Barry der Bernhardiner

Von Beat Sterchi
Erschienen in Passagen/Passages (PDF) Nr. 32 / Sommer 2002

Barry im Glaskasten

Barry National: Barry steht in einem Schaukasten im Naturhistorischen Museum in Bern. Barry ist der stolze Held von Kinderbüchern und Kindersendungen an Radio und Fernsehen. Er ist der liebste, edelste, schönste und verdientermassen berühmteste Hund der Schweiz. Wie alle Welt weiss, hat Barry unzähligen Menschen das Leben gerettet. In Schneestürmen und in der Dunkelheit verirrte Reisende hat er zurück auf den richtigen Weg geführt, und als Spezialist für Lawinen hat er scheinbar hoffnungslos Verschüttete aufgespürt, aus dem Schnee gescharrt und sie mit einem Schluck Schnaps aus seinem Fässchen, das er stets unter dem Hals getragen hat, wieder erwärmt und gestärkt. Barry ist der berühmteste Vorfahre der berühmten Bernhardiner.
Barry ist eigentlich ein Heiliger. Gezüchtet wurden die Bernhardiner ursprünglich vom Augustinerorden auf dem Pass des Grossen St. Bernhard in den Walliseralpen zwischen Aosta in Italien und Martigny in der Schweiz. Zusammen mit ihren Hunden kümmerten sich die zu diesem Zweck dort ausharrenden Geistlichen auf der ungastlichen Höhe von fast 2500 Meter über Meer seit Jahrhunderten um das Wohlergehen der Reisenden.
Seiner Grösse und seiner Kraft zum Trotz gilt der Berhardinerhund als eines der liebenswürdigsten, der sanftmütigsten Tiere, das man sich überhaupt vorstellen kann. Nicht nur als menschenrettender Lawinenhund, auch als Hofhund und als verlässliche Zugkraft an Milchbännen und Marktkarren hat er sich einst beliebt gemacht. In ganz Europa kannte und schätzte man den Gemütsbrocken im zotteligen Pelz. Sogar das Englische Königshaus kaufte sich einst einen Wurf davon. Sieht ihm nicht jeder an, dass er keiner Maus ein Härchen krümmen könnte?
Später wurde er auch in Amerika beliebt. Man liebt ihn, weil er so gelassen und ruhig daherkommt.Wie geläutert durch die Gefahren und Entbehrungen, die ein Leben im Eis und dem Schnee der Alpen mit sich bringen. Kaum ein anderer Hund guckt die Menschen so treuherzig an, kaum einer hat so grosse Augen in einem so grossen runden Kopf. Der Berhardiner schaut, als würde er uns verstehen, denn er ist nicht nur tüchtig, sondern auch klug und weitsichtig. Allen voran hat dies schon Barry gezeigt und mit seinen Heldentaten bewiesen. Einmal hat er ganz alleine einen verirrten Knaben aufgespürt. Mitten in einem Schneesturm, mitten in der Nacht. Und er hat ihn sich nicht nur auf den Rücken geladen und zum Hospiz gebracht, er hat dort auch noch selbst mit der Schnauze an der Klingelkette gezogen, um das halb erfrorene Kind in die Obhut der Ordensbrüder zu übergeben.
So war Barry.
Barrys Ruhm als Freund und Helfer wird höchstens von demjenigen Lassies übertroffen. Sogar in Paris hat man ihm ein Denkmal errichtet. «Il sauva la vie à quarante personnes et il fut tué par la quarante-et-unième» steht dort in Stein gehauen. Meuchlings soll Barry von einem lawinenverschütteten Soldaten der napoleonischen Armee ermordet worden sein. Während er ihn retten wollte, rammte ihm der Soldat im Glauben, er werde von einem Wolf bedroht, das Bajonett ins gute Hundeherz. Geschrieben wurde das Jahr 1814. Barry war 14 Jahre alt.
Barry Rational: Genau betrachtet lässt das Fell des Hundes im Naturhistorischen Museum Bern diesbezüglich aber keinen klaren Schluss zu. Einen eigentlichen feststellbaren Durchstich sei da nicht zu sehen.Wegen der vielen wiederholt vernähten und geflickten Stellen im Fell sei diese Möglichkeit aber auch nicht ganz auszuschliessen, meinen Sachverständige.
Wahrscheinlicher ist jedoch, wie ebenfalls erzählt wird, dass der verdiente Lawinenhund Barry von einem Reisenden ins Herz geschlossen und zu Fuss mit nach Bern genommen wurde.Wer so vielen Menschen das Leben gerettet hatte, sollte ein Gnadenbrot schliesslich mehr als verdient haben. Vor allem sollte er auch nicht in Gefahr geraten, verspiesen zu werden. Hundefleisch war damals auch in der Schweiz bei weitem nicht so tabu wie heute. Zudem war Hundeschmalz gesucht als Heilmittel für Rheuma und andere Gebrechen.
Unsicher ist man auch, ob Barry, ausser im Bezug auf die durch das Fell vorgegebene ungefähre Körpergrösse, tatsächlich so ausgesehen hat, wie er heute in seiner Vitrine steht. Unter anderem soll die Form seines Kopfes über die fast zweihundert Jahre Museumsdasein variiert haben. So wie jetzt sieht er erst aus, seit er zum letzten Mal neu präpariert und nach vorhandenen Abbildungen nicht einfach ausgestopft, sondern möglichst wirklichkeitsgetreu völlig neu aufgebaut und geformt wurde. Als Anhaltspunkte dienten Kupferstiche und Veduten aus dem 17. Jahrhundert.
Die relative Unklarheit, was Barrys Aussehen betrifft, sollte jedoch später im 19. Jahrhundert die Züchter nicht davon abhalten, genau diesen nach Bildern geformten Barry zum Standard ihrer Rasse zu erklären. Denn wie ein Bernhardiner auszusehen hatte, war lange Zeit nebensächlich gewesen. Ursprünglich von den Ordensbrüdern als Schutzhund gegen Wölfe und gegen Weglagerer auf Grösse gezüchtet, wurde später vor allem seine feine Spürnase zum Ziel der Zucht. Und zwar so ausschliesslich, dass kaum mehr Wert auf Äusserlichkeiten gelegt wurde und in einem Rudel Bernhardiner jeder Hund anders aussah. Möglicherweise hat man deshalb marketingmässig gedacht und das Fässchen eingeführt, um es zum Kennzeichen einer Rasse zu machen, deren wertvollste Fähigkeiten nicht sichtbar sind. Im Arbeitseinsatz hat jedoch bestimmt nie ein Bernhardiner eines dieser berühmten Fässchen getragen, die übrigens auch nie mit einer als Ausguss dienenden Öffnung versehen waren. Bekannt ist nur, dass bei Schneesturm und Lawinengefahr auf verschiedenen Alpenpässen Hunde mit einem Körbchen Verpflegung möglicherweise in Not geratenen Reisenden entgegengeschickt worden sind.
Zweifellos haben die Bernhardiner auch ohne Fässchen, aber mit der gegen Raubtierbisse schützenden Stachelkette an der Kehle dem Menschen heroische Dienste geleistet. Die starken, bis 80kg und mehr wiegenden Hunde hatten auch die Kraft, verletzte oder tote Menschen eine Stück weit durch Schnee und Eis zu schleppen. Als Lastenträger oder sogar als Reittier, wenn auch nur für ein Kind, waren aber weder Barry noch die Bernhardiner allgemein je geeignet. Bei dem erwähnten, von verschiedenen Künstlern festgehaltenen Knabenritt dürfte es sich deshalb um eine jener Legenden handeln, die sich bald einmal um den zu unserem Nationalhund avancierten Bernhardiner rankten.
Schliesslich passte diese Hilfsbereitschaft ebensogut zu dem Bild, das sich unser Land von sich selbst machte, wie die braunroten Flecken auf dem weissen Hundefell zu unseren Nationalfarben. Anders als es heute mehrheitlich gezüchtet wird, war dieses Fell jedoch kurzhaarig, denn Fransen und Zotteln, in welchen sich Nässe speichern und gefrieren kann, wären für einen Lawinenhund ziemlich ungeeignet gewesen.
Natürlich passte auch die sprichwörtliche Friedfertigkeit der Bernhardiner zum Nationalcharakter, den sich die junge multikulturelle Confoederatio Helvetica gezwungenermassen aneignen musste. Dass zeitweise eher verwahrlost gehaltene Bernhardiner selbst auf dem Pass Kinder nicht nur gerettet, sondern auch schon im Rudel angefallen und gerissen haben, wird deshalb gerne verschwiegen. Nicht mehr verschwiegen wird dagegen die Tatsache, dass sich die Rasse unseres Nationalhundes heute auch in einigen anderen Ländern zunehmender Beliebtheit erfreut: als kulinarische Delikatesse.