte. Wie einfühlsam. Glauben Sie wirklich, so etwas würde mir entgehen? So etwas entgeht mir nicht! Wenn es mir auch ebenso lächerlich vorkommt wie es mir vollkommen egal ist. Ganz egal, wirklich!
(schreit) Haben Sie denn gar keinen Respekt vor der Arbeit, die in einem solchen Buch steckt, dass sie sich hier zu viert, wohlverstanden, zu viert – hier: eins, zwei, drei, vier! Vier Leute! – Vier Leute, mein Gott!- dass Sie sich dies getrauen! Was bilden Sie sich eigentlich ein? Wie kommen Sie dazu, nicht zahlreicher zu erscheinen? Können Sie in ihren Köpfen denn nicht nachvollziehen, welches Missverhältnis Sie produzieren? Nein, können Sie natürlich nicht! Könnten Sie es, würden Sie viel zahlreicher hier erscheinen. Viel zahl¬reicher. Auch Sie, ja Sie, Herr Buchhändler, Sie würden es nicht wagen, hier zu sitzen, als wäre nichts geschehen. Sie erliegen ja vielleicht sogar der Vermessenheit, von mir in diesem Rahmen eine Lesung zu erwarten. Möglichst noch mit anschliessender Diskussion. Stimmt’s? Wenn jetzt noch jemand eine Frage stellen möchte, da wir das Vergnügen haben, dass die Schriftstellerin in Person unter uns weilt….. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, ich würde hier aus meinem neuen Roman vorlesen, ich würde die Strapazen einer langen Abwesenheit von Zuhause und einer langen Reise durch einen endlosen Tunnel unter Millionen von Tonnen Gestein hindurch auf mich nehmen, um mich hier vor vier, wohlverstanden, vor vier Personen auszubreiten.
Sie irren, Sie irren gewaltig!
Ich nicht. Ich besitze ein Gefühl für Proportionen. Ich habe an Orten gelesen, deren Glanz man sich in einem Städtchen, wie Sie eins be¬wohnen gar nicht vorstellen kann. Meine Bücher wurden nicht nur in alle bedeutenden Kultursprachen übersetzt, sie wurden auch von massgebenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mehrerer Länder angefordert und gekauft. Ich habe vor Bundespräsidenten, vor Kanzlern, Kardinälen, Bischöfen, Generälen und Diktatoren gele¬sen! Mich hat man in den FEINSTEN Hotels Europas untergebracht! Und nach meiner Lesung in der Alten Oper von Frankfurt hat mir der Herr Oberbürgermeister nicht nur gratuliert, er hat mich umarmt und ganz hin¬genommen hatte er sich kopfschüttelnd gewundert, was ich mit meiner elegant leichten Stimme aus meinen Romanen mache. Mit dieser Stimme habe ich schon ganz anderen Männern als Sie einer zu sein scheinen, die Meinung ins Gesicht gesagt. Denn es gibt Umstände, die lasse ich nicht zu! Ich nicht! Ich bin nicht Schriftstellerin geworden, um mich stillschweigend mit vorgegebenen Missständen abzufinden! So viel Selbstrespekt schulde ich meiner Kunst! Dagegen wehre ich mich auch mit meiner weiblichen Stimme.
(trinkt und schaut über den Rand des Glases auf die Dame in der zweiten Reihe) Sie brauchen mich überhaupt nicht versöhnlich anzu¬grinsen! Bilden Sie sich bloss nichts darauf ein, dass Sie gekommen sind. Möglicherweise benützten Sie meine Anwesenheit nur als billigen Vorwand, um einer familiären Verpflichtung zu entgehen oder Sie meinen wettmachen zu müssen, dass sich ihr Ehemann das Recht nimmt, einmal im Monat ohne ihre Begleitung abends von Zu¬hause wegzubleiben. Und dann brauchten sie sich nur noch den Mantel überzuwerfen, sich in den Wagen zu setzen und herzubrausen, vielleicht bloss um zwei Ecken, während ich über hunderte von Kilometern und unter Millionen von Gesteinstonnen hindurch psy¬chische Kraft und Lebenszeit aufwenden musste um jetzt hier vor ihrer klägli¬chen Anwesenheit zu sitzen. Oder gehören Sie etwa zu jener eigenartig perversen Gruppe von Menschen, die in ihrer Kindheit von kulturneurotischen Bildungsbürgereltern den Lesezwang verabreicht bekommen hat? Zusammen mit der nie mehr tilgbaren Scham bei sexuellen Ausschweifungen? Sie müssen zwanghaft nach Büchern greifen. Bei Ihnen wäre ich nicht einmal überrascht, wenn Sie mir mitteilen würden, Sie hätten mein Buch zweimal gelesen. Ich muss Ihnen sagen, dass ich Ihr Buch so grossartig fand, dass ich es gleich zweimal gelesen habe…. Natürlich, warum nicht verdoppeln, was Sie für Leistung halten. Sie meinen lesen zu müssen! Sie umgeben sich mit Büchern, legen sie aus auf Tischen und Tischchen, legen sie überall so hin, das eventueller Besuch auf der Stelle erkennen muss, mit welcher unterwürfigen Beflissenheit Sie sich über die moderne Literatur auf dem Laufenden halten. Dabei erledigen Sie die leidige Leserei wie eine Strafaufgabe, arbeiten sich von Seite zu Seite, müssen gegen den Schlaf ankämpfen, den sie ebensowenig wie andere ebenso selbstverständliche vitale Bedürfnisse selbstverständlich nicht einfach so selbstverständlich an sich herankommen lassen können. Und bevor Sie das Buch mit einem Seufzer auf den Nachttisch legen können, müssen Sie nachschauen, wieviele Seiten Ihnen noch bleiben. Aber Sie brauchen meine Bücher nicht zu bezwingen! Sie brauchen sich nachher nicht hier vor mich hin¬zusetzen mit diesen Gesichtern, als hätten Sie mir etwas besonders Gutes getan. Als könnten Sie meine Bücher überhaupt verstehen! Um meine Bücher verstehen zu können, braucht es Vorstellungskraft, Einbildungsver¬mögen! Phantasie! Verstehen Sie? Phantasie. Jene Phantasie, die sie nicht haben. Hätten Sie davon auch nur ein kleines Bisschen abbekommen, würden sie kaum in dieser trostlosen Gegend hinter diesen sieben Bergen, wo es nicht mal für einen anständigen Flughafen reicht, leben können. Hätten Sie auch nur den kleinsten Funken Phantasie, würden Sie viel zahlreicher an meiner Lesung teilnehmen. Nein, es macht überhaupt nichts, wenn Sie meine Bücher nicht gelesen haben. Ich habe sie auch nicht für Sie geschrieben. Ich schreibe meine Bücher nicht für Menschen, die zu viert an einer Lesung erscheinen. Ich brauche Sie nicht! Sie nicht! Die Auflage meiner Bücher übersteigt die Hunderttausend, meine Kolumnen in den ange¬sehensten Zeitungen des Landes werden von Millionen gelesen. Wenn ich schreibe, schreibe ich für Millionen! Für Millionen und nicht für zwei Zuhörer¬innen und zwei Zuhörer in einem Nest ohne Flugverbindung hinter einem unerträglich langen Tunnel, den die Gesteinsmassen zu erdrücken drohen“.
(Sie trinkt einen Schluck Wasser, hustet und nimmt die Sonnenbrille ab.) Die Kohlensäure! Weil man mir hier in diesem Laden Kohlen¬säure hin¬stellt, als wüsste nicht jedes Kind, dass man auf ein Lesetischchen nie und nimmer kohlensäurehaltiges Wasser stellt. Mineralwasser ja, aber doch nicht kohlensäurehaltiges Mineralwasser! Haben Sie schon mal eine Schauspielerin gesehen, die sich hinter den Kulissen Sprudel verabreichen lässt? Um beim Wiederbetreten der Bühne wunderbar zu husten?
Auf alles muss ich gefasst sein. Ich muss Nachlässigkeit immer wieder neu verkraften. Ich muss mich auf einen ganze Katalog von Unverschämtheiten einstellen. Deshalb muss ich mich schützen. Wie wichtig es ist, mich zu schützen, habe ich von einem Kollegen gelernt. Von einem Kollegen, von einem erfahrenen Schriftsteller¬kollegen, der seinen Hut nie mehr vom Kopf nimmt, der seinen Hut wie einen Helm durch die Welt trägt. Ich trage meine Sonnenbrille nicht zum Vergnügen. Sie dachten bestimmt, ich würde mir aus reiner Eitelkeit eine Sonnenbrille aufsetzen. Wer nie im Rampenlicht gestanden hat, weiss nicht, wie Scheinwerfer blenden können. Es ist nicht Ihr Fehler, dass Sie nie im Rampenlicht gestanden haben, dass Sie nicht ahnen können, wie störend sich das Rampenlicht des öffentlichen Erfolges auf das seelische Gleichgewicht einer kreativen Frau aus¬wirken kann. Warum sollten gerade Sie eine Ahnung haben, wie leicht sich jene Kräfte verschieben, die in mühsamster Konzentrationsarbeit aufeinander abgestimmt und ausbalanciert werden mussten. Aber ohne seelisches Gleichgewicht gibt es keinen Schreibprozess! Und um den Schreibprozess dreht sich die ganze Existenz einer ernsthaften Schriftstellerin. Dem Schreibprozess wird alles, restlos alles, sämtliche Lebensbereiche nachgeordnet. Und zwar mit einer Konsequenz, vor der sich künstlerisch unbegabte Menschen selbstverständlich höchstens fürchten würden. Künstlerisch unbegabte Menschen fürchten nichts mehr als die Konsequenz! Die durchschnittliche Existenz baut darauf auf, dass sich notfalls für jede Schwäche, jedes Fehlverhalten ein Ausweg, ein inkon¬sequenter Ausweg ergibt. Dem Selbstbetrug sind beim Durchschnittsmenschen keine Grenzen gesetzt. Nichts ist dem Durchschnittsmenschen wichtig genug, um in seiner ganzen Konsequenz durchgehalten zu werden. Nichts! Rein nichts. Aber mein Leben unterzieht sich dem Schreibprozess. Ich bin eine Künstlerin! Ich habe mein ganzes Leben der Literatur verschrieben und die Literatur duldet nun einmal keinen Selbstbetrug. Literatur ist Kunst und Kunst kommt von Konsequenz, meine Damen und Herren, deshalb muss ich mich vor ihnen und vor Ihresgleichen schützen, das innere Gleichgewicht gilt es überhaupt besonders zu schützen, nicht zuletzt vor Menschen wie Ihnen, die es hier zu viert, wohlverstanden, zu viert – eins, zwei, drei, vier! – eine Lesung zu besuchen wagen. Sie haben ja keine Ahnung, wie sich eine Künstlerin vor der Welt und den Menschen schützen muss. Sie erliegen der irrigen Annahme, der Schreibprozess liesse sich ebenso leicht bewerkstelligen wie das Ansetzen eines Kuchenteigs. Sie meinen, mit dem Bereitstellen der Zutaten sei die Sache erledigt. Es würde mich nicht überraschen, wenn Sie sich sogar selbst für solche Zutaten hielten. Womöglich denken Sie tatsächlich, es gehe um Sie! Das kenne ich doch. Sie bilden sich ein, ihre blosse Gegenwart sei eine Bereicherung für den Schreibprozess einer sensiblen Künstlerin, von der sie vermuten, dass sie einfach alles aufsaugt, unermüdlich registriert, notiert, katalogisiert. Aber ich bin kein verdammter Schwamm, der sich mit Nichtigkeiten aus Ihrem Alltag vollpumpt. Nichts, das Sie mir in den Weg legen können ist von Bedeutung. Nie wird eine meiner Figuren je so grinsen wie Sie! Niemals werde ich jemanden eine derart blasse Krawatte tragen lassen, wie Sie sich eine um¬gebunden haben! Nie! Nie werde ich eine meiner Figuren auch nur mit dem allerkleinsten Details ausstatten, das auf Sie verweisen könnte. Bilden Sie sich doch nicht ein, Sie seien der Stoff, aus welchem meine Werke entstehen! Ihre Gegenwart bringt rein gar nichts. Sie beschäftigen mich nicht, werden mich nie beschäftigen, ihre nichtssagenden Existenzen in diesem zurückgebliebenen Tal ohne Flugverbindung gehen mich nichts an. Nicht einmal in meinen Träumen werden Sie je wieder vorkommen! Hören Sie doch endlich auf, sich einzubilden, mein Stoff zu sein! Ich greife meine Geschichten aus der Fülle des prallen Lebens, nicht aus dem tödlichen Mief einer Lesung, die von lediglich vier Menschen besucht wird.
Und sollten Sie, ja Sie! Sollten Sie mein Buch, das Sie vorhin noch auf ihrem Schoss zu liegen hatten wieder aus ihrer Handtasche ziehen, um es mir bei einem späteren Zeitpunkt zum Signieren hin¬zuhalten, dürfen Sie sehr wohl mit einem Autogramm rechnen, aber es wird kein vertrautes Austauschen von Schmeichelein geben. Ihr kleines Lob interessiert mich nicht, brauche ich nicht. Ich setze mich nicht den mörderischen Anforder¬ungen des Schreibprozesses aus, um von ihnen ein unqualifiziertes Lob zu hören. Die Zeiten, in welchen ich nach einem fragwürdigen Abend, wie wir hier einen verbringen, auch noch zuhörte, wie man mir mit läppischen Anekdoten und mühsam gebastelten Literaturerkenntnissen ankam, die man natürlich alle¬samt für Geistesblitze hielt – Für Sie als Literatin bestimmt von besonderem Interesse! – diese Zeiten sind schon lange vorbei. Viel zu oft habe ich mich viel zu grosszügig verfügbar gemacht. Nein, ich bin nicht dazu da, um irgend¬welchen meist männlichen Kulturveranstaltern einen Vorwand für ihre vergebli¬chen Versuche, sich interessant zu machen, zu liefern. Ich bin auch keine Autorin zum Anfassen! Ich bin als Autorin nicht auf die Nähe zu den Lesern an¬gewiesen. Und erscheinen sie auch noch bloss zu viert, schon gar nicht! Ich nicht! Nichts ist mir widerlicher als Menschen, die sich mit meiner Präsenz zieren, es aber nicht schaffen, zahlreicher zu meinen Lesungen zu erscheinen. Mich nach der Veranstaltung auch noch in ihre Privathäuser komplimentieren, und zwar mit der Verkrampftheit von auf der Tat ertappten Kinderschändern. Gerade letzte Woche in Amsoldingen begann es wieder mit dem harmlosen Spruch Auf diesem Hause liegt ein Fluch, es hat ein Gästebuch! und artete aus, weit über den Fluch hinaus, zu Qual und Tortur. Was mir neben manchmal durchaus exquisiten Speisen neben dem Teller schon an Schutt aus fehlgeschlagenen kleinbürgerlichen Lebensentwürfen aufgetischt worden ist, geht auf keine Kuhhaut. Die in meinen Romanen zum Ausdruck kommende Klarsicht, berechtigt niemanden, mich als Gratispsychotherapeutin oder als Eheberaterin zu missbrauchen. Sehe ich etwa aus wie die Beichtmutter vom Dienst?
Ich bin auch keine Verlagsagentin, schon gar keine Kritikerin. Also Kritkerin, ich bitte Sie, Kritkerin? Nie im Leben! Trotzdem wurde mir auch in Amsoldingen wieder ein Bündel schlecht gehefteter Manuskriptseiten vorgelegt. – Wohlverstanden, handgeschriebene schlecht geheftete Manuskriptseiten! – Diesmal waren es nicht die Schulaufsätze der frühreifen Tochter des Hauses, auch nicht die Versuche des pupertierenden Sohnes. Nein, in Amsoldingen war es die Autobiografie des Grossvaters. Was halten Sie davon? Was meinen Sie? Könnten Sie viel¬leicht bei einer Publikation ..? Was habe ich mit der handschriftlichen Zeitvertrieb eines verstorbenen Grossvaters zu tun? Immerhin waren es nicht die gestickten Glückwunschkarten der Grossmutter, könnten Sie jetzt einwenden, ich aber…. ich … ich finde das nicht mehr lustig. Was der liebe Gott nicht schaffte, so oft ich ihn auch darum gebeten habe, das nehme ich lieber selbst in die Hand: Ich behüte mich vor Kulturveranstaltern ebenso wie vor Kulturveran¬stalterinnen und ihren schreibenden Familien! Ganz besonders hüte ich mich vor jenen Kulturveranstaltern, die es nicht einmal schaffen, die üblichen Hinweise auf eine stattfindende Lesung rechtzeitig und an den richtigen Stellen zu plazieren, die sich vergebens bemühen die Feuilltonisten der lokalen Medien für eine Vorschau mit Hinter¬grund zu der Lesung zu gewinnen, die konsequenterweise scheitern, mehr als zwei Leserinnen und zwei Leser zu mobilisieren, um mich vor der Schmach des vermeintlichen Versagens zu verschonen. Aber dieser Roman, meine Damen und Herren, dieses Buch wurde nicht einfach landesweit zur Kenntnis genommen, dieses Buch hat Wellen geworfen! Darüber hat der Stern….! Jawohl meine Damen und Herren, der Stern… Und es ist nicht nur bereits in der zweiten Auflage erschienen, die schriftlichen Angebote im Rundfunk und im Fernsehen im In- und Ausland darüber zu reden, die Einladungen zu Tagungen und Symposien häufen sich. Die Briefe von begeisterten Leserinnen und Lesern verstopfen meinen Briefkasten, Tendenz steigend. Was Sie übrigens nicht etwa dazu verleiten sollte, mir möglicherweise Entschuldigungskarten zuzuschicken, ich kann Ihnen gleich sagen: Antwort werden Sie keine bekommen. Mein Schreib¬prozess wird nicht durch das Erledigen von Zuschriften aus dem Leserkreis beeinträchtigt. Ich warne Sie, schicken Sie keine Ent¬schuldigungen für ihr spärliches Erscheinen! Nehmen Sie aber bitte endlich zur Kenntnis, dass ich gerade heute Abend für eine Diskus¬sion am Niederländischen Fernsehen vorgesehen war. Und zwar zu¬sammen mit Schriftstellerinnen von europäischem Rang. Die Ho¬norarforderung, welche die Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit meines Verlages in meinem Namen weiterleitete, überstieg zwar das Budget der Ver¬anstalter, die irrtümlicherweise auch meinten, sie könnten Melania Meiler per Economy-Class nach Rotterdam holen, wo Melania Meiler schon seit Jahren nur noch Erste Klasse fliegt.
(wühlt in der Handtasche) Sie können doch nicht im Ernst annehmen, dass bei einer professionellen Vorbe¬reitung dieser Lesung nur vier Leute anwesend wären. Ich habe noch nie vor vier Leuten aus meinen Büchern gelesen. Aus meinen Büchern lese ich nicht vor vier Leuten! Meine Bücher habe ich nicht geschrieben, um daraus vor vier Leuten vorzulesen.
(Sie. produziert kleine, silberne Flasche trinkt aus dem abschraubbaren Deckel.) Falls Sie annehmen sollten, dass ich eben Whisky zu mir genommen habe, liegen Sie richtig. Sie wollen mir diesen Schluck aber nicht etwa verargen? Sie werden doch einer Schriftstellerin zu deren Lesung Sie zu viert erscheinen, einen Schluck Whisky nicht verargen! Diesen Schluck müssen Sie mir gestatten! Ich danke Ihnen. – Auf Ihr Wohl! Prost! – Deswegen werde ich Ihnen aber nicht doch noch aus meinem neuen Roman vorlesen. Machen Sie sich da bitte keine Hoffnungen. Nein, kommt nicht in Frage! Nein. Nein. Auch nicht eine kleine Stelle. Auch keine Passage aus einem andern Buch. Nicht einmal jene vier vernichtenden Zeilen, die ich schon in meinem vorletzten Roman über eine Lesereise eingearbeitet habe? Glauben Sie aber ja nicht, die Titelheldin meines vorletzten Romans, die Schriftstellerin Tonia Töpfer, hätte auch nur im Entferntesten etwas mit mir zu tun. Tonia Töpfer ist eine Figur, eine Kunstfigur, eine Erfind¬ung, ein reines Produkt meiner Phantasie. Es gibt immer wieder unkundige Leser, die sich einen Schreibprozess, der sich nicht an der Biographie der Autorin orientiert, gar nicht vorstellen können. Aber Tonia Töpfer hat nichts mit mir zu tun, gar nichts! Dass sich auch Tonia Töpfer über diese Untugend, Lesungen zu veran¬stalten, Gedanken macht, ist reiner Zufall. Sonst nichts. Ich bin nicht Tonia Töpfer. – Was haben Sie eigentlich hier zu suchen? Was wollen Sie überhaupt von mir? Bemerken Sie denn nicht, dass die Künst¬lichkeit der Atmosphäre kaum auszuhalten ist? Bemerkt dies ausser mir denn wieder mal niemand? Bin ich wieder die einzige, die so etwas bemerkt? Ich werde mich hüten, Ihnen auch nur einen einzigen Satz vorzulesen. Ich werde nie mehr, nie mehr, nirgends, in keiner noch so gediegenen Buchhandlung eines meiner Bücher aufschlagen, nie mehr! Sie können sich ja gar nicht vorstellen, welche Qualen ich bei Lesungen auszusstehen habe. Wochenlang von Kleinstadt zu Klein¬stadt, Abend für Abend das gleiche Stück Text. Abend für Abend die gleiche Wurst. Aber von mir wird erwartet, dass ich diese Qualen ausstehe, dass ich da durchgehe. Dass ich mich überall verkaufe, wo mich die Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit meines Verlages ange¬boten hat, dass ich mich dabei in Szene setze, dass ich mich den Lesern in aller Welt vor die Füsse werfe, dass ich möglichst noch für Presse sorge! Alles wird von mir erwartet! Immer wird alles von mir erwartet. Als hätte ich die Kraft …. die dicke Haut einer Geschäfts¬frau. Eine Schriftstellerin ist aber nicht aus Holz. Auch ich bin auf Verständnis angewiesen. Auf Ihr Wohlwollen, auf Ihr Einfühlungs¬vermögen. Jede Schriftstellerin braucht das Entgegenkommen der Lesenden. Auch eine Schriftstellerin braucht Wertschätzung und Zuneigung. Ja auch eine Schriftstellerin braucht Zuneigung. Künstlerinnen brauchen Liebe. Liebe! Das müssen Sie doch verstehen können! Auch wenn Sie nur zu viert an meiner Lesung erscheinen! Auch eine Schriftstellerin braucht Liebe. Ich brauche Liebe! Ich brauche Liebe und …..Geld! Viel Geld. Ich brauche leider sehr viel Geld. Denn Schreiben bedeutet Aufwand. Das im Schreibprozess uner¬lässliche seelische und körperliche Wohlbefinden muss aufrechterhalten, die notwendigen Dienstleistungen müssen gewährleistet sein. Masseur und Analytiker sind aus einem reibungs¬los gestalteten Schreibprozess ebensowenig wegzudenken wir erholsame Urlaubstage in ausgewählter Umgebung. Ich brauche meinen Masseur. Ich brauche meinen Analytiker. Ich brauche meine Urlaub¬stage. Und ich brauche eine Diät, die den Anforderungen des Schreibprozesses zu genügen vermag. Die Kräfte einer Künstlerin speisen sich nicht aus Kartoffeln und Billigpaté. Auch ich bin, was ich esse und damit ich den Schreibprozess überhaupt durchhalten kann, muss ich essen, was mir entspricht. Oder möchten Sie mir verübeln, dass ich bei allen Entbehrungen die ich sonst auf mich nehme, ausser Lachsbrötchen und Crevettencocktails kaum noch etwas essen kann? Ich esse ja so gerne Lachsbrötchen und Crevettencocktails. Mit Champagner. Nein, nicht mit Sekt. Mit Champagner. Wer so arbeitet, wer sich dem Schreibprozess derart selbstlos aussetzt, sein ganzes Leben der Literatur nachordnet, der darf sich doch von Lachsbrötchen mit Champagner ernähren dürfen!. Zum Erhalt meiner Konzentrationskräfte brauche ich auch einen ge¬legentlichen Abstecher in die New York-Bar, wo die garantiert frischesten Austern der Stadt serviert werden. Austern mit weissem Bordeaux.
(nach einem weitern Schluck) Austern mit weissem Bordeaux haben mir schon über manchen Engpass im Schreibprozess hinweggeholfen. Niemand behaupte, es existiere ein Schreibstau, der sich nicht durch Austern mit weissem Bordeaux beseitigen liesse! Gibt es nicht. Es sind übrigens immer die besonders ansehnlichen Speisen, die mich inspirieren. In der perlmutterähnlich glänzenden Schale einer köstlich-kühlen Auster habe ich einige meiner kühnsten Ideen aufblitzen sehen. Aber man muss es sehen. Überhaupt muss eine Schriftstellerin sehen können. Sie muss vieles sehen können. Nein, ich meine nicht, dass eine Schriftstellerin in die Welt hinausstarren muss mit stierem Blick. Stumpf und dumpf. Sie meinen bestimmt, mit Starren sei die Sache erledigt. Nein, eine Schriftstellerin muss schauen, die Dinge mit Respekt genaustens und in jedem möglichen Zusammenhang sehen, sowohl zeitlich wie geographisch und psycho¬logisch. Nein, nicht starren, schauen. Nicht stumpf, nicht dumpf. Die Zeichen er¬kennen, alle Zeichen! Restlos alle Zeichen. Schauen will gelernt sein, und schauen macht müde! Dabei sein, voll, ganz dabei sein, das macht müde! Müde! Müde! Der ganze mörderische Schreibprozess macht müde. Es ist deshalb auch nicht ganz richtig, dass ich behauptet habe, es sei mir egal, ob sie lesen, was ich schreibe oder nicht. Es ist mir natürlich nicht egal. Die Folter des Schreibprozesses kann ich doch nur auf mich nehmen, weil ich weiss, dass meine Anstrengung nicht sinnlos und überflüssig im Leeren verpufft. Natürlich ist meine Kunst nur von Bedeutung, weil Leute wie Sie, auch wenn Sie nur zu viert hier erscheinen, diese Kunst schätzen und brauchen, weil Sie mich brauchen. Aber hier zu sein, mit Leib und Seele im Schreibprozess, genauer, stärker hellhöriger sein als Sie sich das vorstellen können, das Verborgene zwischen den Menschen aufzuspüren und doch nichts an mich herankommen lassen, das eigene Leben verlangsamen und doch von der Geschwindigkeit der mich umgebenden Welt nicht überfahren werden! Teilhaben und doch Distanz wahren…. Es…es….es…. Es ist zum ….!
Ich weiss, ich lasse mich wieder gehen… verzeihen Sie bitte, bitte ver¬zeihen Sie, dass ich mich derart daneben benehme. Der Whisky ist der Selbstbeherrschung auch sehr abträglich. Es schockiert Sie bestimmt nicht, wenn ich erwähne, dass mich meine Mutter längst für eine Trinkerin hält. Sie behauptet sogar, meine Ehe sei an meinem Trinken zerbro….. Aber glauben Sie nicht, ich würde Ihnen jetzt Einzelheiten aus meinem gescheiterten Leben häppchenweise ausplaudern, als wären wir in einem der unsäglichen Theaterstücke meines leider, leider verstorbenen österreichischen Kollegen Thomas Bernhard und nicht an einer Lesung in einer gediegenen Buchhand¬lung, bei der Sie lediglich zu viert erscheinen. Warum nur tun Sie mir dies an? Warum nur tun Sie mir so etwas an? Vielleicht ist Ihnen gar nicht bewusst, was Sie mir antun? Dass Sie mir hier nun auch öffent¬lich mein Scheitern vorführen. Von allen Seiten bedrängt mich mein Versagen, mein Scheitern! Seit Wochen warte ich auf das Erscheinen des meinem Verlag zu¬gesicherten Artikels im Stern ….das war sozusagen eine ausgemachte Sache, dadurch hätte sich auch der Verkauf….Wohl ist die zweite Auflage bereits gedruckt, die erste war aber von meiner Verlegerin aus Vorsichtsgründen derart klein kalkuliert….fast kleinlich, müsste ich hinzufügen…..Kann ich denn etwas dafür, dass ich Telente besitze, die täglich weniger ge¬fragt sind? Ich habe mir diesen Beruf doch nicht ausgewählt. Wie käme ich dazu, mich freiwillig für das unrentable Geschäft einer Schriftstellerin zu entscheiden? Sie glauben doch nicht etwa, so etwas werde eine kluge Frau wie ich aus freien Stücken? Auch bei meiner letzten Lesung, vorige Woche in Amsoldingen, meinte man mich ja darauf ansprechen zu müssen. Einer öffentlich auftretenden Schriftstellerin dürfen be¬kanntlich die unangebrachtesten Fragen gestellt werden. Ich war in Amsoldingen zu Gast bei der Literarischen Gesellschaft, als Höhepunkt des Veranstaltungsjahres, wie man mir versicherte, aber auch in Amsoldingen bin ich nach dem Grund meines Schreibens gefragt worden. Wer einigermassen bei Trost ist, wird doch nicht…. Sie glauben doch nicht etwa, so etwas werde eine kluge Frau wie ich aus freien Stücken? Wer einigermassen bei Trost ist, wird doch nicht freiwillig Schriftstellerin. Sogar in der Alten Oper von Frankfurt, dies muss ich gerechterweise hinzufügen, war man sich ebensowenig zu blöde, die sonst nur in der Provinz übliche Frage nach dem Motiv meiner literarischen Arbeit zu stellen. Ich weiss, ich habe Ihnen schon einiges zugemutet, trotzdem muss ich Sie dringend bitten, mich nicht nach dem Motiv meines Schreibens zu fragen. Bitte, fragen Sie nicht nach dem Grund meines Schreibens. Heute bitte nicht! Das würde ich nicht auch noch ertragen können.
Es gibt selbstverständlich auch hier keine Übereinstimmung zwischen mir und Tonia Töpfer. Gut, ich habe Tonia Töpfer erfunden, aber ich distanziere mich hiermit offiziell von Tonia Töpfers Aussage, sie nehme den mörderischen Schreibprozess nur auf sich, um möglichst viel Geld zu verdienen. Ich bin nicht Tonia Töpfer. Dies träfe vielleicht auf Sibylle Schreyer zu, aber ich bin nicht Tonia Töpfer und ich bin auch nicht Sibylle Schreyer. Ich bin Melania Meiler! Ich schreibe aus ganz andern Motiven. Es stimmt, auch ich brauche Geld, sehr viel Geld, aber ich brauche auch Luft, ich brauche Raum, ich muss mich auf dieser Welt als Frau bewegen können, diesen Raum gibt es aber noch gar nicht. Nein, ich bin nicht wie Sibylle Schreyer. Ich lebe nicht von der Gewissheit, dass ein Buch gar nicht anspruchslos genug sein kann, um bestens verkauft zu werden. Ich übe nicht permanenten Verrat an meiner Kunst. Mir bleibt auch gar keine Wahl. Mein Beruf ist meine Sucht. Ich bin beobachtungssüchtig und assoziationswütig dazu. Weil ich mich an nichts halten kann, weil meine Welt weder moralische Gesetze noch irgendwelche Konventionen kennt. Wenn ich mein Leben nicht schreibend ordne, zerfällt es mir auf den Tasten, verstehen Sie? Dass ich einen auf¬wendigen Lebenswandel führe, das gebe ich ja zu, aber von Extravaganz kann dabei nicht die Rede sein, bloss weil ich mich mit Crevettencocktails und Lachs¬brötchen anstatt mit Butterstullen und Leberwurst ernähre, kann von Extravaganz nicht die Rede sein. Sibylle Schreyer, diese Gans aus Großbritannien, die ist extravagant! Was die sich mit dem Erlös ihrer biederen Romane über das einfache Landleben alles erlaubt! Nachdem sie sich ihre Villa von oben bis unten mit englischen Möbeln aus dem 18 Jahrhundert vollstopfte, will sie diese jetzt gegen solche aus Frankreich aus dem 17. Jahrhundert austauschen. Sibylle Schreyer ist natürlich viel zu dumm, um dazu Distanz wahren zu können, sie ist viel zu dumm, um ihr eigenes Verhalten zu durchschauen, dass sie ihr Umfeld noch viel weniger durchschauen kann, davon wollen wir gar nicht reden. Ihr Londoner Verleger macht doch längst mit ihr, was er will, den Rest besorgt die Presse, von Sibylle Schreyer bleibt nichts übrig. Aber ich, ich, Melania Meiler, ich leide unter dem Fluch, begabt zu sein! Sie können sich ja nicht vorstellen, wie anstrengend es ist, mit meinen Begabungen in dieser Welt leben zu müssen, mit meiner Fähigkeit, Menschen zu erkennen, in ihrem Wesen zu erfassen, zu durchschauen. Sie stellen sich dies viel zu leicht vor, aber es ist nicht einfach. Denken Sie etwa, in der Art und Weise, wie Sie sich ihre Beine verschränken seien keine Romane versteckt? Denken Sie doch nicht, Sie könnten ihr Privatleben vor mir verbergen, bloss dadurch, dass Sie sich hier neutral und korrekt verhalten. Es ist ein Fluch, Ihre Gesten und ihre Gesichter laufend unfreiwillig entlarven zu müssen. Glauben Sie denn, die Verkrampftheit, die Sie hier zur Schau stellen, sage nichts über Sie aus. Sie denken doch nicht, ich wüsste nichts über Verkrampfungen in der Hals und Schulterpartie? Wie froh wäre ich, Sie hörten auf, sich laufend zu entblössen. Aus der Art und Weise wie Sie sich eben die Krawatte zurechtgestrichen haben, bin ich doch gezwungen, andere Situationen abzuleiten, in welchen Sie sich die Krawatte auch zurecht gestrichen haben. Vielleicht war es ein anderer Ort, vielleicht war es eine andere Krawatte, vielleicht sogar ein anderes Gegenüber, viel¬leicht redeten Sie gerade mit der Geliebten über ihre Ehefrau oder mit der Ehefrau über ihre Geliebte und viel¬leicht redeten Sie auch mit ihrem Chef und vielleicht ist ihr Chef eine Chefin und vielleicht ist Ihr Chefin Ihre Geliebte! Was kann ich denn dafür, dass Sie so durchsichtig sind und gerade mir die Aufgabe zufällt, Sie zu durchschauen. Aber dass ich sie auch noch verstehen muss! Wäre ich mit ihrer Frau verheiratet, hätte ich auch eine Geliebte und wenn Sie mir jetzt sagen wollen, ich würde ihre Frau nicht kennen, dann lassen Sie sich gesagt sein, dass ich mir sehr wohl vorstellen kann, was das für eine Frau sein muss, die sich mit Ihnen einlässt. Meinen Sie denn, solchen Geschichten, wie Sie sie mir hier vorführen, könne ich mich einfach entziehen? Damit muss ich leben, ich bin dazu verflucht, damit leben zu müssen, mit Ihren Geschichten die mich allesamt nichts angehen…. Was kann ich dafür, dass ich voraushören kann, was Sie morgen Ihren Büchhändlerkollegen sagen und was diese nicht sagen werden? Glauben Sie etwa, ich könne mir nicht vorstellen, was Ihnen jetzt durch den Kopf geht? Ich will nicht Sie auch noch durchschauen müssen! Denken Sie denn wirklich, ich sei Schriftstellerin geworden, weil ich mir freiwllig vorstelle, was einer Buchhandelslehrfrau durch den Kopf geht? Ich bin Schriftstellerin geworden, weil ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, was einer Buchhandelslehrfrau durch den Kopf geht, wenn sie solche Büchertische aufbauen, wenn sie 6o Stühle aufstellen musste, alle mühsam aus dem Keller heraufgeholt, auf welchen nachher nur gerade vier Leute sitzen? Meine zwanghafte Einfühlsamkeit ist mein Kreuz! Und wenn sie jetzt denken, die da vorne, die, wie heisst sie schon, die hat sie nicht mehr alle, dann kann ich ihnen dies doch gar nicht verargen, nicht einmal dass Sie meinen Namen nicht mehr präsent haben, Sie wären nicht die erste Buchhandelslehrfrau, die meinen Namen im entscheidenden Moment nicht präsent hätte. Sogar der Oberbürger¬meister von Frankfurt sagte nach meiner Lesung in der alten Oper Frau Töpfer zu mir. Es kann nicht meine Aufgabe sein, aufmerk¬samere Oberbürgermeister und aufmerksamere Büchhändlerinnen aus Ihnen zu machen. Ich bin überhaupt zu nichts da…. Dem verlogenen Orden der heiligen Aufklärung habe ich längst abgeschworen! Eine fürchterliche Berufskrankheit, welche bei heutigen Markt¬verhältnissen nur echte Ausnahmetalente überleben. Wie komme ich dazu, es auf mich zu nehmen, als letzte und einzige die Errungenschaften der Aufklärung hochzuhalten? Ich soll moralisch intakt bleiben, unantastbar nur den Werten der Aufklärung ver¬pflichtet, gefeit gegen Geiz und Gier und gegen alle andernTriebkräfte im Zentrum unserer Zivilisation? Ich soll dem Streben nach materiellen Gütern, nach materieller Sicherheit entsagen, ich, ich allein, ich allein in der ganzen Gesellschaft. Warum ich? Was kriege ich dafür? Einen Lohn der nur selten das gesicherte Gehalt eines Müllabfuhrmannes übersteigt, monatelange Depressionen und ein Publikum von vier Personen!
Eigentlich, müssen Sie wissen, in Frankfurt, in der Alten Oper war es sehr schön, aber es war auch nicht gerade gerammelt voll, sagen wir mal es war zur Hälfte voll. Oder sagen wir mal, die Hälfte der Sitze waren belegt, sagen wir so. Oder die Hälfte der Sitze der benützten Reihen waren belegt, das stimmt schon eher, wenn ich hier auch noch beifügen muss, dass auch nur die Hälfte der Reihen belegt war. Ja, nur die Hälfte der Reihen, Nur gerade die Hälfte der Reihen in der vorderen Hälfte der Oper. Oder sagen wir besser, von den ersten Sechs Reihen waren bestimmt drei Reiehen zur Hälfte….Aber die Hälfte der Sitze in den zwei ersten Reihen waren es bestimmt….! Das müssen Sie mir glauben! Egal…das Scheitern! Das öffentliche Scheitern. Aber was heisst schon scheitern? Eigentlich doch ein Wort aus der Seemannsprache. Scheitern? Das bedeutet doch, dass ein Schiff an einem Felsen, an einem Riff zerschellt, zerbirst, zerbricht und sinkt. Bestimmt bringt der Stern nächste Woche nun endlich den angekündigten Artikel. Was soll eine Frau wie ich denn sonst tun? Sie sehen doch, ich eigne mich einfach nicht für einen normalen Erwebsalltag. An ein gebundenes Leben im normalen Erwerballtag ist in meinem Falle nicht zu denken.
Aber Sie, hier in diesem schönen Städtchen, geschützt durch einen langen Tunnel vor der Welt, eigentlich….also, sollte jemand von Ihnen dazu Lust haben, dürfen Sie mir ruhig schreiben, ja, schreiben Sie mir! Ich schicke vielleicht nur eine Postkarte zurück, aber eine Antwort kriegen Sie bestimmt. Das verspreche ich Ihnen. Und ich weiss natürlich, Sie haben nicht nur alles unternommen, was Ihnen möglich war, mir meinen Besuch angenehm zu gestalten und meiner Lesung zum Erfolg zu verhelfen, sie wurden dazu von der Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit meines Verlages auch noch mit den Honorarforderungen konfrontiert, die schlicht als unverhältnismässig einzustufen sind. Und natürlich haben Sie Presse und Rundfunk hinreichend informiert, ich weiss, Sie haben mehr für mich getan, als von Ihnen erwartet werden darf. Nein, mein Scheitern ist nicht Ihr Versagen, verzeihen Sie mir bitte, Sie waren alle hervorragende Zu¬hörer, ich bin froh, die lange Reise auf mich genommen zu haben, um diesen Abend mit Ihnen verbringen zu dürfen. Sollte ich es noch einmal schaffen, ein Buch zu ende zu schreiben und Sie mich danach zu einer Lesung einladen möchten, wird es mir eine Ehre sein, zu Ihnen in dieses reizende Bergtal zu kommen. Auch mit dem Zug, beim Fliegen habe ich ja doch nach wie vor jedesmal ein sehr ungutes Gefühl. Nein, Sie können mit mir rechnen. Schön das Sie gekommen sind. Sehr schön von Ihnen, dass Sie heute abend so zahlreich gekommen sind. Ich danke Ihnen.
(geht ab)
© BPS Mai 1997