Eine Wanderung durch den sogenannten Röstigraben vom Pruntruterzipfel bis zum Matterhorn
Von Beat Sterchi
Zuerst erschienen in der Weltwoche.
1
Die rotweisse Schranke ist geöffnet. Es regnet. Kein Mensch lässt sich blicken. Durchgang mit gültigem Ausweis gestattet. Das gleiche auf Französisch. Weiter als Sägemühle fährt kein Postauto. Zu Fuss gehe ich hinaus ins Niemandsland, überquere eine Brücke, sehe bei einer Kreuzung im kleinen grauen Tal schwarzweisse Tafeln. Es sind Strassenschilder französischer Art. Porrentruy 17.
Ich bin im Ausland. Mit meinem Hund. Beide haben wir keinen Pass dabei. Und wir gehen auf einer lebensgefährlichen Strasse. Der Verkehr ist spärlich, aber wenn ein Wagen kommt, kommt er rasend. Ich nehme den Hund kurz an die Leine. Ein Laster drückt uns erbarmungslos gegen die hüfthohen Leitplanken. Von den Spritzern sind wir drecknass. Beim nächsten Wagen weichen wir auf die andere Strassenseite aus. Dann gleich wieder zurück. Immer hin und her.
Durch das Gebüsch schaue ich über den Grenzbach La Lucelle in die Schweiz hinein. Ich sehe in einen kleinen, nassen Wald, sehe durch ihn hindurch, sehe durch den ganzen Jura hindurch, sehe im Gehen über das Mittelland hinweg, sehe durch die Voralpen hindurch erhaben in sauberer Luft und in herrlichstem Sonnenschein gebadet Le Cervin, unser aller Matterhorn.
Dort will ich hin.
Von Norden nach Süden, quer durch die Schweiz, und wann immer möglich zu Fuss und immer in jenem Graben, von dem alle immer wieder so gerne reden.
«Wissen Sie vielleicht, wo hier die Sprachgrenze verläuft?» frage ich bei der Anfahrt die uniformierte Zugbegleiterin. Ihr dunkles Haar fiel auf einen bunten Schal, den sie genau so um die Schultern trug, wie das früher nur die Frauen von der Swissair konnten.
«Die Sprachgrenze? Sie meinen den Röschtigraben? Der ist nicht hier, der ist in Freiburg.» Sie wisse auch nicht, was es damit auf sich habe, fuhr sie fort. «Vielleicht befindet sich dort ein grossens Loch in der Erde, und wenn man weitergräbt, kommt Röschti zum Vorschein.»
Dabei habe ich mich nur nach dem Verlauf der Sprachgrenze erkundigt. Beim Warten auf das Postauto in Delemont frage ich auch einen älteren Herrn danach.
«Ach, sehen Sie», sagt er, «hier sind alle bilingue, wenn Sie wissen, was das ist. Gleich da drüben ist das Elsass, und das war früher ja auch deutsch.» Mit seiner Frau sprach der Mann zwar Französisch, doch schlug sein Herz eher auf der allemanischen Seite seiner doppelsprachigen Schweizerbrust.
In Neumühle an der Grenze zu Frankreich steige ich ein.
Auch hier gehe ich unter dem rot-weissen Schlagbaum hindurch. Eines der drei oder vier Häuser ist ein Gasthaus. Grau und verschlossen steht es im Regen. Von einem andern Gebäude her, ruft mich ein Zöllner an. Er tut es freundlich, aber bestimmt und professionel.
«Aber irgend einen Ausweis werden Sie doch auf sich haben!» Er lässt nicht locker. Ich schlage meinen Geldbeutel auf, er schielt hinein, sieht meine Karten.
«Ist diese hier von einer Bank?»
«Nein, die ist von der Stadtbibliothek Bern.»
«Und die?»
«Was ich habe, ist mein Halbtaxabi. Und meine Postomatkarte.»
Er nimmt beide, zieht seine Augsbrauen zusammen, vergleicht die Namen: «Gut, aber in unmittelbarer Nähe der Grenze sollte man einen Ausweis auf sich tragen!»
Recht hat er. Wo stellen sich die Identitätsfragen, wenn nicht in Grenzbereichen. Da sollte jeder wissen, wer er ist, damit er weiss, wo er hingehört.
Beim Waldrand hinter der kleinen Siedlung bleibe ich noch einmal stehen, schaue zurück.
«Diese Grenzen sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Da haben wir aber auch schon vorwurfsvollere und viel selbstherrlichere Zöllner erlebt», sage ich zum Hund und gehe hinein in die Schweiz.
2
Die erste Wiese ist genau so grün und fett wie man sich das vorzustellen hat. Und das erste Haus ist ein Bauernhaus. Unter einem stattlichen Dach steht es abseits am Hang. Ein Schweizer Hof. Dann die ersten Häuser am Weg. Eines ist angeschrieben: Bys Fässlers. Daneben Bienenstöcke, Misthaufen, eine alte Badewanne als Kuhtränke in einer eingezäunten Weide, eine Fahnenstange ohne Fahne und schon kommt die Glassammelstelle. Eine Frau zieht Flaschen aus einer Einkaufstasche und wirft sie, ohne sich vom Wetter beeindrucken zu lassen, in die entsprechenden Löcher: Weiss, grün, braun.
Das erste Dorf heisst Roggenburg.
Natürlich weiss der Posthalter ganz genau, wo die Sprachgrenze verläuft. Er steht mit einer schwarzen Dogge an der Seite am Schalter und weiss auch zu erzählen, wie Roggenburg aufhörte bernisch zu sein und baselbieterisch wurde. Dass er sich in seiner Position für den Kantonswechsel engagierte, haben nicht alle gerne gesehen. Noch gibt es Kampfparolen an einigen Mauern im Dorf: Wir bleiben Berner! Dabei ist Laufen um die Ecke und Bern buchstäblich hinter den sieben Bergen.
Die meisten Häuser in Roggenburg sind ziemlich putzig, wirken unerklärlicherweise «schwäbisch». Kaum habe ich das letzte hinter mir, gibt es am Strassenrand wieder etwas zu lesen: Oh, Kreuz, sei gegrüsst. Oh Kreuz, meine einzige Hoffnung!
Auf der Suche nach der Sprachgrenze stolpere ich über die Konfessionsgrenze, gehe aber unbeirrt weiter hinein in die Schweiz und komme nach Ederswiler.
Gleich beim Dorfeingang von Ederswiler gibt es eine grosse Motorradwerkstätte. Japanische Marken machen Reklame. Auf geparkten Lastwagen steht: Ederswiler Racing team.
Weil der Hund nass, sein Schwanz ein Güllenpinsel ist, heisse ich ihn vor der Tür zum Gasthof Rebstock warten. Links geht eine Treppe hoch, rechts führt eine zweite Tür in die Gaststube. Da sind wir also im kleinen berühmten Dorf, das gerne bernisch geworden wäre, hätte Monsieur Jura nicht gesagt njet. Jetzt ist es die einzige deutschsprachige Gemeinde im Kanton.
Und was liegt auf dem freien Tisch, an den ich mich setze? Der Brückenbauer. Auf dem Titelblatt in vertrauter Pose Peter Bichsel (60), Meister Schweiz, Fachmann für Identitätsfragen.
Mein Kaffee kommt mit Rahm und Zucker. Und mit einer kleinen Schokolade.
«Sprechen Sie auch Französisch?» frage ich die Bedienung.
«Nein, aber Englisch».
«Und Norwegisch spricht sie», sagt ein Mann in einem blauen Mechanikergewand am Nebentisch.
«Sind sie Norwegerin?»
«Ja, ich spreche drei Sprachen, aber kein Französisch».
«Ach, zum öpperem wüäscht d’säge längt das», sagt der Mann nebenan.
Dann betritt noch ein Gast den Rebstock. Auch er grüsst Schweizerdeutsch. Ausser nassen Schuhen bringt er auch die neusten Witze mit. Sie handeln von Mercedes-Sternen, die dazu dienen, Fussgänger ins Visier zu nehmen, um diese mit rasch geöffneten Türen irgenwie zu «killen». Beim Gelächter denke ich zurück an meinen Gang über die gefährliche Strasse in Frankreich, auch an die Fussreise, die ich noch vor mir habe. Ich zahle und gehe.
Draussen steht die Tür offen. Weit und breit kein Hund. Ich pfeife. Er hat sich in den ersten Stock geschlichen, der letzte Gast hat ihn hineingelassen. Mit seinen Dreckspfoten kommt er auf dem hellen Teppich die Treppe herunter angwedelt. Die braunen Flecken lassen wir als Fussgängergrüsse zurück.
Bei der Glassammelstelle auf der andern Seite des Dorfes gibt es hier auch Stahlblechcontainer und einen Prüfmagnet. Daran vorbei gelangen wir über ein sanft geschwungenes Strässchen erst zu einer Moto-cross-Rennbahn, dann zu einem Hof, wo uns bellende Hunde entgegenkommen. Schon kurz danach, oben auf der ersten Jurahöhe, geht der Nieselregen in leichten Schneefall über und uns beginnt die Erkenntnis zu begleiten, dass dort, wo ausser dem Rauschen eines Baches oder dem Gezwitscher der Vögel nichts zu hören ist, dass dort, wo es auch bei schlechtem Wetter schön ist, dass dort die Welt meistens nur mir und dem Hund gehört.
Nach einer Stunde oder zwei begegnen wir einem Holzfäller bei der Arbeit..
«Bonjour Monsieur», sagt er kurz und wirft sogleich die Motorsäge an. Kurz darauf lasse ich eine Panzersperre hinter mir. Wie Naturkunst, wie eine von einem spitzfindigen Künstler ausgedachte Installation stehen die spitzen Betonpyramiden unwirklich, moosbewachsen und von Gestrüpp überwuchert in der Landschaft.
Noch habe ich kaum eine Ahnung, was mich auf meinem Grabengang erwartet, suche deshalb auch hier nach fassbaren Unterschieden, nach Widersprüchen und Differenzen. Wo ist die Grenze, wo verläuft sie weiter, zwischen welchen Bäumen und Büschen schlängelt sie sich hindurch? Und ich wundere mich über die beiden Spaziergängerinnen, die ahnungslos, dass ich keiner der ihren bin, freundlich lächelnd auf französisch grüssen. Kurz darauf steht Vive le Jura libre! an einem Haus. Die Farbe zwar schon leicht blass.
In Soyiers überquere ich unauffällig La Place de la Liberte und komme an der Birs zu einer weiteren Panzersperre. Tief im Boden stecken rostige Eisenbahnschienen, und dahinter im Gebüsch drohen schwarze Löcher und Schiessscharten im Felsen. Auf der andern Seite der Klus steht hoch oben auch noch die Ruine einer trutzigen Burg.
Beim nächsten Wegweiser folgt auch gleich der Hinweis darauf, dass ich mich hier nicht auf irgend einem Flussuferweg befinde, nein, ich gehe mit dem Hund auf einem Sternweg, der von Sainte-Croix kommt und über Langenbrugg, Zofingen und Luzern genau wohin führt? Auf das Rütli.
Ich gehe jedoch vorerst nach Delemont, wo es vor dem nächsten Zug nach Bern im Buffet CFF noch für ein Gläschen Fendant reicht (2.90 1 dl)
3
Am nächsten Tag gehe ich den Weg über die Sprachgrenze gemeinsam mit einem Freund.
Rudolf Wehren (78) war Lehrer und Schulleiter in der zweisprachigen Stadt Biel. Als ich ihn fragte, ob er ein Stück mitgehe, zeigte er sich auf der Stelle wanderlustig. Dem Wetter zum Trotz.
«Ich habe eine Pellerine im Rucksack», sagt er im Bahnhof Biel, wo wir uns treffen und der Hund zum ersten Mal an seinen Hosenbeinen rumschnuppert.
Von Delemont aus verläuft die Sprachgrenze über eine Jurakette von Hof zu Hof, mehrmals scheinbar mitten durch deren Namen: Pierreberg, Retemberg, Moretchopf, Welschgätterli.
Rudolf Wehren, ich und der Hund gehen aber durch das breite sanfte Tal nach Courroux. Dort bestellen wir im Ours (Bären) einen Kaffee. Auch hier gibt es Schokolade dazu.
«No, je ne parle pas l’allemand», sagt die Bedienung. Aber sie besucht einen Englischkurs, wird deshalb von den in aufgeräumter Stimmung am runden Tisch sitzenden Herren diesbezüglich getestet
«How you say …?» Die Herren am runden Tisch lachen. Sie erzählen Witze von der derben Sorte. Einmal auf Berndeutsch, einmal auf Französisch. Sie tragen Stiefel und Arbeitskleidung, einer hat eine Mütze auf. Mehrmals kommt es vor, dass sie je nach Lust und je nach Witz die Ausdrucksart wählen. Und wieder folgt ein Geplänkel mit der Serviererin und ihrem frisch angeeigneten Schulenglisch.
Der stämmigste Mann am runden Tisch erklärt uns den Weg. Er hat einen abenteuerlichen Schnurrbart im Gesicht und seine blauen Augen blitzen mit eher unallemannischem Schalk.Aber jetzt muss er gehen. Er steht auf, nimmt sein Kleingeld vom Tisch und wirft es in einen der Schlitze in einem blechernen Kasten an der Wand. Und wie grüsst er zum Abschied in die Runde? Messieurs, adios!» sagt er.
Im nächsten Dorf ist das einzige Lokal ein Chinesisches Restaurant. Im übernächsten gibt es nur eine Pizzeria. Dann, in Montsevelier, führt uns der Hunger in den Aigle (Adler).
Der Hund darf mit, dank Rudolf Wehren.
«Der stört doch keinen, so brav wie er ist».
Am Zapfhahn steht eine Frau, die uns begrüsst, als wären wir eine Kompagnie Soldaten. Der Wirt grüsst ebenso freundlich. Er sitzt im weissen Unterhemd mit einem Vertreter an einem Tisch. Während dieser auf ihn einredet, trinkt er einen Weissen und krault sich im grauen Bart.
Nachdem wir bestellt haben, nehme ich Le quotidien Jurassien vom Nebentisch, und der Wirt bindet sich auf einen Wink der Serviererin eine rot-weisse Schürze um, verschwindet durch eine Flügeltür in die Küche und kommt wenig später mit zwei Tellern wieder heraus.
Auf beiden Tellern häufen sich mindestens sechs McDonaldsrationen Pommes frites; knusperig sind sie, und darunter liegt nicht eins, sondern zwei Schnitzel neben einer Scheibe Ananas. Das darf doch nicht wahr sein! In dieser Dreizehn-Franken-Schnipo-Suppe muss doch ein Haar zu finden sein, denkt mindestens ein preisbewusster Deutschschweizer im Lokal. Kaum erwähnenswert liegt es kurz und grau auf dem Tellerrand.
Wir bestellen noch ein Bier, trinken danach einen Kaffee,der auch hier nicht ohne Schokolade kommt und machen uns auf den Weg zur nächsten Jurakette.
«Au revoir Messieurs, bonne promenade!»
Nach Chez le Zuber wollen wir, besuchen von drei hellen Glockenschlägen angelockt, zuerst jedoch die Kirche von Merevelier. Sie ist gross für das kleine Dorf. Vor einer Eisentafel, die darauf verweist, dass hier 1944 polnische Soldaten interniert worden sind, zündet sich Rudolf Wehren eine Zigarette an.
«Willst du nicht auch auf den Friedhof gehen? Da kann man sehen, ob über die Sprachen hinweg geheiratet wird». Kaum ein Stein ist zu sehen, bei dem die Grenze nicht zwischen den Doppelnamen durchführt.
Beim Aufstieg danach geraten wir auf einen Holzweg und weil wir nicht umkehren, verirren wir uns, verpassen Chez le Zuber, gehen stattdessen im Kreis. Bei der schmucken Kirche von Envelier holt uns schon die Abendstimmung ein. Wir sitzen auf einer Bank, der Hund frisst Gras, dreht seine Ohren abwechslungsweise nach dem Gekläff welscher Hunde und dem Gebimmel der Schafe auf der andern Seite des Tals. Ich studiere die Karte, Rudolf Wehren raucht. Plötzlich sagt er:
«Ich finde das, was du hier machst eigentlich ein schönes Projekt, aber ich würde die Leute mehr nach ihren Meinungen fragen».
«So viele habe ich schon gefragt, es wiederholt sich dauernd, alle sagen das gleiche: No problem! Hattest du diesbezüglich in Biel je Schwierigkeiten?»
«Eigentlich nicht, aber man hat sich Mühe gegeben, beispielsweise bei Sitzungen immer auch Französisch zu reden, obschon alle Deutsch verstanden».
Später spricht Rudolf Wehren bei einem Hof ausser Hörweite mit den Bauersleuten. Zwei kleine Kinder und ein Hund stehen dabei. Der Kompressor der Melkmaschinen surrt.
«Dort vorne, diese Tannengruppe, das ist die Kantonsgrenze», sagt er beim Weitergehen.
«Und? waren es Jurassier oder enttäuschte Noch-Berner?»
«Aus dem Baselbiet zugezogen».
«Damit lässt sich auch weder polarisieren noch polemisieren. Wo sind denn hier die spektakulären klaren Verhältnisse mit den dazugehörigen Grabenkämpfen und Kulturkriegen?
«Mir gefällt es besser so».
4
Zusammen mit Rudolf Wehren besuche ich in Biel La Rotonde. Dieses Wahrzeichen der zweisprachigen Stadt ist aussen architektonisch beeindruckend;rund und modernistisch ist es auch innen, dazu gross wie ein Bürgerhaus, jedoch hell und mit allen Schichten und Klassen zugänglichem Bistrot-Charakter.
Die Bedienung ist schnell und zuvorkommend.
«Ich bin aus Österreich», sagt die junge Frau.
In die Schweiz hat sie die Liebe verschlagen, geblieben ist sie wegen den freundlichen Leuten von Lyss, auch um Französisch zu lernen. Auf die Lysser schwört sie absolut.
Später gehen wir durch die Taubenlochschlucht. An einer Stelle ist der schmale Weg verschüttet. Ein Unwetter hatte ganze Tannen entwurzelt, und tief unten zwischen den ausgewaschenen Felsen tobt hier im Graben zwischen den Sprachen La Suze – die Schüss.
Danach führt die Sprachgrenze nach Evilard. Weil dieses Dorf oberhalb der Nebeldecke lag, bauten die wohlhabenden Bieler beider Zungen hier einst ihre Häuser. Inzwischen ist mit der Klimaerwärmung auch die Nebeldecke gestiegen und die Bieler leben wieder alle im gleichen Wetter.
Kurz vor Magglingen kommt uns zum ersten Mal an diesem Nachmittag jemand entgegen. Der Mann trägt einen weissen Bart, eine Schiebermütze und eine blaue Strickjacke. Er sagte: «Bonjour».
Rudolf Wehren sagte: «Grüäsech».
Vielleicht ist es das: Die einen sagen so, die andern so, ziemlich zivilisiert sind sie alle.
5
Wieder alleine mit dem Hund bin ich noch einmal im Jura unterwegs. Am Bahnhof, in der Bäckerei, überall wünscht man uns einen schönen Tag, trotzdem regnet es. Aber die Kinder, die Corselles aus dem Zug steigen sind fröhlich. Ein Mädchen wird von der beim Wagen wartenden Mutter Celina gerufen.
«Spricht man hier Deutsch oder Französisch?»
«Beides», sagt das Mädchen und geht mit einem kleinen Cellokasten auf dem Rücken davon.
«ja, ja,» sage ich beim Weitergehen zum Hund, «dort wo zweisprachige Kinder vom Land mit Cellokästen in die Stadt fahren, dort ist die Welt noch in Ordung».
Der Bahnhofvorstand von Gänsbrunnen macht jedoch Einschränkungen. Er wundert sich immer wieder, wie krass hier die Unterschiede sind. Unter den Jugendlichen gebe es wenig Kontakt, die einen seien gegen Balstal, die andern gegen Münster orientiert.
«Und wo verläuft hier die Sprachgrenze genau?»
«Die geht von hier rechtwinklig zum Geleise über den Oberdörfeberg», sagt er, während er mir zwei altehrwürdige Carton-Billets ausstellt.
Bis der moderne rote Zug der Solothurn-Moutier-Bahn kommt, unterhalten sich im Wartesaal zwei Küchenhilfen über die Macken ihres Chefs. Der eine ist vermutlich Tamile, auch der andere ist Asiate, aber reden tun sie in einem eigenwillig dialektdurchsetzten Schweizerhochdeutsch.
6
Der Zug nach Ins im Grossen Moos (Bern ab 9.22 – ohne Halt bis Gümmenen) fährt weiter bis Paris.
Auf dem Bahnhofplatz steht WILLKOMMEN IM WANDERPARADIES SCHWEIZ. Wegen des Besuches einer gewissen Alten Dame ist dieser Platz berühmt geworden. Eben fährt ein bunters Bähnchen ab nach Biel. Ich rede kurz mit der Frau am Kiosk, kaufe eine Karte, werfe die Pellerine über und gehe mit dem Hund hinaus in die regennassen Felder. Der Boden ist schwer und schwarz, die Stimmung trist, doch nicht ohne Reiz.
Die höchsten Erhebungen im flachen Moos bilden auch hier die bei den Schuppen aufgetürmten Gemüsekisten. Pfützen liegen auf dem Weg, der Hund weicht keiner aus.
Bei der Strafanstalt Witzwil wühlen Freilaufschweine auf einem Feld im Dreck. Zum eigentlichen Anstaltsgebäude führt ein Eisenbahngeleise durch eine Allee. Durchgang verboten – Passage interdit.
Weil ich wieder auf der Strasse gehen muss, ärgere ich mich über die Autos. Kaum eins weicht aus, um mich von Spritzern zu verschonen. Und oben donnert ein Tiefflieger über uns hinweg.
Im Graben zwischen den Sprachen tümpelt hier der Canal de la Broye, Nebelfetzen hängen darüber, als könnten sie sich für keine der beiden Ufer entscheiden.
Auf der andern Seite des Mont-Vully, an der sogenannten Riviera Fribourgoise, nehme ich die Pellerine ab und mache Halt. Der Hund sieht aus wie eines der Schweine im Dreck von Witzwil.
In der Auberge des Clefs führt die Sprachgrenze von der Fondue-Reklame linkerhand zwischen den aufgehängten Zeitungen La Tribune und Blick hindurch die Wand hinunter direkt auf mich zu, schlägt aber noch vorher auf dem Tisch bei Pfeffer und Salz auf der Dose der Streuwürze (Zum Würzen aller Speisen – pour assaissoner tous les mets) einen scharfen Bogen in der Richtung des Hundes, der am Boden seine Pfoten leckt.
«Und du? auf welche Seite gehörst du eigentlich?»
Nur kurz hebt er den Kopf..
Am Nebentisch machen die Damen Konversation, während sich die beiden Herren erst andächtig ihren Zigaretten, dann dem Wein und dem Essen widmen. Das gesprochene Französisch klingt raffiniert, distingué. Man ist aus Neuenburg zum Essen herübergefahren. Schlecht gesprochen wird über die armen Jurassier, ebenso über die bösen Genfer. Gleich kommen die Deutschschweizer dran! denke ich.
Irrtum.
Man spricht respektvoll von La Confédération und überraschenderweise von den Kosten der Neat, die als «hors de proportion» befunden werden.
Ich trinke den Pinot Noir Du Vully aus und zahle. 17.- für 3,5 l ist der stolze Preis.
«Merci beaucoup, bonne après-midi.»
«Pareillement».
«Merci».
«Au revoir … salut le chien!»
Danach führt der Weg nach Murten durch Winzerdörfchen die etwas hinter der Durchgangsstrasse aussehen, als wären sie von Tommy Ungerer gemalt. Klein und romantisch wie im Kinderbuch
Auch hier ist es sogar im Regen schön.
Erst durch die Rebberge, dann an neu errrichteten Häusern mit Schiffanlangeplatz, wie sich das für eine Riviera ghört, vorbei, geht es kilometerweit schnurgerade durch das aufgeforstete Moos. Es macht wieder Spass frei und unbedroht losschreiten zu können. Auch der Hund schwärmt übermütig aus zwischen die schmalen Birken und die noch kahlen Lärchen.
Wie der See, über welchen schon viel Böses gesagt worden ist, wieder zum Vorschein kommt, präsentiert er sich weder gründ noch braun, stahlgrau ist er, das Wasser aufgerauht, und ohne jeglichen Surfer und Schiffer sieht er überhaupt wie ein recht ordentliches Binnengewässer aus.
Beim Uferweg am Hafen falte ich die nasse Karte zusammen.
«Noch sind wir nicht beim Matterhorn, diesem Dreisprachen-Spitz, aber wieder haben wir ein Blatt des Bundesamtes für Landestopografie quer durchschritten».
Als Antwort wedelt der Hund mit dem Schwanz.
7
In Murten locken die Läden in den Lauben mit bunten Auslagen, ein Polizist verteilt gerade Parkbussen und das Gasthaus bei dem schönen Brunnen heisst nicht De la Fontaine. Es heisst La Fontana und ist eine Pizzeria. Ein anderes Lokal heisst Eintracht und ein drittes ist das Berntor.
Hier hängt an der Wand neben Berner- Zeitung und Freiburger-Nachrichten auch La Liberté.Jeder Gast, der eintritt, grüsst in einer andern Sprache. Der Wirt, der selber bedient, ist bilingue.
«Je peux?»
«Oui, oui».
Die Frau an meinem Tisch gibt ihre Schokolade, die mit dem Kaffee kam, dem Hund unter der Bank.
«Comment s’appelle-t-il?»
«Fosca».
C’est un male?»
«No, und femelle, une Espagnole!»
«Oh …»
In Murten erst durch die Französische Kirchgasse und dann durch die Deutsche Kirchgasse zu gehen, lasse ich mir nicht nehmen. Auch den Stadtgraben und den Philosophenweg hake ich ab, bevor ich das Städtchen auf dem für Fussgänger gelb markierten Streifen am Strassenrand verlasse.
Ein Briefträger fährt von Haus zu Haus auf einem Töffli. Die Sonne scheint. Hinter meinem Rücken leuchten die Stadtmauer, die Türme und die Kirchen. Dahinter die Rebenmuster auf dem Mont-Vully. Lieblich alles, wenn auch zerstückelt und zergliedert und zersiedelt.
Laut Karte gehe ich an einer Autobahnbaustelle vorbei auf eine deutsch-bernische Enklave zu, bemerke jedoch plötzlich, dass ich ahnungslos mitten in ein gefährliches Reservat eingedrungen bin.
Schon sehe ich mich unerbittlichen Blicken der Ältesten eines verlorenen oder vergessenen kriegerischen Stammes ausgesetzt. Irrtümlicherweise habe ich ihren Sakralraum für ein öffentliches Lokal gehalten und natürlich hat sie meine Dreistigkeit zum Verstummen gebracht. Während sie mich anstarren, sehe ich die gestickten, geschnitzten, gegossenen, geschmiedeten und auch fotografierten Totems und Stammeszeichen, die lückenlos die Wände bedecken.
Erst als die Stammesältesten ihre Debatte am runden Tisch wieder aufnehmen, wage ich mich zu setzen.
Offensichtlich geht es gerade um das Ende der Welt. Andere Stämme wollen es mutwillig herbeiführen, aber um sie daran zu hindern ist man bereit, die allerdrastischsten Massnahmen zu ergreifen. Einig ist man sich anscheinend schon darüber, dass Abtrünige der feindlichen Stämme aus dem Reservat geschafft werden sollen, sobald sie auf Grund ihrer Hautfarbe oder ihrer abartigen religiösen Sitten ertappt werden können.
Schnell leere ich mein Bier hinunter und eile, vom Hund gefolgt an die frische Luft hinaus, weg von der trügerischen Idylle, weg von diesen grossen Höfen und befinde mich schon im nächsten Dorf, aufatmend diesmal, wieder in einem andern Kanton und in einer anderen Kultur.
8
In Wallenried verharren zwei Kinder stumm im Spiel, verfolgen mit grossen Augen den gehenden Mann und den Hund. Einen Jungen, dessen Weg ich kreuze, frage ich, welche Sprache man hier spreche.
«Beides», sagt er mit freiburgisch gefärbtem Dialekt.
«Und du?»
«Ich auch». Dann kommt ein Kollege mit dem Töffli angebraust, er schwingt sich auf den Gepäckträger. Zusammen verschwinden sie um die nächste Kurve. Der Hund und ich folgen ihnen.
Hinter Courtepin weiche ich, um dem Verkehr zu entkommen von der Sprachgrenze ab, gehe stattdessen auf dem Jubiläumsweg (5oo Jahre Freiburg) durch den Wald.
Auf den gelben Schildern steht jetzt Chemin pédestre und Fribourg 7,8km. Links und rechts schnüffelt der Hund im Unterholz wieder auf seine eigene Art die Territorialgrenzen aus.
Der Ragout auf dem Mittagsmenü im Hôtel de la Gare in Courtepin war ein Mischmasch, genau wie die Sprachkulisse in dem grossräumigen Restaurant. Es gab auch Kartoffelstock, daneben Gemüse, feingehackt und büchsen-blass. Am Nebentisch spielte man Karten, mit welchen vergass ich zu fragen. Der Wirt, der schon beim Kaffee gesessen und zweisprachig mit der Stammtischrunde geplaudert hatte, rutschte freundlicherweise noch einmal tiefer in seine Pantinen und schlurfte mit einem Lächeln wegen mir zurück in die Küche.
Der Hund bekam derweil unter dem Tisch eine Cervela.
Die Bedienung sprach kein Deutsch. Sie war klein, dunkelhaarig und so schüchtern, dass ich sie vor lästigen Fragen nach Herkunft und Sprache verschonte. Sie sagte ohnehin schon ununterbrochen:»Merci Monsieur, merci Monsieur!»
Hinter dem Wald bei einem Hof kommt ein Bauer mit Holzpfählen auf einem Karren aus dem Schopf.
«Bonjour Monsieur. Comment ca s’appelle ici?»
«Ici, ca s’appelle Corbaz».
«Qu’est-ce qu’on parle ici?»
«En principe le Français».
«Ah, oui?»
«Aber mir chöi ou Tütsch».
Natürlich fehlt in Corbaz die Glassammelstelle nicht. Auf dem neu gepflasterten Schulplatz spielen Kinder und weiter unten im Dorf eilt eine Frau aus ihrem Garten. Ihr Setter ist über den Zaun gesprungen, jetzt schimpft sie ihn aus, entschuldigt sich wortreich und charmant.
«Mais il n’y a pas de quoi!»
Danach führt der Jubiläumsweg zu einem Bach hinunter, über eine Eisenbahnlinie. Ein Pfiff. Eben kommt ein blauer Zug an. Chemin de fer Fribourgois steht an den Wagen.
Auf einem Baum in einer Wiese dann ein eigenartiger Vogelruf. Würde ich etwas von Ornithologie verstehen, könnte ich vielleicht Ausserordentliches berichten: Von einem Eichelhäher oder von einem Schwarzen Grenzfink oder von einem Zweisprachigen Kochelkopf.
Und wieder Vogelrufe, und plötzlich unzweifelhaft die Geräusche einer Autobahn. Das muss Freiburg sein. Nach einer kleinen Kapelle mit einem riesgien Vordach kommt ein Reitweg, dann Schrebergärten, erste Häuser, Kreuzungen, Schilderwirrwar, Busendstation, Überführungen, Tunnel, Industriegebiet, das Brausen und Tosen der Autobahn, das Drohen der Eile.
Weitergehend komme ich zur Universität, Leute steigen aus Autos, verschwinden in Läden und Büros, aus einem Hauseingang kommt ein Mann mit zwei Taschen voller leerer Flaschen, Jugendliche radeln vorbei, alle bestimmt in legitimer Eile, alle in gewichtigeren Angelegenheiten unterwegs als der Hund und ich.
Orientierungslos, ohne Stadtplan, spreche ich auf der Avenue du General Guisan eine Frau an:
«Est-ce que vous comprenez le Francais?»
Sie nimmt Walkmen-Kopfhörer, die ich nicht bemerkt hatte, aus den Ohren. Ich frage noch einmal das gleiche.
«Un tout petit peu».
«Können Sie mir sagen, wo es in die Altstadt geht?»
«Ja, das geht hier runter und dann rechts», sagt sie und wünscht mir einen guten Tag.
«Ihnen auch!»
9
Im Bahnhofbuffet l. Klasse herrscht Hochbetrieb. Eine stämmige Kellnerin trägt eine leichte Seidenbluse und Unterwäsche, die aussieht, als stammte sie aus Zur Stadt Paris.
Ich bestelle auf Berndeutsch. Keine Gegenfrage. Das Bier kommt. Beim Bezahlen frage ich auf Französisch: «Macht es Ihne etwas aus, wenn man auf Deutsch bestellt?»
«Nein, wieso denn? Natürlich nicht. Solange man nicht auf Französisch bezahlt».
Danach im Schwanen ist das Wort, das ich provozierend benütze, für die dunkelhäutige Kellnerin völlig unverständlich.
«Un moment s’il vous plait», sagt sie und holt eine Kollegin. Auch sie ist dunkelhäutig, wie sich später herausstellt kommt sie aus Nord-Afrika. Aber in beinahe akkzentfreiem Dialekt erkundigt sie sich nach meinen Wünschen. Ohne zu zögern dreht sie sich dann den andern Gästen zu und fragt laut und deutlich quer durch das Lokal:
«Weiss jemand, wo der Röschtigraben ist?»
«Ja, der ist zweihundert Meter weiter unten», sagt ein Mann an der Theke.
«Aber dort ist doch die Saane».
«Eben».
Aber über die Saane führen viele Brücken, auch solche aus Holz und mehrere, die an Seilen hängen, nirgends ist dieser Graben ein unüberwundenes Hindernis. Auch in Outre-Sarine, das lediglich klingt wie outre-mer (Überseee) geht es sich leicht. Noch liegt Schnee auf den Feldern. Man hat mich Richtung Lac noir – Schwarzsee gewiesen. Über die Freiburger Alpen würde ich die Sprachgrenze aber noch zwei drei Monate nicht zu Fuss begehen können.
Auch im Sternen in Tentlingen wird an einem Tisch so und am andern so gesprochen. Ich setze mich dazwischen und bestelle eine Bratwurst mit Rösti.
«En Guete», sagt die Serviererin.
«Bon Appetit», sagt die Wirtin, die ebenfalls kurz an meinen Tisch kommt und dem Hund darunter zulächelt.
Ich geniesse das Essen und dazu das Stimmengewirr in der Luft. Mischzone, typisch für Freiburg, würde ein Fachmann für Linguistik vermutlich sagen. Darüber, ob sich daraus eine Sprachvermengung oder eine babylonische Sprachverwirrung ergibt, darüber würden sich die Experten wahrscheinlich heftig streiten.
Der Gerine entlang gehe ich über einen Sentier planétaire (einen Planetenweg) zurück zur Saane, gehe hinein in die Postkartenlandschaften des Greyerzerlandes. Die Häuser sind stattlich und werden noch immer stattlicher. Kapellen säumen den Weg. Und da vorne, was ist das? Was ich für ein weiteres, wenn auch stumpiges Wegkreuz gehalten habe, entpuppt sich aus der Nähe als Hydrant. Hinter den grossflächigen Feldern kommt der Kirchturmspitz des nächsten Dorfes zum Vorschein. Darüber ein roter Fesselballon vor den leuchtenden Alpen. Drei Frauen kommen uns entgegen.
«Bonjour Mesdames».
«Bonjour Monsieur», singt es aus welschen Kehlen.
Und der Hund jagt wieder eine Katze auf einen Baum. Sie klettert bis zu einem Ast, auf dem schon eine fette Krähe sitzt. «Croak, croak, croak», hallt es jetzt durch den Sprachengraben.
Und noch ein Vogel, den ich kenne: Ein Milan segelt vorbei. Von Stürmen gefälltes Holz wird mit Seilwinden aus dem Wald gezogen. Hinter einem rostigen Gitterchen, faltet im Felsen eingelassen eine kleine Mutter Gottes die Händchen. Sie ist neu bemalt worden, blau und rosa-rot. Notre Dame de Lourdes steht auf einem Schild.
Den Durst lösche ich in Gaststätten, ich welchen Zürcher- oder Argauerinnen im Welschlandjahr servieren.
«Eh,, toi avec le chien, bois tu un verre?»
«Avec plaisir».
Später hat der Hund Durchfall.
«Das kommt davon, wenn du bei jedem Haus, wo wir vorbeikommen, die Katzenteller plünderst!»
Zwischen Arconciel und Treyvaux darf dann das Schauspiel der Dämmerung genossen werden. Würden die orange-bräunlichen Abgasschwaden nicht vor dem Horizont über dem Mittelland hängen, jeder könnte meinen, es sei das wunderbare Abendrot.
10
Beim Aufstieg auf der Strasse zum Jaunpass höre ich im Walkmen die Folk-Gruppe Familie Trüeb. Die fein verfremdeten, modern gesungenen und ironisierten Volkslieder passen wunderbar. Besonders das Lied vom wilden Gemsjäger Sepp, denn auch der Hund zieht jagdlustig an der Leine, hebt dauernd die Schnauze und gleich hinter mir erheben sich die zerklüffteten Zacken der Gastlosen.
Der Himmel ist blau, ein herrlicher Tag.
Unten im Dorf erfuhr ich, dass ich den Abstecher nach Abländschen und den Gang durch das Grieschbachtal oder Vallee des Fenils, auf den Sommer verschiebern muss. Noch liegt viel zu viel Schnee und Eis im Graben der Sprachen.
Dafür begegnen sich Deutsch und Französisch auf der Kassette, die ich höre. Ein zweisprachiges Lied:
Marguerite je t’aime quand même sans peine.
Margritli ig liebti vo Härzä mit Schmärze.
Und schon gelange ich über eine Brücke auf die Passhöhe, trinke dort Kaffee, esse die kleine Schokolade und fahre danach mit einer Mutter, die ihre Kinder von der Schule abholt hinunter ins Simmental, nach Weissenbach.
Gleich kommt ein Zug mit Anschluss in Zweisimmen nach Saanen.
Im sechseitigen Anzeiger von Saanen (Einzelverkaufspreis -.90 Rp.) inseriert eine Immobilien-Agentur zweisprachig, sonst verweist nichts auf die Nähe der Nachbarkultur, die, wie ich auf der Post erfahre, bei Le Vanel beginnt.
Ein kleiner Abstecher beweist, dass die Kirche nicht grundlos zu ihrem Ruhm kam. Eben schlägt sie sprachen-neutral drei Uhr, und schon ist die Sonne am blauen Himmel dabei, hinter einen der steil aufragenden Felsenberge zu sinken. Ist es die Gummfluh? Auf einem Wegweiser steht Rougemont 1 Std. 45 Min.
«Gehen wir halt im Schatten», sage ich zum Hund.
Ein Bauernhaus mit zwei Seitentreppen und einem Doppeleingang mit Rundbögen in der gekalchten Grundmauer zeigt noch den soliden Simmentaler Chaletbaustil. An einem andern sehe ich ein grosses, aufgemaltes Bernerwappen. Dahinter einen Misthaufen, der dampft. Es gibt auch einen Hund, der bellt und viel, viel Schnee, der schmilzt.
Beim nächsten Haus stehen Kinderskis und Schlitten, auf dem Dach putzt sich eine Katze in der Sonne, ein Brunnen plätschert und ein Scheemann hat ein rotes Plastikbecken auf dem Kopf.
Aus einer Scheune kommt eine Frau mit einem Korb am Arm. Sie guckt überrascht, antwortet dann in herrlich melodiösem Saanen-Dialekt. Wie weit es bis zur Sprachgrenze sei, wisse sie nicht, die Wege seien aber sehr uugäbig. Sie rät mir, auf der Strasse zu gehen.
Bei der Kantonsgrenze kommt erst eine Tafel, die auf Schleudergefahr verweist, dann ein Denkmal. Es steht auf einem Wendeplatz und trägt folgende Aufschrift:
UTOPIE 91
Röschtigraben – Barriere des Röschti Adieu!
Die Verkäuferin im ersten Laden ist zwar von obenahi, das heisst von Berner Seite, von irgendwelchen Differenzen will sie jedoch gar nichts wisses. Schliesslich gibt man zuhause seit 3o Jahren die Kühe zum Sömmern in den Kanton Waadt.
«Und unser Hof ist hier, aber im Juni gehen unsere Kühe jedes Jahr hinüber nach Bern. Vous comprenez? sagt eine Kundin.
«Et moi», sagt eine zweite Kundin, «j’ai le chalet de cette côté, mais j’aime faire le ski a l’autre côté».
Kurz darauf sagt mir die Frau auf der Post in leicht akkzentuiertem Französisch, solche Fragen wie ich stellten sonst Schulklassen aus der Deutschschweiz in den Ferienlagern. Ich nehme mir vor, fortan auch nicht mehr nach Problemen zu fragen,
die sich nicht selbst aufdrängen und gehe in die Dorfkäserei, um einzukaufen.
Die Verkäuferin fragt eben laut und deutlich mit der Messerspitze auf dem Vacherin:
«Comme ca?» Ihr verbindliches Lächeln findet keine Antwort, ihre Freundlichkeit kein Echo. Die Kundin im schicken, silberglänzenden Skianzug nickt einmal streng, zeigt danach noch auf eine Zwiebel und auf eine Beutelsuppe, zahlt, verlässt den Laden ohne ein Wort des Grusses und steigt in einen Wagen mit ZG-Nummernschildern.
Und mit dem Zug fahren ich zurück.
«Prochain arrêt, nächster Halt, next stop: Gstaad».
Auch in Gstaad gibt es Glassammelsstellen. Und was für welche!
«Est-ce que je peux vous aider?»
Bei den Wegweisern am Bahnhof erfahre ich von einem Taxifahrer, dass es im Winter keine Möglichkeit gibt, der Sprachgrenze entlang ins Wallis zu gehen. ‹»Comment est-ce que vous parlez français? frage ich ihn.
«Je suis vaudois». Sein Name ist Roland. Er gibt mir Grüsse mit für Brigitte im Restaurant auf der Passhöhe des Col du Pillon.
Das Posthorn geht.
Die Skifahrer im Postbus sind braungebrannt, die Tagestouristen versuchen ihrer Überwältigung Ausdruck zu geben. Eine Frau sagt mit der Nase an der Fensterscheibe:
«Wo man auch hinschaut, ist es genau so, wie sich die Amerikaner die Schweiz vorstellen».
«Wir hätten aber keinen besseren Tag für unseren Ausflug erwischen können», sagt eine andere.
Und wieder geht das Posthorn. Die Schneehaufen am Strassenrand machen die Kurven unübersichtlich. «Schau!» sagt ein Mann zu seiner Frau. «Ein Hängglider! Dort oben!»
Sobald vom Bus aus die Bergbahn und die Skihänge zu sehen sind, jauchzt und quitscht eine Skifahrerin vor Vergnügen.
Und wieder geht das Posthorn.
Wie ich mich auf dem Pass auf die Terrasse des Restaurants setze, kommt an Stelle von Brigitte ein Bernhardinerhund zur Begrüssung angetrottet.
«Welche Sprache spricht nun dieser Bärry?
«Am besten kann er Englisch», sagt der Kellner, der mir Kuchen und Kaffee mit einem Stück Schokolade bringt. Während ich in der Tasse rühre, flattern hinter mir die Fahnen von Wallis, Waadt und Bern, und hoch oben beim Tête aux Chamois gleitet eine Seilbahn hinüber zum Sex Rouge auf 294o Meter.
«Nein, nicht Sion. Sierre fait la frontière. Siders! Vous comprenez?» sagt später der Mann am Schalter im Bahnhof von Les Diablerets. «C’est a quinze kilomètres de Sion.»
«Also. Zwei Halbe zweiter Klasse Siders einfach».
10
Den letzten Abend unterwegs verbringe ich in Sierre im Café Helvetia.
Es ist ein gemütliches Café. Die Weine sind mit Kreide auf einer Tafel angeschrieben.
«Le Dôle est bon», sagt die Kellnerin. Sie ist aus Ex-Jugoslawien, trägt Stiefel und einen kurzen Rock. Auch wenn ich nur ein Glas bestelle, bringt sie die Flasche an den Tisch, zeigt die Etikette, schenkt ein und sagt: «Santé!»
Sie hat recht, der Dôle ist gut. (3.10 1 dl)
An der Wand hängt auch eine Cinzano-Reklame, blau und rot nach bekannter Manier, denn Italien ist nicht weit. Und Bier gibt es. Bière Valaisanne. Die meisten Gäste, die hereinkommen, überlegen lange, was sie bestellen wollen. Am Schluss ist doch immer Fendant.
Geredet wird wiederum mit beeindruckender Beweglichkeit in beiden Sprachen. Die Plakate an der Wand mit Hinweisen auf Theater und Musikanlässe sind ebenfalls zweisprachig. Auf dem schwarzen Klavier liegen Zeitungen. Den Walliser Boten und das Journal de Sierre blättere ich durch, stosse dabei auf einen Artikel über das Verhältnis zwischen den beiden Sprachen im Wallis. Frontière? Oui. Mais elle n’est pas bien mechante.
Und wo verläuft die Grenze? Entlang der Raspille, einem hochsymbolischen Bach zwischen Siders und Salgesch.
Über einen Reblehrpfad, den sentier viticole mache ich mich am nächsten Tag auf die Suche. Wieder scheint die Sonne, die Temperaturen sind frühlingshaft, ein Tag, den die Weinbauern nutzen, in den Rebbergen herrscht emsiges Treiben.
Mit dem Hund an kurzer Leine musste ich wieder auf der Strasse gehen. Zeitweise unter Lebensgefahr. Gerade die Walliser entpuppen sich als ein wahres Volk von Anarchisten, wenn es darum geht, dem Strassenverkehrsgesetz die Zähne zu zeigen. Anstattt beim Wildheuen, scheint die Jungend ihre überschüssigen Kräfte auf der Strasse auszutoben. Oder man bleibt allgemein zulange bei den guten Weinen sitzen, versucht die Verspätung danach mit haarsträubenden Beschleunigungsmanövern und dem Schneiden unübersichtlicher Kurven wieder wett zu machen.
Einmal mehr lachte ich über das berühmte Zitat von Johann Gottfried Seume «…dass Alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge». Schön wär’s, denn wer sich in den Kopf setzt, zu Fuss dort durchzugehen, wo ihn die Sprachgrenze hinführt, wo er nicht immer mit ausgeschilderten Wanderwegen rechnen kann, der lebt gefährlich. Der wird auch vor allem eine Tatsache erkennen müssen: Dass seine elementarste, einzig wirklich unabhängige Bewegungsfreiheit nicht mehr gewährleistet, dass die Schweiz auf beiden Seiten der Saane in grossen Teilen nicht mehr begehbar ist.
Aber noch geh ich.
Ich gehe mit dem Hund von Miège nach Salgesch.
Im Cafe Helvetia erfuhr ich, dass diese beiden Dörfer zwar eine andere Sprache sprechen, sich dennoch gerne heiraten.
Dann komme ich zu La Raspille, bleibe auf der kleinen, steinernen Brücke darüber stehen. Der Hund sucht sich einen Weg hinunter zu dem klaren Wasser und säuft. Weiter unten schiebt oben am Abhang über dem Bachbett ein gelber Bulldozzer Erde vor sich her. Ob er den Graben zuschdütten will?
Noch weiter unten fliesst die Raspille in die Rhône, die bis zu dieser Stelle die Rotten heisst.
Danach verläuft sich die Sprachgrenze im Pfynwald. Ende der Mischzone. Fortan herrschen bis zum Matterhorn klare Verhältnisse: Im Val d’Annivers wird so, im Turtmanntal wird so gesprochen. Die Trennungslinie dazwischen verläuft über einen 3000 Meter hohen Grat.
«Hier höre ich auf», sage ich deshalb zum Hund. Das Matterhorn haben wir ohnehin schon gesehen. Bunt und schön kitschig gemalt hängt es im Hotelzimmer an der Wand.