Versuch über das Authentische von Beat Sterchi
Manchmal stellt sich beim Lesen, beim Kennenlernen einer Figur oder einer Geschichte sofortiges Vertrauen ein: Was ich hier lese stimmt. Man weiss zwar nicht recht warum, doch man fühlt, spürt, versteht, dass dieser beschriebene Mensch so funktioniert, dass er dies oder jenes tut und tun muss. Man glaubt.
Natürlich gibt es auch die berühmte Willigkeit, darauf zu verzichten, das Gelesene nicht zu glauben. Suspension of disbelief, heisst der angelsächsische Fachausdruck. Dazu muss man aber zum vorneherein auf Grund grosser Bewunderung oder durch fundierten Respekt bereit sein. Die einen glauben deshalb ihrem bevorzugten Krimiautoren oder ihrer bevorzugten Abenteuerautorin vorbehaltlos jede noch so unwahrscheinliche Zufälligkeit, jede noch so haarsträubende Wendung in der Entfaltung einer schon von Anfang gesuchten oder erzwungenen Geschichte; andere stehen einem Shakespeare zu, zwecks Darstellung einer abstrakten oder höheren poetischen Realität, auch einmal eine Ungereimtheit betreffend Ort und Zeit oder Kontinuität stehen lassen zu dürfen.
Wie verführt uns aber der Autor und die Autorin in ihrem durch Zufall in unsere Hände geratenen Roman dazu, ihren vielleicht absolut ausgefallenen Darstellungen zu glauben? Wie spüren wir, dass im Erzählten eine organische Einheit, ein zwingender Zusammenhang besteht und dass die Figuren von jener ordnenden Energie erfüllt werden, die wir allgemein Leben nennen, und ohne welche Zutaten es ein Text nicht schafft, unsere Aufmerksamkeit, unsere Neugier und unsere Zeit in Anspruch zu nehmen, weil wir uns keine Bären aufbinden lassen wollen und weil uns die Abenteuer von Puppen und künstlichen Pappfiguren von einem unbekannten Stern über uns selbst nur wenig mitteilen können und uns deshalb auf die Dauer kaum interessieren?
Vermutlich verstecken sich hinter diesen Fragen die eigentlichen Geheimnisse des Schreibens und ihre Beantwortung fällt überhaupt nicht leicht. Vielleicht ist eine Annäherung möglich, in dem man sich fragt, welche Mängel es sind, die uns davon abhalten, uns von einem Roman verführen zu lassen und seinem Autoren oder seiner Autorin „zu glauben“.
An einem Buch, das ich kürzlich nach weniger als 100 Seiten gelangweilt zugeklappt habe – es handelte sich um einen übersetzten Roman eines sehr wohl berühmten französischen Autors – schwand meine Bereitschaft, zu glauben, mich darauf einzulassen oder mich für die dargestellten Menschen zu interessieren als wären sie aus Fleisch und Blut vor allem wegen einem totalen Mangel an Authentizität.
Obschon das Milieu ausgesprochen exotisch und ausgesucht fremdartig, geografisch in Übersee angesiedelt war, kam es mir vertraut und überprüfbar vor. Nie passierte es mir beim Lesen, dass mir eine mir unvertraute Verhaltensweise oder ein Aspekt einer mir fremden Kultur auf überzeugende Art dargestellt und mir näher gebracht wurde. Viel mehr hatte ich den Eindruck, dass der Autor versuchte, Vertrautes und Bekanntes mit Hilfe einiger angelesenen und reichlich oberflächlichen Details in die Ferne des ausgesuchten Milieus zu rücken, um es überhaupt interessant zu machen.
Ein Roman aus dem Fussballmilieu beispielsweise, vermag aber kaum zu überzeugen, wenn schon auf den ersten paar Seiten mangels authentischer, persönlicher Erfahrungen gleich jene paar grossen Legenden, beispielseise Pele und Beckenbauer, erwähnt werden, die jedem auch eigentlich nicht besonders an Fussball interessierten Leser bekannt sind. Beginnt ein Roman mit einer Mileuschilderung, die auf den ersten zwei Abschnitten im entsprechenden Eintrag in Meyers Grossem Konversationslexikon basiert, reduziert sich die Hoffnung, eine Reise in unbekanntes Gebiet vor sich zu haben, schnell auf Null. Anstatt in eine uns nicht zugängliche Welt eintauchen zu können, anstatt Menschen zu begegnen, die ausser in der Literatur unseren Weg nie kreuzen würden, haben wir ein durchschaubares Konstrukt, schlimmstenfalls ein Machwerk vor uns, Kitsch eben, und damit eine weitere überflüssige Kunstwelt aus Plastik und Schein, als wäre die Welt wie sie ist und die Geschichten die in ihr stattfinden, nicht zahlreich und interessant genug.
Vielleicht trifft die alte Regel, ein Autor oder eine Autorin solle gefälligst darüber schreiben, wovon er eine Ahnung hat, womöglich sogar mehr als andere versteht, den Kern des Problems. Der geneigte Leser spürt einfach, ob der Autor weiss wovon er spricht. Der Leser spürt sogar bei jenen Autorinnen und Autoren die ausschliesslich auf mehr oder weniger versteckte oder offene Art biografisch schreiben, ob sie nun wirklich eine noch unbeschriebene, authentische Erfahrung oder Einsicht zu ihrem Thema machen oder ob sie nur kolportieren, was andere mit andern Worten längst beschrieben haben.
Diesen Instinkt, der uns befähigt, das Authentische zu erkennen, gilt es zu bewahren und wird er beleidigt, ist kein Aufschrei laut genug, denn in der Literatur hat niemand das Recht, uns einen Bären aufbinden zu wollen, versucht ein Zauberer trotzdem sein Glück, in der Hoffnung, dass wir ihm auf den Leim gehen, schreien wir im Chor! Halt! Kitsch! Schund und Scheibenkleister!
Erschienen 1999 in STERZ