Wankdorf
Wankdorf

Vor dem letzten Spiel im Berner Wankdorfstadion.
Dann folgt der Abbruch.

Eine Abdankung.

Natürlich gibt es zunehmend jede Menge gute Gründe, Fussballangefressene als medienmanipulierte Schwachköpfe zu betrachten. Und doch gibt es bei allem Verhältnisblödsinn, bei allen unappetitlichen Auswüchsen in Vereinen und Verbänden in und ausserhalb der Stadien sogar über’s Fernsehen immer wieder jene bezaubernden Momente zu geniessen, in denen man einfach staunt und sich wundert, vielleicht sogar ohne genau zu verstehen warum.
Wie langweilig und hirnrissig so eine Grossveranstaltung mit 100 000 anwesenden und Dutzenden von Millionen Zuschauern an der Glotze verlaufen kann! Rempeleien, Bescheissereien, Wursteleien! Nichts als Gehabe und Getue. Aufgeblasen, opportunistisch und total überflüssig! Eine Zumutung!
Und doch ist es plötzlich wieder da, dieses Geheimnis, welches wohl auch den anhaltenden Erfolg dieses Spiels garantiert. Man weiss es längst, es hat mit der Beschränkung auf die Füsse zu tun und mit diesem nicht wirklich planbare Zusammenkommen von Können, Kraft, Kunst, Haltung, Stimmung und Zufall.
Magie nennt man das.
Wenn man das Wankdorfstadion heute sieht, würde man es zwar nicht denken, aber auch in dieser Ruine ist es zu solchen unvergesslichen und in sich glorreichen Momenten gekommen.
Längst ist die Platzuhr stehengeblieben und unter den grob gezimmerten Sitzplatzreihen auf der ehemaligen Stehrampe gegenüber der Haupttribüne wuchert das Unkraut stellenweise hüfthoch aus dem angesammelten Abfalldreck hervor, aber es gab Zeiten, da raunten in diesem Wankdorf 20 000 und mehr zu einem Grosshappening vereinte Zuschauer und Zuschauerinnen wie aus einer Brust, weil im spätsamstagabendlichen Flutlicht ein Steilpass, eine steile Vorlage oder eine Flanke aus dem Mittelfeld dem linken oder dem rechten Flügel genau richtig vor die Füsse kam und indem sie diesen abgehen liess wie die Post, in Sekunden ein durchschnittliches Spiel in ein Spektakel verwandelte.

Das Stadion der Young Boys

Als wären plötzlich die Deckel der Trickkisten aufgesprungen.
Dann regierten nicht mehr die Aufpasser und die Ballhalter und die Ausputzer, auf einmal war der Spielwitz König und zwar so frisch und hemmungslos, dass gelbschwarz und blauweiss oder blaurot durcheinanderwirbelten und ein verblüfftes Publikum während Minuten die Münder nicht mehr zukriegte.
Da ging der Ball durch die Reihen wie durch Butter, Mannschaften waren plötzlich Mannschaften und jeder Spieler war auf unerklärliche Weise genau am richtigen Platz. Wechselberger hiess damals einer der YB-Strategen und so spielte er auch. Da war auch der laufstarke Flügel Füllemann, der zusammen mit dem langjährigen Torhüter Fischer nicht etwa bei einem bosnischen oder armenischen Provinzverein, sondern ausgerechnet beim FC Steckborn jemandem aufgefallen und nach Bern geholt worden war.
Kein Wunder, dass sich der Deutsche Rahn, der auf dem Wankdorf mit seinem Tor Weltmeister wurde, an jeden Spielzug des Finals von 1954 erinnert, wenn für den gewöhnlichen Zuschauer sogar Spielzüge seines Clubs in einem gewöhnlichen Meisterschaftsspiel unvergesslich bleiben.
Man kann die Füllemanns und Allemanns noch immer sehen und hören, wie sie in diesem Wankdorf prustend mit Schweiss auf der Stirn an den Balljungs vorbei der Seitenlinie entlang rauschen, wie sie mit einer Täuschung von der Ecke her einen Verteidiger auf dem falschen Bein erwischen, auch den nächsten stehen lassen, nochmals bis auf die Grundlinie ausweichen um mit letzter Kraft den Ball einem Stürmer so vor die Füsse legen, dass ein Verfehlen des Kastens gar nicht mehr möglich ist.
Und der ganz spezifische Knall des Balls an die Latte!
Der Aufschrei beim abgewehrten Elfmeter!
Das Raunen beim Hereinsegeln des mit Effet getretenen Eckballs!
Fussball eben!
Wenn der Spielrausch anhielt, ging er auch auf ein Publikum über, das nicht mehr bereute, hergekommen zu sein und dann war das Wankdorf der lebendigste Ort der Stadt und der grüne Rasen so schön.

Die goldenen Jahre

Man war damals als Zuschauer noch kein bunt verkleideter Statist für die Direktübertragung oder für die Aufzeichnung von 10 vor 10. Das Publikum hatte sich noch nie im Spiegel gesehen. Auch Kuhglocken hörte man höchstens am Cup-Final, und an Länderspielen, Fussball war noch kein Event und kein Erlebnis, sondern eben Fussball und wem das nicht reichte, der war selber schuld. Es war während den besten Zeiten des Wankdorfs auch angenehm, mitten unter dem versammelten Volk zu sein, denn dieses war in jeder Beziehung durchmischt, noch nicht eingeteilt in Generationen und auch nicht eingesperrt in Blöcke und Sektoren.
Es wurde auch heftig nach links und rechts diskutiert, es wurde gehöhnt und gestöhnt und wer wollte, konnte zirkulieren, konnte beispielsweise in der Pause die Seiten wechseln, um direkt hinter dem bewunderten Torhüter Elsener, dessen Stellungspiel während beiden Halbzeiten aus nächster Nähe zu verfolgen.
Es war auch die Zeit, als man zu einer Bratwurst vom Grill noch ein unkompliziertes Verhältnis pflegte und im Geheimen von mindestens einer Mannschaft sämtliche Kaugummischüttelerbildli besass.
Die Stars der erfolgreichsten Zeit von YB im Wankdorf sind zum Teil noch heute bekannt. Auf den schwarz-weissen Mannschaftsfotos sehen sie wegen dem gestreiften Dress zwar wie Sträflinge aus, waren aber in Wirklichkeit eine Schar von freundlichen zum Teil noch fast halbwüchsigen jungen Männern. Bärner-Giele mit Heldenstatus. Für uns Könige in kurzen Hosen. Man sah und kannte sie auf der Strasse. Allen voran natürlich der als echter Star immer gut gelaunte Geni Meier, Bombenmeier genannt, der in den allergloreichsten Zeiten der gelbschwarzen fast lässig im gegnerischen Strafraum herumlümmelte und mit seinem Haarschnitt an Elvis erinnerte. Der ebenfalls mehrfache Internationale Schneiter sah dagegen noch an der WM in Chile auf dem Rasen genau wie der Bänkeler aus, der er auch war. Und Bigler! Das Emmental in Person. Ein nachbarlich bauernschlaues Eigengewächs, ebenso fleissig wie absolut unermüdlich, dazu selbstloser als Mutter Theresa, bedingungslos im Dienst der Mannschaft. Viermal hintereinander wurden sie mit YB unter Trainer Albert Sing Schweizermeister und sorgten dafür, dass das Wankdorf damals zu den besseren Fussballadressen Europas gehörte.

Die germanische Kultstätte Wankdorf

Für den Weltruhm waren und sind dagegen die Deutschen zuständig. Für sie war der Sieg von Bern über Ungarn an der Weltmeisteschaft 1954 bekanntlich ein symbolisches erstes Aufatmen auf dem langen Weg zurück in die Gemeinschaft Europas. Wie wichtig ihnen der Tag, an dem sie zum ersten mal Weltmeister wurden, war und ist, zeigt die Fülle von Filmen und Büchern, in welchen er zum Thema wurde, aber auch die Tatsache, dass man in Deutschland nicht verstehen will, wie dieses glorreiche Wankdorfstadion, diese edle Stätte des Lichts nach der langen Nacht nicht unter Denkmalschutz gestellt wird, sondern abgerissen werden kann. Scharenweise, berichtet der Stadionswart, pilgern sie daher, filmen, fotografieren und meditieren auf den abgeschabten Bänken der klotzig-protzigen Tribüne und schrecken nicht davor zurück, nach Möglichkeit ein Relikt, und sei es ein Stück Rasen, als Reliquie mitlaufen zu lassen.
Ganz besondere Erinnerungen an diesen Rasen hegte auch der Bauer Hesch, den ich in der Wilstermarsch in Schleswig Holstein kennenlernte. Als ich sagte, dass ich aus Bern stamme, schwärmte er: Ah Bern! Bern und das Wankdorf! Mit leuchtenden Augen erzählte er dann, dass er 1954 als Junge in Süddeutschland auf einem Hof gearbeitet habe und sich deshalb, weil Bern so nahe schien, das WM-Finalspiel nicht habe entgehen lassen wollen. Zusammen mit einem Freund habe er sich mit dem Fahrrad denn auch auf den Weg gemacht, um ganz kurz vor Spielbeginn, verschwitzt und erschöpft bei dem bis auf den letzten der 53 000 Plätze ausverkauften Wankdorf vor schon lange dicht gemachten Kassenhäuschen anzukommen. Aber dann sei das eigentliche Wunder von Bern passiert! Anstatt rüde abgewiesen zu werden, seien sie nicht nur ohne zu bezahlen doch noch eingelassen worden, man habe sie sogar auf das Spielfeld geführt und ihnen dort direkt auf dem Rasen einen Platz zugewiesen. Und zwar so nahe am Geschehen, dass er mit den Füssen die Seitenlinie habe berühren können. Nie, sagte er, würde er dieses Spiel und dieses Wankdorfstadion und dieses Bern vergessen! Nie, nie, nie!

Das Abbruchsobjekt Wankdorf

Wehmütig auf den geplanten Abbruch reagiert verständlicherweise auch sein mittlerweile 90 jähriger Erbauer, der ehemalige Architekt und Sportplatzspezialist Virgilio Muzzulini. Als Sohn eines aus Italien eingwanderten Bauunternehmers hatte er bei den YB-Junioren gespielt und später ein halbes Dutzend Schwimmbäder, sieben Kunsteisbahnen, die Anlagen von Magglingen und in der ganzen Schweiz Fussballstadien gebaut, wovon das Wankdorf für 60 000 Zuschauende konzipiert, das grösste und mit den 4,8 Millionen Franken Aufwand auch das teuerste war. Für die eigentlichen Wahrzeichen, für die beiden in den Proportionen dem Zeitglockenturm nachempfundenen Türme hat er bei einem Engpass in der Finanzierung sogar in die eigene Tasche gegriffen.
Der im Juli bevorstehenden Sprengung der Flutlichttürme und der Haupttribüne wird Virgilio Muzzulini kaum beiwohnen wollen. Weil viele andere dies aber wohl sehr gerne tun möchten, wimmelt die für den mit 350 Millionen Franken büdgetierten Neubau zeichnende Marazzi Generalunternehmung diesbezügliche Fragen höflich ab. Bekannt ist, dass die Aera des stolzen Berner Wankdorfstadions von einer Zürcher Spezialfirma beendet werden wird. Das wahrscheinliche Vorgehen klingt in der Fachsprache folgendermassen: Strukturschwächung, vermutlich durch Dynamit, bei der Sitztribüne und möglichst nach geplanter Fallfigur eine vertikale Kollapssprengung der Flutlichttürme. Aufnahmen von dem dann zum letzten Mal wankenden Wankdorf werden in den in- und ausländischen Medien nicht zu übersehen sein.
Der Rest ist Staub.

Erschienen in der Wochen-Zeitung